Levi (Carmen Buttjer)

*Rezensionsexemplar*

Sonntag, 17.11.2019

“Ich mochte die Dunkelheit, alles wurde langsamer, leiser, irgendwie auch leerer und ich atmete tiefer.” (Textzitat)

Keine Ahnung, wie ich reagiert hätte, wenn das, was hier geschieht auf einer Beerdigung passiert wäre, an der ich teilgenommen hätte. Es ist so ungehörig, so unverschämt und doch so rührend, dass ich vielleicht sogar unter Tränen gelacht hätte. Nur zu gut verstehen kann ich, dass man jemanden den man lieb hatte, nicht in ein tiefes, dunkles Loch geben will, dass man ihn lieber noch bei sich behalten möchte. Das man noch nicht so weit ist, lebwohl zu sagen. Das man sich auf das Verlieren nicht hat vorbereiten können, auch weil es darauf keine Vorbereitung geben kann …

“Ich wusste nicht, wohin, und wenn man nicht wusste, wohin, dann wusste man auch nicht, wie weit es noch war.” (Textzitat)

Levi von Carmen Buttjer

Levi war elf und er hatte rum gezappelt. Auch als der Vater es ihm verboten hatte. Levi war gerannt, auch das hatte der Vater ihm untersagt und, Levi hatte sie angefasst. Selbstredend hatte der Vater im eingebläut, dass er auch das nicht dürfe, und Levi hatte noch einen drauf gesetzt. Er hatte alle drei Verbote kombiniert und gestohlen. Erst war er auf dem Stuhl bei der Beerdigung seiner Mutter unruhig geworden, weil es ihn überall gejuckt hatte. Einfach überall, er konnte so nicht mehr sitzen bleiben. Dann war er halt aufgestanden, und hatte die Urne nicht nur berührt, sondern genommen, unter den Arm geklemmt und war damit weg gerannt. Erstmal gerannt, ohne Ziel, ohne Plan, kopflos. Irgendwie war er bei seinem Fahrrad gelandet und dann geradelt, als wäre der Teufel hinter ihm her, bis hierher, bis nach Hause. Notdürftig hatte er ein paar Sachen gepackt, Besteck, ein Zelt und ein Schlafsack. Jetzt saß er hier auf dem Dach, über den Dächern, in seiner Stadt, schaute in den Sommer über Berlin und dachte nach.

Über den Draht zu seinem Vater, den hatte er verloren, irgendwann auf dieser Vagabunden-Tour von Paris, wo er geboren worden war, über Brüssel und London nach Berlin. Er mochte ihn ja, eigentlich, und dann, auch wieder nicht. So wie seine Mutter, die sich pausenlos mit ihm gestritten hatte. Was war er auch immer so korrekt, das musste der Anwalt in ihm sein. Deshalb war Levi schon länger lieber bei seiner Mutter gewesen, hatte die Hausaufgaben unter ihrem Schreibtisch in der Pathologie gemacht. Manchmal hatte sie ihn dann durch’s Mikroskop schauen lassen, aber niemals auf eine Leiche. So war die seiner Mutter, die erste, die er zu Gesicht bekommen hatte … 

“Über Tiger gab es einiges zu wissen … Es gab Menschen, mit denen irgendetwas nicht stimmte, denn sie jagten andere Menschen. Meistens nachts, manchmal auch am Tag. Aber das war nicht das, wovon sie lebten, sondern vom Chaos, nur davon wurden sie satt.” (Textzitat)

An die Geschichte mit dem Tiger musste Levi jetzt wieder denken, nach ihrem Tod. Sie hatte ihm von den Tigern erzählt. So ein Tiger musste auch seine Mama umgebracht haben. Denn komisch war, aus ihrer Pathologie war an diesem Tag auch eine Leiche verschwunden, so stand es in einer von Koljas Zeitungen, ganz groß, auf der ersten Seite …

Carmen Buttjer, geboren 1988, aufgewachsen in Deutschland und Finnland, lebt und schreibt in Berlin, u.a. auch eine Kolumne in der Voque Online. Sie legt mit Levi einen der eigenwilligsten literarischen Debütromane vor. So kann man es auf dem Buchrücken lesen und verglichen wird ihr Levi mit Wolfgang Herrndorfs Tschick und ich, die ich Tschick sehr mochte, wollte Levi auch deshalb unbedingt kennen lernen.

