Stummes Echo (Susan Hill)

*Rezensionsexemplar* – Sonntag, 15.12.2019

Und es gibt sie doch! Die Geschichten, die zu mir finden, die ich mir nicht bewusst ausgesucht habe und sie schaffen es, über ihre inhaltlichen Grenzen hinaus, dass ich mich den Menschen verbunden fühle, die sie mir in die Hand gelegt haben. An dieses wunderschöne, in Leinen gebundene Büchlein hatte ich mein Herz schon verloren, da hatte ich es noch nicht einmal aufgeschlagen. Seine Haptik und seine Farben, wirkten wie ein Lockstoff, am Messestand des Kampa Verlages in Frankfurt. Im Oktober diesen Jahres hat es mir eine Verlags-Mitarbeiterin in die Hand gelegt. Wie es mir damit ergangen ist wollt Ihr wissen? Als dann, folgt mir und May in eine Geschichte, die gemacht ist für die Adventszeit …

Stummes Echo von Susan Hill

May Prime gehörte hier nicht her, und doch gehörte sie genau hierher. Das einfache Mädchen vom Land, in die Stadt, nach London, als Studierende. Klug war sie und neugierig und sensibel und umgänglich. Und auch ängstlich und sorgenvoll, als steckten gleich zwei Mädchen in ihr. Das eine selbstbewusst und selbstbestimmt. Das andere schlaflos, schüchtern und besorgt. Keiner wußte davon aber, das Grauen war ihm hier in der Stadt begegnet. Überfiel es, wann immer es wollte, am Tag, an der Ampel, im Park, im Hörsaal, während der Prüfung, bis May schließlich schreiend vor ihm floh. Hierher. Zurück nach Hause. An seinen Platz, unter den Geschwistern, wo die Mutter zufrieden lächelte, weil sie es gleich gewusst hatte, das May nicht in diese fremde Welt gehörte …

Susan Hill, geboren am 2. Februar 1942 in Scarborough, North Yorkshire, ist britische Autorin und betreibt einen eigenen kleinen Verlag. Sie lebt in einem alten Bauernhaus, das durch Bücher in allen Winkeln gut isoliert sein soll. Unter ihren Veröffentlichungen befinden sich Theaterstücke und auch eine Fortsetzung von Daphne du Mauriers Erfolgsroman Rebecca. Unter Hills Romanen zählen ihre Geistergeschichten zu den Bekanntesten.

Kein Wunder also, dass das Grauen, wie May es hier im Roman erlebt, Hill in seiner Beschreibung besonders gut gelungen ist. Sie schreibt einerseits mit fast klarer, schnörkelloser Sprache, um uns dann andererseits mit bildhaften, und ausgefeilt schönen Sätzen zu umgarnen. Einen Buchhändler-Liebling hat sie mit Stummes Echo geschrieben, als stumme Empfehlung geht dieser kleine, schmale Roman mit seinen 165 Seiten, seit seiner Veröffentlichung von Hand zu Hand, von Herz zu Herz …

“Sie hatten May nicht darum gebeten, bei Ihnen zu bleiben, und es auch nicht von ihr erwartet. Es war einfach so gekommen. May hätte dasselbe gesagt. “Hat sich so ergeben.” Natürlich war es nicht nur das, aber John und Bertha wussten nicht, was “nicht nur das war”, und May verbarg es lieber.”

Textzitat Susan Hill

Schuster bleib bei bei Deinen Leisten, höre ich meine Oma sagen, während ich May mit angehaltenem Atem durch ihre Geschichte folge. Miterlebe, wie sie auf ihren Platz verwiesen wird, mit ihr dieses Sehnen spüre, nach einem Leben greife, das so ganz anders ist als das Gewohnte. Ich erlebe ihren Bruder Frank in seiner Zerrissenheit und mit seinem heiligen Zorn, bin sprachlos, möchte ihn schütteln, ihn zur Rede stellen, ihn gar ohrfeigen …

Atmosphärisch ist sie, diese Geschichte, spannend auch und es fehlt ihr trotz geringerer Seitenzahl an rein gar nichts. Sie startet mit den Eltern von May in den Dreißiger Jahren, als sie den “Beacon”, ihren Hof, von den Großeltern väterlicherseits übernehmen. Das Leben ist karg hier, die Arbeit hart, nacheinander kommen vier Kinder zur Welt. May, Colin, Berenice und Frank. In den Sechzigern, wo es eigentlich nicht mehr “normal” ist, das eine unverheiratete Frau bei den Eltern wohnen bleibt, um sich gegen das Alter abzusichern, ergab es sich für May, ihre Älteste aber genau so. Nicht das die Mutter besonders freundlich gewesen wäre. Oder der Vater etwa, der mehr schwieg, als das er mit den Seinen redete.

“Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können”.

Zitat Jean Paul

Erinnerungsfetzen durchwirbeln die Seiten. Aber wessen Erinnerung ist die richtige? Was ist wahr und darf wahr bleiben? Kommt es einer Lüge gleich, wenn die Wahrheit in der Erinnerung verschwimmt, wenn ihre Ränder unscharf werden, und man die nicht mehr sichtbaren Lücken mit anderen Inhalten zu füllen beginnt? Wie sehr man doch verletzen kann, besonders die, denen man nahe steht. Wie es gelingen kann, solch zugefügte Verletzungen zu überwinden, davon handelt Stummes Echo. Es geht um die Erinnerungen von May, um die von Colin, von Berenice und ganz besonders um die von Frank, dem jüngsten unter den den Geschwistern. Es geht um die Familie, der sie alle angehören, oder nicht angehören wollen?

Die “Rama-Familie” gibt es nicht und was in so mancher Familie geschieht, gehört zum Schlimmsten, was Menschen einander antun können. Hier verstirbt der Vater zuerst, und als die Mutter ihm in einem unbeobachteten Moment folgt, lange schon war sie zuvor nicht mehr aus dem Bett aufgestanden, sind die Geschwister ins Leben verstreut wie die Brotkrumen auf einem Weg …

Bisweilen schaurig, schön und wehmütig sind diese Leben. Mutig und feige zugleich erleben wir May und ihre Geschichte, in ihrer Geschichte. Andeutungen halten mich am Lesen, ich fiebere der Auflösung entgegen, verschlinge Seite um Seite. Eine Geschichte, die man in einem Rutsch lesen kann, aber auch das Absetzen und Innehalten macht Freude. Zögert man so, das unweigerlich bevorstehende Ende ja noch etwas hinaus …

“Der Herbst wich einem der schlimmsten Winter seit Jahren, sodass sie keine Zeit und keine Kraft hatten, sich zu streiten oder auch nur zu unterhalten. Irgendwie kamen sie durch die Tage, abgeschnitten vom Rest der Welt durch Schnee und Sturm, Eis und Hagel und später, als es taute, die Wasserfluten, und es war fast so, als lebte ein jeder von ihnen in einer unsichtbaren, undurchlässigen Blase, ohne den anderen auch nur wahrzunehmen.”

Textzitat Susan Hill
Verfasst von:

2 Kommentare

  1. Petra
    28. März 2020

    Wie schön! Da freu’ ich mich und sehr, sehr gerne! LG von Petra

  2. Dorothee
    28. März 2020

    Was für eine “Perle” von Buch!
    Danke! Ohne Deine Rezension hätte ich dieses Buch sicher nie gefunden und dabei ein Kleinod verpasst!
    Liebe Grüße-Dorothee

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