Meine Lieblinge 2019

Die letzten Tage des Jahres schwinden in Windeseile. Während einige von uns sich mit Ruhe und Muße auf Weihnachten vorbereiten, verfallen andere dem Stress und Trubel, der damit einhergeht. Auf mich trifft irgendwie beides zu. Beruflich ist es meist die anspruchsvollste Zeit des Jahres und privat versuche ich die Balance zu halten, kurz inne zu halten, um zurück zu schauen, Bilanz zu ziehen.

Welche Geschichten haben mich bewegt, welche überrascht, welche Figuren haben mich besonders berührt? Welche Neuentdeckungen habe ich gemacht, welche Lieblingsvorleser entdeckt? Welche Autorin, welcher Autor, hat ihre/seine Geschichte für mich, mit Herzblut statt mit Tinte geschrieben? Ich verrate schon einmal, dass ich mich in diesem Jahr nicht bescheiden konnte mit einer Top 10. So viel wie lange nicht, habe ich gelesen und vor allem gehört, so viele außergewöhnliche Entdeckungen sind es geworden …

Weshalb ich mich auch je Titel kurz fasse, wenn ihr aber in der nachfolgenden Aufzählung auf das Mini-Cover klickt, werdet Ihr jeweils weitergeleitet zu meiner ausführlichen Besprechung. Here we go …

Die Nase vorne hat für mich in diesem Jahr Raphaela Edelbauer mit ihrem Roman “Das flüssige Land”. Vielleicht, weil es sich für mich so anfühlte, als wäre ich ihr wie Alice im Wunderland dem Kaninchen unter die Erde gefolgt, um dort unter der Oberfläche erstaunliches zu entdecken. Sie hat mich förmlich überrumpelt mit ihrer Idee nach einem Ort zu suchen, der nicht gefunden werden will. Auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand sie mit diesem Titel und ich hätte ihn ihr auch verliehen. Soviel Erzählmut gilt es zu belohnen!

Ihr folgt ganz dicht Lydia Steinbacher mit ihren zwanzig Erzählungen rund um Schalenmenschen. Das auch, weil sie mich aus meiner Lesekomfortzone geholt hat und ich mich jetzt auch Dank ihr, abseits von Romanen bei kürzen Geschichten umschaue. Immer hatte ich Angst, bei Kurzgeschichten bliebe zuviel ungesagt, anders bei ihr: Diese junge Frau kann so schreiben, dass mir der Atem stockt. Sie bringt Dinge auf den Punkt und entwickelt Szenen, in deren Kürze die Würze liegt. Unfassbar schöne Metaphern und Sätze wie Perlen findet man hier und entdeckt sie auch beim wiederholten lesen immer wieder neu.

Wo Licht ist, ist auch Schatten habe ich in den vorgenannten Erzählungen erlebt, und das Trauer für jeden anders ist hier. Ein Roman aus Norwegen, den ich hervorheben möchte, weil er für mich herausragend ist. Aber Vorsicht und Achtung, er macht mit jedem von uns etwas anderes und ein wenig hat er mich deshalb an “Lincoln im Bardo” von George Saunders erinnert. Stig Saeterbakkens “Durch die Nacht” tut weh und gut zugleich. Wühlt auf und versöhnt, lässt mich traurig zurück, weil auch der Autor dieses großartigen Romans leider schon verstorben ist und wir von ihm keine weitere Geschichten mehr erleben dürfen.

Auch in meinem nächsten Tipp geht es um Verlust, der hier aber anders verarbeitet und betrachtet wird. Mit einem Diebstahl und durch die Augen eines Kindes. Levi ist elf und er wohnt in der gleichnamigen Geschichte von Carmen Buttjer. Levi hat seine Mutter verloren, vielleicht an einen Mörder, was aber auch egal ist. Verloren ist verloren. Einen Vater hat er noch, zumindest weil er noch bei ihm wohnt. Er mag ihn auch, eigentlich. Aber dann, auch wieder nicht. Weil es bei ihm immer nur so Verbote hagelt, da bleibt ihm doch gar nichts übrig als die Urne der Mutter zu klauen und abzuhauen, zu fliehen, hierher, auf ein Dach, hoch über Berlin. Oder?

Wenn es um die Figur geht, die mich in diesem Jahr am meisten verblüfft hat, dann ist es diese hier. Sie ist der Feder von Angela Lehner entschlüpft. In Ihrem Roman Vater unser habe ich eine Heldin kennengelernt, die eine wunde, geschundene Seele hat, die in einer Irrenanstalt landet, die eine geniale Manipulatorin, eine Lügnerin ist und bei deren Geschichte ich mich oft gefragt habe, wer hier eigentlich die Irren sind. Auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2019 hat sie sich mit diesem Roman geschrieben und auch dafür spende ich Beifall.