Buttjer erzählt uns davon, wie schwer es fällt los zu lassen, wenn man sich mit einem Menschen so eng verbunden gefühlt hat, dass man keine Ahnung hat, wie es ohne ihn weiter gehen soll. Wie viel Kraft es kostet und wie viel Mut auch. Eine solche Situation zu überwinden, es zu schaffen, obwohl es weh tut, sich diese Bindung im Herzen zu bewahren. Das macht sie nicht von oben herab, sondern von innen heraus und sie nutzt Levi, der liebenswert und naseweis, neugierig und neunmal klug ist dafür, uns in diese Gefühlswelt mitzunehmen, auf eine sanfte, nachdenkliche Art. Die sie kitschfrei hält, die es möglich macht, dass man gleichzeitig lachen und weinen kann. Sie nimmt dabei zumeist eine kindliche Perspektive ein, schreibt aber keine kindliche Geschichte, sondern eine, die angereichert ist mit wunderschönen Sätzen. Fuchsteufelsstill betitelte sie einen 2017 erschienen autobiografischen Text und ich finde dieses Wortspiel passt ganz wunderbar zu ihrem Stil, der phantasievoll, spannend und unverstellt ist.

Ich mochte den Blick aus Levis Perspektive, der arglos und ernsthaft zugleich ist. Hingerissen bin ich von ihren Figuren, mitgerissen hat sie mich mit ihrer Geschichte, wie eine strudelnde Strömung. Starke Metaphern sind das, die Buttjer da benutzt um uns die Welt, wie Levi sie sieht, zu offenbaren. Sensibel ist er, und wütend auch, stinkwütend, und enttäuscht und verletzt und einfach alles. Niemand hatte ihm gesagt, dass sich Trauer so anfühlen würde. Man möchte ihn in den Arm nehmen, schütteln, weg stoßen, zur Ordnung rufen und versteht ihn doch, ist innerlich bei ihm.

“Ähnlich wie beim Tod gab es einige Dinge, die man über Geheimnisse wissen musste: Jeder hatte welche, auch wenn man sie nicht sehen konnte, und jeder kannte nur seine eigenen, sonst waren es die der anderen.” (Textzitat)

Über den Dächern und in den Straßen von Berlin lässt Buttjer Levi Verbündete finden. Kolja, den ehemaligen Kriegsfotografen und jetzigen Kioskbesitzer, der immer noch seine alten Filme entwickelt, wenig Fragen stellt und Deckung bietet, wann immer Levi sie braucht. Und Vincent, der im gleichen Haus wohnt und uralt ist, also so um die vierzig, der eher nicht vor neun Uhr dreißig aufsteht, ein Auto hat, dass sie immer dahin fährt, wo sie hin müssen, und dessen Geschäfte dubios sind und im Dunkel bleiben.

Er mochte Vincent und er mochte Kolja, die ihn wie einen Erwachsenen behandelten, die ein Bier mit ihm teilten, nachts auf den Stufen vor dem Kiosk. Die ihn ernst nahmen, ihn und seine Tiger-Theorien und seine Angst. Weil sie nicht so waren wie sein Vater, sondern so, wie er gerne einen Vater gehabt hätte.

Viel schneller als mir lieb ist, habe ich die letzte Seite erreicht, den letzten Satz. Muss Auf Wiedersehen sagen zu Levi. Auf Wiedersehen, sage ich und nicht lebwohl, weil ich mir wünschen würde, noch einmal von ihm zu hören. Ein toller Roman ist das, der modern ist, und der mich mit seinen zweihundertsiebenundfünfzig Seiten angefasst und zugleich spannend unterhalten hat. Danke, für diese Begegnung. In Gedanken werde ich noch wohl noch eine ganze Weile bei diesem außergewöhnlichen Jungen sein …

“Zwischen das Rot meiner Augenlider, die dunklen Wimpern und die Sonne schoben sich die groben Umrisse eines Flugzeugs, daneben die Wolken. Wie Geier kreisten meine Gedanken unter ihnen.” (Textzitat)

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