Wer von Euch weiß, wohin Eure Kinder verschwinden, wenn sie das Fahrrad nehmen und losziehen? Gebt ihr sie in ein Sommerferienlager? Kennt Ihr alle, mit denen sie unterwegs sind? Welche Rollenspiele sind ihnen die liebsten und welche Rolle nehmen sie darin ein? Kommen sie mit Schrammen und blauen Flecken zurück? Spielen sie Krieg? Dies hier ist kein Spiel. Das hier ist keine Fantasy und keine Dystopie, auch wenn der Titel es vielleicht vermuten lässt. Matara ist Hier und Jetzt und brutal realistisch. Weil Kinder sind wie Kinder sind, sie probieren sich aus, kopieren Verhalten, das sie als “erwachsen” annehmen und vielleicht stimmt es ja, das Kinder bisweilen grausam sind …
Matara von Matias Riikonen
Ihr Angriff war gelungen. Sie konnten es selbst kaum glauben. Mit nur wenigen Soldaten hatten sie den Feind niedergeworfen. Gefesselt. Gefangen genommen. Gefangene gemacht. Opfer zurückgelassen. Ob sie ihnen wohl einen Triumphzug gestatten würden? Das würde sich gut machen. Einer der Gefangenen hatte aufbegehrt. Er war deren Anführer, so sagten sie, ihn hatten gezwungen sich nackt auszuziehen. Er führte die Gruppe jetzt an. Die völlig durchnässt war und er zitternd, frierend, lag jetzt auf den Knien, vor den Mataranern. Die sie mit Stöcken in der Hand umringten und nach den Rippen ihrer Gefangenen stachen, bis ihnen ein Senator Einhalt gebot.
Sklaven. Das sollten sie sein. Gutes Geld konnte man mit ihnen verdienen und das brauchte ihr Imperator. Kaius. Der Schulden hatte. Wie man sich erzählte. Weil er eine kleine Privatarmee aufgebaut hatte. Dafür stand er nicht nur bei seinen politischen Gegenern in der der Kritik. Es mehrten sich die Stimmen, dass er sie vielleicht nicht mehr länger anführen solle …
Matias Riikonen, geboren 1989, hat finnische Literatur an der Universität von Helsinki studiert. Bereits der erste Roman des literarischen Shootingstars wurde 2012 für den Helsingin-Sanomat-Literatur-Preis nominiert und Matara, sein mittlerweiler fünfter Roman gehörte in Finnland zu den meistbesprochenen Büchern des Jahres 2021. Ausgezeichnet mit dem Tulenkantaja– und dem Jarkko-Laine-Preis, nominiert für den renommierten Finlandia– und den Runeberg-Preis, ist jetzt erstmals in deutscher Übersetzung erschienen. Dies heute am 24.07.2024 im Karl Rauch Verlag (herzlichen Dank für das Besprechungsexemplar, auch an das Team von Politycki & Partner!). Für die grandiose Übertragung in unsere Sprache zeichnet der Münchner Maximilian Murmann verantwortlich. Seine einfühlsame Übersetzung macht diesen Roman auch sprachlich zu einem Spektakel, seine Arena ist Riikonens Text. Eine Steilvorlage!
Das Team Riikonen/Murmann hat mich ein Stück weit aus meiner Lesekomfortzone herausgeführt, Geschichten über das Erwachsenwerden sind nicht so wirklich mein und ich bin nicht sicher, was mich dabei am meisten herausgefordert hat und das meine ich durch und durch positiv. War es die Tatsache, dass ich seit langem einmal wieder deutlich durch die Augen von Kindern habe sehen können oder der Umstand wie unglaublich diese Sprache und ihr Detailreichtum auf mich gewirkt haben? Anyway. Ich finde diese Geschichte schlicht großartig und so herrlich abseits von allem was man sonst dieser Tage so zu lesen findet. Werden nicht die immer gleichen Themen besetzt, die immer gleichen Problemstellungen aufgegossen, gesellschaftlich relevant hin oder her, oder kommt das nur mir so vor?
Finnland hat seinerzeit schon den Grand Prix D’Eurovision aufgemischt, in dem es 2006 die Hardrock Band Lordi ins Rennen schickte und prompt gewann. Nicht das ich Riikonen mit Lordi vergleichen möchte, aber sein literarisches Konzept sticht wohltuend aus der Masse heraus. Ja, wahrscheinlich wird auch er polarisieren und nein, es ist kein Coming-Of-Age-Roman der gewöhnlichen Art. Überhaupt wirken alle hier erschreckend erwachsen, auch wenn sie in Kinderkörpern stecken und Erwachsene nicht vorkommen.
