Durch die Nacht (Stig Saeterbakken)

*Rezensionsexemplar*

Sonntag, 14.07.2019

Flucht. Verblieben als einziger Gedanke. Übermächtig und alles verzehrend. Ein Verlust so groß wie das Leben selbst und die Frage nach dem Warum, auf die man nie eine Antwort erhält. Was treibt das eigene Kind in den Selbstmord? Wen trifft Schuld und wie viel?

Was wäre wenn, man die Zeit zurückdrehen könnte. Zurück bis zu dem Punkt, an dem alles begann. Wer Trauer selbst erlebt hat weiß, sie kommt und geht wie eine Welle. Man erlebt Stunden und Tage, die so sind wie immer, die so sind, wie sie immer waren. Dann stößt man ein Fenster auf, oder eine Tür, stolpert über einen Gegenstand, über einen Duft, ein Bild und dann ist es plötzlich da – dieses Sehnen, dieses Vermissen. Nie wieder, wird man normal sein können, nie wieder wird man lachen. Und wenn man es dann doch tut, lachen meine ich, vermischt sich die Erleichterung mit Schuldgefühl, man erschrickt. Beginnt ab jetzt das Vergessen?

Freunde hört man sagen, du musst jetzt an dich denken. Dein Leben geht weiter. Das tut es auch, weil die Zeit niemals still steht. Weil sie uns bewegt, ob wir wollen oder nicht …

Durch die Nacht (Stig Saeterbakken)

Er hatte tatsächlich angeklopft! Als er jetzt mitten im Zimmer seines Sohnes stand war ihm aufgegangen wie absurd das war. Ein Tohuwabohu von Kleidung, Getränkedosen und anderen Gegenständen die Ole-Jakob Tag für Tag in Händen gehalten hatte empfing ihn. Seine Frau hatte nichts verändert, nichts gewaschen, nichts weggeräumt. Vielleicht hatte sie das, sein, Zimmer nach der Beerdigung nicht einmal mehr betreten. Er war zwar ihr Ehemann und sein Vater gewesen und trotzdem wusste er es nicht. Wusste auch er nicht, wie er die Leere, die nach seinem Tod entstanden war, füllen konnte. Ein jeder von ihnen war seither für sich allein, auf sich zurückgeworfen, mit Schuldgefühlen groß wie ein Haus. 

Sie hatten ihn ja gewarnt, er aber hatte den Wagen sehen wollen mit dem sein Sohn in den Laster hinein gerast war. Mit einhundert Stundenkilometern mindestens, ungebremst. Den Schnaps im Blut, zuvor getrunken aus der Flasche, die er sich aus seinem Barschrank geklaut hatte. Sie hatten ihn auch gewarnt, nicht ins Leichenschauhaus zu gehen, um sich das anzuschauen, was von ihm, von seinem Ole-Jakob noch übrig geblieben war. Hätte er doch nur auf sie gehört …

Bedeutungslos, haltlos, rastlos. Ein Versehen, Reue und Scham folgen auf einen Seitensprung und er bleibt doch unumkehrbar. Verzeihen vielleicht, vergessen unmöglich. Den inneren Kampf und den äußeren Rahmen verlieren. Eine Einsamkeit gewinnen, die schmerzt bis auf die Knochen.

Noch ein Jahr danach zwischen Bekannten und Freunden schweben wie ein Gespenst, nur gehalten von ihren fragenden, tastenden Blicken.

Wenn alles nichts hilft, den Fernseher mit der Axt zerhacken, laut “verdammte Scheiße” schreien, um das Vermissen zu ersticken, was dann? Die Angst zu vergessen, die Erinnerung an ihn zu verlieren. Ist sein Gesicht nicht heute schon blasser? Seine Stimme, wie hörte sie sich noch gleich an?

“Ich gab mir alle Mühe, aber an dieser einen Stelle in meinem Gedächtnis war ich wie taub. Kein Laut. Grabesstille. Gieriges Vergessen, wird es denn niemals satt, frisst es nur immer weiter, was einmal war?” (Textzitat)

Eine Liebe die unabsichtlich zerbricht, ist nicht weniger schmerzlich. Wie konnte man da von Recht oder Unrecht sprechen? Man hatte all die Verachtung verdient, die einem jetzt entgegen schlug, oder etwa nicht? Eine Reise nimmt ihren Anfang immer mit dem ersten Schritt. Alle Kontakte gelöscht, alle Brücken, alle Zelte abgebrochen. So beginnt eine Reise zwischen Traum und Wirklichkeit, angetrieben von der Sehnsucht sich endlich wieder erinnern zu können.

