Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland (Sarah Brooks)

Der Glacier Express in der Schweiz, der Eastern & Oriental-Express von Singapur nach Bangkok, die Transsibirische Eisenbahn von Moskau nach Peking, diese Bahnstrecken umweht ein schicksalhafter Hauch. Abschiede auf Bahnhöfen, Menschen, die in Zügen aufeinandertreffen, Schicksale die sich berühren, Zufallsbegegnungen die prägen. Mehr als Neuntausend Kilometer Streckenlänge und an die achtzehn Millionen Eisenbahnschwellen, machen die Transsib, gebaut unter Zar Alexander III. von 1891 bis 1916, zur längsten Bahnstrecke der Welt. Wer nach den Baukosten sucht, findet die unterschiedlichsten Angaben, das es viele Hände und Arbeiter brauchte um sie zu bauen, in Summe rund 30.000, in der Spitze bis zu 90.000 gleichzeitig, teils Strafgefangene und Zwangsarbeiter, ist hingegen unbestritten. Ebenso wie die wirtschaftlichen Vorteile, die diese Verkehrsader mit sich brachte, sie funktionierte schließlich nicht nur in eine Richtung und ermöglichste es seinerzeit China, als die Engländer sich auf den Teehandel mit Indien konzentrierten, sich den europäischen Markt auf andere Art, als auf dem Seeweg, zu erschließen. Auf dem Weg zwischen den beiden heutigen Großstädten liegt die Gegend, die diese Autorin sich als Romankulisse ausgesucht hat. Diese Geschichte hat mich entführt. Tief in das Herz des Nirgendwo – und es schlägt. Laut und wild. Leise und zart. Verbinden Fäden was trennt. Flechten was lebt. Treibt Dampf uns vorwärts. Behütet uns Eisen, gehärtetes Glas – und Mut. Dieser Zug ist nicht wie jeder andere, wer ihn besteigt muss wissen, hier fehlt eine Klasse. Zwischen eins und drei. Wählt weise die Eure….

Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland von Sarah Brooks

Von Peking nach Moskau in fünfzehn Tagen. Der Ruf der Weite, der bis nach London reicht und eine Mischung aus Sehnsucht und Angst, das Ödland-Weh, davon erzählt sie. Wer von ihm befallen wird muss dem Ruf folgen. Gleich ob im Sommer, wenn das Land wach ist oder im Winter wenn es vor Kälte erstarrt. Mit dabei: Ein Handbuch, das gut betuchte Vergnügungsreisende animiert und lehrt. Sein Autor, Valentin Rostow, hat es den Vorsichtigen unter ihnen gewidmet. Denn Vorsicht ist geboten. Was immer da draußen war, konnte auf den Zug übergreifen. Nach der letzten Durchquerung des Ödlands waren drei Passagiere der dritten Klasse bei der Ankunft in Peking tot gewesen. Man brauchte das stärkste Eisen für die Waggons und das härteste Glas für deren Fenster. Um sicher zu sein. Im Inneren. Vor dem Aussen.

Was das genau ist, was da eindringen kann, darüber lässt uns die Autorin dieser Geschichte, Sarah Brooks, auf das Vortrefflichste im Ungewissen. Zunächst. Darauf gründet sie ihren Spannungsbogen, langsam baut sie ihn auf. Verweilt bei ihren Figuren, bis wir meinen uns einen Reim auf sie machen zu können.

Was lockte Menschen jenseits der Mauern von Peking und Moskau in dieses Ödland, dem ein Autor ganz pragmatisch ein Handbuch widmet, welches vielfach zitiert das Zentrum dieses Romans ist? Was motivierte blinde Passagiere trotz drakonischer Strafen das Wagnis dieser Durchquerung, dieser Bahnfahrt, auf sich zu nehmen? Welche Ziele verfolgen diejenigen der Passagier:innen, die wir Lesende hier reihum kennenlernen? Als da wären:

Weiwei, sie ist aufgewachsen, in diesem Zug. Ist gebunden an ihn. Alle nennen sie nur “das Zugkind”. Sie kennt hier jeden und jede Ecke. Die Crew und auch die beiden “Krähen”, die Abgesandten der Eisenbahngesellschaft.

Maria Petrowna trauert um ihren Vater, ihre Existenz, unter neuem, mit falschem Namen, hat sie eingecheckt. Sie nennen sie, “die Witwe”.

Für den “Professor” ist es nicht die erste Reise, er ist der Mentor von Weiwei und hütet offenbar ein Geheimnis.

Dann wären da noch der Naturwissenschaftler Dr. Grey, verbohrt und verspottet von seinen Berufskollegen, wegen einer These mit der er komplett daneben lag, seine Reputation ist dahin, sie sucht er zu richten und eine unerschrockene Gräfin, nebst Reisebegleitung mit Dauer-Nervenkrise, sowie ein buntes Völkchen weiterer Reisender. Die sich alsbald die Frage stellen, was der Preis sein wird, den sie für diese Reise zu zahlen haben. Damit meine ich nicht die Ticketkosten …

Für Sarah Brooks, die heute in Leeds lebt und an der dortigen Universität tätig ist, die zuvor in China, Japan und Italien gearbeitet und über klassische chinesische Geistergeschichten promoviert hat, ist dies ihr, mit dem Lucy Cavendish Fiction Prize ausgezeichneter, Debütroman.