Jede Menge gelernt habe ich bei Norbert Scheuer, über Winterbienen und über Sommerbienen und über einen Mann, der in der Eifel im Zweiten Weltkrieg Juden in seinen Bienenkörben zur Flucht verholfen hat. Diese Methode und das was hier geschehen ist, macht mir immer noch eine Gänsehaut, wenn ich mir das vorstelle. Die Grausamkeit dieses Krieges, das nicht enden wollende Bombardement, die vielen zivilen Opfer, schildert Scheuer in seinem Tagebuch-Roman, der auf Originaldokumenten basiert so eindringlich, dass er für mich völlig zurecht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2019 stand.

Nicht nur in Gedanken weit weg, sondern auch geographisch, war ich mit Petina Gappah in “Aus der Dunkelheit strahlendes Licht”. Sie erzählte mir von einer Expedition die 1.000 Meilen weit dauerte, von der ich vorher noch nie gehört hatte. Sie erzählte mir von einer Schicksalsgemeinschaft von 69 Gefährten, die den Leichnam des schottischen Missionars und Afrikaforschers David Livingstone quer durch Afrika trugen, bis zum Meer, um ihn überzusetzen in seine Heimat. Sein Herz aber ließen sie dort, auf dem Kontinent dem er es verschrieben hatte, auf seiner unermüdlichen Suche nach den Quellen des Nils. Afrika. Eine unglaubliche, unfassbare Erzählung, die den Randfiguren der Geschichte, der Kolonialgeschichte, wenn auch fiktional, eine Stimme gibt. 

Lasst uns noch ein wenig im historischen Kontext blieben, und zwar bei dem großartigen Colson Whitehead und seinen Nickel Boys. Sein Roman über eine Besserungsanstalt, in der es dem Grunde nach allen nicht gut ging, wo man sich aber vorzugsweise an den afroamerikanischen Insassen ausließ, zeigt ein Stück Zeitgeschichte auf, dass wenn es um Rassismus und Diskriminierung geht, kaum zu überbieten ist. Wenn man mit dem Lesen beginnt, würde man nur zu gerne glauben, man könnte das hier Erzählte in die Vergangenheit zurück datieren. Aber weit gefehlt. Einrichtungen wie diese, hielt man in den USA vieler Orts bis in unsere Tage aufrecht und was uns hier erzählt wird, ist leider auch historisch verbrieft. Colson Whitehead beweist mit diesem Roman, nach seinem “Underground Railroad”, dass er in der amerikanischen Literatur eine Stimme hat, der man Gehör schenken muss. Bravo!

Apropos Stimmen. Wie Ihr, die Ihr meinem Blog schon etwas länger folgt wisst, ist das Medium Hörbuch für mich inzwischen nicht mehr wegzudenken. Viele Geschichten erhalten für mich, durch die Art und Weise wie sie vorgetragen werden, einen zusätzlichen Kick und so vereinen sich jeweils Geschichte und Vortrag so, dass man stehend applaudieren möchte.

Wenn ER liest, halte ich den Atem an, denn er ist mein Bücher-Flüsterer. Diesmal hat er die Geschichte, die er vorliest auch noch selbst geschrieben. Matthias Brandt schaut in Blackbird zurück in die Siebziger Jahre. Setzt seinen Teenager-Helden auf eine Gefühls-Achterbahn und liest es so vor, dass mein Herz immer wieder aussetzt.  Um Freundschaft geht es hier und um große Gefühle, um Verlust, um die Suche nach dem WER-BIN-ICH. Diese Geschichte hat mich dieses Jahr die meisten Tränen gekostet, und ich liebe sie dafür.

Um zwei Freunde geht es auch bei ihm Friedemann Karig schickt mich auf eine Mission, in den Dschungel, und auf die Suche nach einem verloren gegangenen Freund, und auf die Suche nach mir selbst. Es geht um Verpflichtung, Verantwortung füreinander, um das Reisen, um Ideale, Zwänge und Ängste und, – die Geschichte wird auch zu allem Überfluß noch kongenial gelesen von Fabian Busch. Er hält stimmlich eine Grundmelancholie aufrecht, die mich frösteln lässt und mir gleichzeitig das Herz wärmt, der es selbst vermag Zwischentöne vor zu lesen. So muss ein Hörbuch sein!