Spurlos auftauchen, nicht spurlos verschwinden“. Das würde er gerne. Wie ein unbeschriebenes Blatt noch einmal von vorne beginnen können. Befreit, unbeschwert, neue Sorgen aufsammeln können. Wie kann das gelingen? Warum keinen Versuch unternehmen? Aus Rücksicht, aus Umsicht? Im Fragen ausweichen Weltmeister werden, sie aber doch alle in sich tragen. Ein Gefühl als müsse man zerplatzen. Dann ein Ausweg?

Als er von dem Haus in Bratislava erstmals hörte, von einem Ort wo man seinen Ängsten begegnen könne, war das so als hätte man ein Samenkorn in ihm gepflanzt. Vorsicht sei geboten, man dürfe dort auf keinen Fall einschlafen, niemand wisse wirklich, was dann passiere. Der Wunsch dorthin zu gelangen wuchs und nahm allen Raum in ihm ein, bis zu diesem Tag, an dem er die Schwelle endlich übertrat und allein war in der Stille. In der Stille eines Hauses, in dem alle Hoffnung zu Staub zerfiel …

Stig Saeterbakken, norwegischer Autor, geboren 1966 in Lillehammer, veröffentlichte mit achtzehn Jahren seinen ersten Roman, Schriftsteller Kollegen wie Karl Ove Knausgard bezeichnen ihn als einen der wichtigsten Autoren seiner Generation. Sein Durch die Nacht, erschien am 12. Juli 2019 in deutscher Übersetzung. Mit großer Sensibilität schreibt Saeterbakken über das Trauern, über Verlust und Schuld. Aus dem norwegischen wurden seine Worte behutsam und excellent von Karl-Ludwig Wetzig ins Deutsche übertragen. Beide schaffen es, mich schon mit den ersten Textzeilen zu berühren. Kurzsätze aneinandergereiht ergeben ein wahres Wortfeuerwerk, immer und immer wieder.

Hier habe ich Satzmelodien gefunden, die mich mehr als einmal sprachlos gemacht haben. Sätze, unzählige, die ich mehr als einmal gelesen, die ich inhaliert habe. Aufgesogen wie ein lebensrettendes Elixier. Saeterbakken ist für seine Figuren ein einfühlsamer Begleiter, er kennt sie nicht nur in- und auswendig, ich glaube, so kann man nur schreiben, wenn ein ganzes Stück von einem selbst in ihnen steckt.

Es ist so, als würde man ihre Herzen durch die Seiten hindurch klopfen hören. Manchmal meinte ich, mit der Hand auf dem Buch, ihren Herzschlag zu spüren. Auf diese Weise entsteht eine Bindung zwischen mir als Leserin und den Helden im Text wie sie nicht vielen Autoren gelingt.

“Die Nächte, die die Tage blass aussehen lassen, die unsere Vertrautheit in einem funkelnden Leuchten baden, die Nächte, in denen wir so selbstverständlich und sonnenklar zusammensitzen und uns alles sagen können … Warum ist nicht jede Nacht so?” (Textzitat)

Ich kann leider kein Wort norwegisch, diese Übersetzung aber, muss hervorragend sein. Der Ton macht die Musik, und erschafft hier im Deutschen eine fein abgestimmte Symphonie aus Saeterbakkens Originalworten. Ich erwische mich ständig beim Nicken, häufig mir zugeschnürter Kehle. Saeterbakken formuliert mit einer Klarheit, die mich an die norwegische Landschaft erinnert. An spiegelnde Seen und an tiefe Gründe. Dort berührt er mich, in der Tiefe, denn er kann das gar nicht – an der Oberfläche bleiben.

Als ich lese, das Saeterbakken am 24. Januar 2012 Selbstmord begangen hat, bin ich traurig als hätte ich ihn gekannt und beginne zu verstehen, warum er so schreiben konnte. Wehmut packt mich. Es wird keine neuen Texte mehr von ihm geben.

Dieser hier rückt auf meine Jahres-Bestenliste! Er ist einer, den man nicht nebenher lesen, er ist einer den man genießen sollte. Einer der Worte hat, die bittersüß und zart schmelzen wenn man sie in den Mund nimmt, und dann dieses Ende! Diesen Schluss, habe ich einmal, zweimal, dreimal gelesen. Wo ist oben, wo ist unten? Was ist real? Er sorgt dafür, dass ich das Buch wie im Schock verlasse, im positivsten aller Sinne! Und letzte Sätze kann Stig Saeterbakken auch:

“Alles wie es sein soll. Bis es nicht mehr so ist. Nur der kennt sein Schicksal, der es nicht kennt.” (Textzitat)

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