Die Jury des Jarkko-Laine-Preises begründete 2023 ihre Entscheidung für diesen Roman mit u.a. seinem “emotionalen Nervenkitzel” und Holy Moly, den hat er! Wer bei dieser Geschichte und des Klappentextes wegen einen Peter-Pan-Touch erwartet, den muss ich enttäuschen, hier geht es anders zur Sache. Da läuten keine verschluckten Wecker malerisch in Krokodilbäuchen. Hier ticken die Uhren anders. Da wird ganz genau beobachtet, politisch taktiert, gemacht, nicht geträumt und en detail erzählt. Handwerklich, schriftstellerisch und stilistisch fand ich Riikonens Schreiben schlicht brilliant. Sein Sound hatte mich sofort. Die Intensität mit der er selbst Bewegungen, das banale Aufsetzen und Abrollen eines Fußes beschreibt, die Struktur der Farnblätter auf die dieser trifft, Wasserperlen auf den Blättern des Frauenmantels, Äste knackten unter meinen Füßen, Vögel flogen erschrocken auf. Riikonens Szenen schloßen sich wunderbar und dicht um mich.
In diesem Wald war ich sehr schnell mittendrin statt nur dabei und diese Atmosphäre! Unheilvoll und spannend, und diese Kids!
Ein großer und ein kleiner Bruder auf der Pirsch, sie sind die Späher dieses imaginären Staates, ihre Namen erfahren wir nicht. Sie führen uns Lesende durch Matara. Wir sind stets dicht bei ihnen. Hinter ihnen unterwegs durch Brennnesseln, Moschuskraut und Wiesenkerbel. Dort wo der Bach die Lichtung verlässt und das Gras golden schimmert, machen sie eine Entdeckung und lügen. Mit Folgen.
Matara meint im Lateinischen “Die Lanze” und mit einem Ave zur Begrüßung huldigten die Römer dereinst ihrem Cäsar. Mit einem “Ave Matara” erzählt auch Matias Riikonen von Anführern, von solchen, die man in Frage stellen sollte und vom Mut das zu tun. Von einer Welt, die ausgedacht ist, mit Ernst erhalten und entwickelt wird, abgeschirmt vom Aussen. Niemand und nichts darf nach draußen verweisen. Diese Sommerferien, wenn ihre Eltern wüssten was sie nicht wissen, sie dürften nicht hier sein. Besonders der kleine Bruder nicht.
Matias Riikonen hält sich und uns nicht auf damit seine Figuren einzuführen, er wirft uns hinein in ihr Erleben und das ist so spannend wie es schön beschrieben ist. Poetisch und geheimnisvoll, streng und reglementiert. So geht es hier zu.
Als Lesende fühlte ich mich dabei an meine eigene Kindheit erinnert. Auch wir bauten Hütten im Wald, versorgten einander, stritten und versöhnten uns. Sprühten vor Ideen und glühten vor Idealismus. Weil man eben noch nicht wusste, dass es oft genug anders kommt. Das Wünsche nicht immer wahr werden oder schlimmer noch, wie beim Büchsenwerfen von anderen, dem Leben, umgestoßen werden. In diesem konkreten Fall schleichen sich hier Bestimmer ein, die mich nicht nur aufhorchen lassen. Ich balle meine Fäuste. Zu demütigen, daran hat hier offenbar einer auch noch Freude, die bloße Unterwerfung genügt ihm nicht bloß.
Fans der Römer, ihres Weltreiches, ihrer Strategien und Staatsgebilde werden in diesem Roman bekanntes entdecken. Denn Matara hat das antike Rom zum Vorbild. Hat Regeln und Hierarchien, denen sich keiner seiner Bewohner entziehen kann. In seinem Senat ist man sich uneins, kann das Schlimmste aber nicht verhindern. Einen Angriffskrieg. Der von einem, ihrem Imperator ausgehend, getrieben wird.
Ein Sommer. Ein Ferienlager. Ich landete inmitten der Imagination dieser Kinder und nahm alles für bare Münze. So wie sie. Alles ist bitterer Ernst und ich brauchte einen Moment um zu verstehen, dass mich Matias Riikonen mit in Ihre Köpfe genommen hat.
Schwerter klirren, dabei sind sie nur aus Holz. Ein Krieg wird heraufbeschworen, Sklaven werden verkauft und ein Urteil gefällt.
Es hat mir gefallen, dieses in der Geschichte sein. Die Außenwelt zu verlassen und in eine Rolle schlüpfen, die in dieser Welt Bedeutung hat. Schultert also rasch Eure Tonister und Ranzen, brecht auf nach Matara, aber habt Acht, versichert Euch zuvor wer Freund ist und wer Feind. Es könnte nicht, es wird Euer Leben retten …
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