 

Mit reichlich zwischen den Zeilen und einem grandiosen, einem furiosen Ende wartet die “Einsamkeit der Seevögel” von Gohril Gabrielsen auf. Die zweite Geschichte aus Norwegen auf meiner Liste. Mit einer Sachlichkeit, einer Klarheit, die die Worte so tief eindringen lässt, das man sie wie Splitter unter der Haut fühlt, liest Jutta Seifert. Worte, die so schön sind, das es schmerzt. Das was sie da erzählen, was sich da auf einem einsamen Landzipfel in der Finmark, im Norden Norwegens, vor grandioser Naturkulisse und in der Hauptfigur abspielt, erlebt besser selbst. Ich will kein Wort zuviel verraten …

Blut auf Federn. Je älter ich werde, desto mehr erschrecken mich Tatsachen, die mir der Geschichtsunterricht verschwiegen hat. Der native american author Tommy Orange hat für mich in seinem Roman Dort dort, vieles gerade gerückt und klar gestellt, was die Geschichte der nordamerikanischen Indianer anbelangt. Schmerzhaft eindringlich beschreibt er, was Entwurzelung und Identitätsverlust, sowie anhaltende Diskrimminierung anrichten können. Sie heißen red feather, two shoes und bearshield und die Pistolenschüsse, die hier durch ein Baseball-Stadion hallen, schlagen glühend heiß und brennend wie ein Indianerpfeil in mein Herz ein. Christian Brückner die deutsche Stimme von Robert de Niro liest die Hörbuch-Fassung und ich hätte mir keinen anderen dafür denken können. Er unterstreicht die Zerrissenheit der Figuren, gibt mir mit seiner Stimme halt, dort wo ich nicht mehr weiter kann, wo ich nicht mehr aushalten kann und er sorgt dafür, das ich nicht nur die Geschichte von Orange lange nach dem Hören im Kopf habe, sondern auch seine Stimme. Denn er geht mit dem Text eine Verbindung ein, die ihresgleichen sucht!

Geschichten, die einen außergewöhnlichen Erzählstrang vorweisen können, gehören zu meiner großen Leidenschaft. Lange habe ich gesucht nach einer Geschichte, die heranreicht an einen meiner absoluten Lieblingsromane Die Gestirne von Eleanor Catton.

“You got me”, Mr. Turton. Gefunden habe ich sie mit Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle von Stuart Turton, Diesen Roman außergewöhnlich zu nennen, wäre eine Untertreibung. Ihn ungewöhnlich zu nennen ein Kompliment, und doch ist es mir nicht genug. Nichts ist hier banal, alles hat Bedeutung und Turton agiert wie ein Jongleur, immer mehr Bälle hält er in der Luft, und er fordert uns heraus, mit seiner komplexen Story und einem Trommelwirbel an Hinweisen mitzuhalten. Wie kann das gehen? Wie schafft man das? Bei Sprüngen vor und zurück in der Zeit, bei einem solchen Figurenreigen, als Autor nicht selbst den Überblick zu verlieren und eine Auflösung zu schaffen, die staunen macht? Vorgelesen wird die Geschichte ungekürzt in über 18 Stunden mühelos, facettenreich und ganz fabelhaft von Frank Stieren. Der in mir einen neuen Fan gewonnen hat. Großes Kino für die Ohren ist das!

Kurz vor der Jahreswende hat sich dann noch dieses Hörbuch auf meine Liste geschoben. Propaganda von Steffen Kopetzky. Ihn habe ich in diesem Jahr in Frankfurt auf der Messe, im Gespräch mit Denis Scheck erleben dürfen. Von seiner Idee zu dieser Geschichte und von der Schlacht im Hürtgenwald nahe Aachen im Zweiten Weltkrieg, vom Vietnamkrieg, vom Kreisssaal der Propaganda, hat er mir dort erzählt, mit dem ganzen Körper kann dieser Mann sprechen, er hat mich komplett vereinnahmt. Mit seinem Auftritt und mit seinem Roman. Kopetzky erzählt von Schrecken, die ich mir nicht einmal vorstellen will, aber auch von Menschlichkeit, von großem Mut und von Menschen, einem deutschen Arzt, einer realen Person, einer Randfigur der Geschichte, deren Hilfsbereitschaft keine Grenzen kannte und die an das Licht der Öffentlichkeit gehört. Ein beeindruckender Roman, wie ein lebendig gewordenes Geschichtsbuch, eindrücklich und eindringlich gelesen von Johann von Bülow, der mit einem lakonischen Unterton, den Ereignissen etwas von ihrer Schwere nimmt und der die Hauptfigur so nahbar macht, das ich meine sie persönlich zu kennen …

Ihr Lieben, jetzt bleibt mir nur noch Euch eine besinnliche Weihnacht zu wünschen. Vielleicht entdeckt Ihr in dieser Zusammenfassung etwas für Euch oder einen anderen Bücherwurm, den Ihr gerne beschenken wollt. Ich freue mich mit Euch auf ein neues Lesejahr, das bald anbricht und wer weiß, vielleicht muss ich mit dem Titel, den ich gerade auf den Ohren habe und in den Händen halte, meine Liste wieder korrigieren? Bleibt neugierig und mir gewogen, wir lesen uns!

Eure Petra

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