Fans phantastischer Literatur aufgemerkt oder horcht auf, wenn Ihr lange Buchtitel mögt, das hier könnte gut für Euch passen. Liebe Eisenbahnfreund:innen, zurücktreten von der Bahnsteigkante, es geht alsbald schon richtig los. Wer es ein bisschen angestaubt und historisch mag und alle, die gerne abseits gewohnter Lese- oder Hörpfade unterwegs sind, dieser Weg hier ist alles andere als ausgetreten. Hier kann man noch Neuland, respektive Ödland erobern, aber Vorsicht bitte. Ungefährlich ist das auch mit Handbuch nicht. Dafür überaus unterhaltsam und die Szenerie die Brooks zeichnet ist ausgesprochen kleidsam. Ach was sag ich, bisweilen sogar luxuriös. Habe ich schon erwähnt, dass dieser Zug einen Bibliothekswaggon hat? Also, ich für meinen Teil habe mich da sofort häuslich eingerichtet. Was er auch hat, der Zug, ist eine dritte Klasse, neben der ersten, eine Zweite hat man vergessen. Vielleicht abssichtlich? Was teils krass ist und mich ein wenig an die Titanic erinnert hat.

Die Perspektiven wechseln und wir schauen uns um im Zug, durch die Augen der jeweils erzählenden Figur. Blicken durch die Fenster auf die Natur Sibiriens. Die zum Fürchten schön ist. Einsam und karg und wären wir nicht so neugierig, hätte uns unsere Angst vor dem, was da Draußen sein muss wohl schon panisch gemacht. Schließlich können wir hier nicht weg und nicht raus. Die Türen werden sich frühestens in Moskau wieder öffnen, haben sie uns bei der Abfahrt streng gesagt.

Chronologisch erzählt, rattert der Zug Tag um Tag, Radumdrehung für Radumdrehung vorwärts. Siebenhundert Kilometer entlang der glitzernden Küste des Baikalsees. Eine Frau führt diesen Zug, den Captain, wie sie sagen, bekommt man allerdings selten bis nie zu Gesicht. Sie habe Eisen in den Knochen, das sagen sie auch, hatte sie sich doch in der Gestalt eines Mannes beworben und eingehüllt in einen Skandal am Ende enttarnt und den Job bekommen.

Stark fand ich die sich abwechselnden Erzählperspektiven und das sich Sarah Brooks dagegen entschieden hat eine allwissende Erzähler:in einzusetzen. So schafft sie es von Innen heraus zu erzählen und wer könnte das auch besser, als Ihre Figuren. Das Ungewisse und die phantastischen Elemente, die sie geschickt einbindet um einer namenlosen Furcht Nahrung zu geben, faszinierten und schreckten mich zugleich. Allein wenn ich daran denke, den von ihr beschriebenen Gezeiten ausgesetzt zu sein, so wie diese Passagiere allein in der Weite, die nicht wie wir Lesende beschützt werden von zwei Buchdeckeln, die man zuklappen kann, oder durch eine Stopptaste, die man als Hörende drücken kann, wenn es eng wird. In der Geschichte kann das niemand.

Ein Gewitter. Gestalten zwischen Licht und Dunkel. Schemenhaft. Ein immerzu durstiger Zug und ein Leck in der Wasserleitung. Das Wasser, es wird nicht reichen. Jetzt steht es fest. Sie müssen auf ein Nebengleis um neues aufnehmen. Der Captain verlässt mit Geleitschutz den Zug und noch jemand verschwindet. Zunächst unbemerkt. Gelangt vom Innen in das Außen.

Als die Türen des Zuges sich öffnen erlebe ich nicht die sibirische Steppe, das hätte ich erwartet, sondern eine Welt wie aus Avatar. Gefährlich und wunderschön zugleich. Fremd und exotisch. In der alsbald ein Wettrennen um Leben und Tod beginnt.

Alle Uhren bleiben stehen. Der Zug fällt aus der Zeit und schon stecke ich mitten drin in einem magischen Finale.

Ein Spiel der Mächte. Eines machtvoller Institutionen. Brooks hat sich vielleicht nicht zufällig die Landschaft zwischen Russland und China als Schauplatz ausgesucht. Ein Landstrich, gegen den sich in ihrem Roman die Städte Moskau und Peking angstvoll abzuschotten versuchen. Was fremd ist soll fremd bleiben.

In ihrer Geschichte steckt weit mehr, als man auf den ersten Blick meint, liest oder hört. Die beiden Gegner Religion und Wissenschaft, die Durchgriffskraft eines totalitären Regimes, das Festhalten an Klassenschranken und vorgegebenen Denkmustern. Die Sorge vor Überfremdung. Der Mut sich zu widersetzen. Unterhaltsam und spannend, bildhaft und szenisch, blättert sich Brooks Geschichte vor uns auf. Gefragt habe ich mich, wo sie hinführen wird, aber mit diesem Ende hatte ich nicht gerechnet. Doch gefallen hat es mir. Weil es sich zuspitzt, offen bleibt, konsequent und auch hoffnungsvoll ist. Mir meine Gedanken lässt. Das mochte ich und den Genremix, die Intensität mit der Sarah Brooks bei ihren Figuren bleibt und ihren Weltenbau. Packt man dazu den lebendigen, authentischen Vortrag von:

Nora Schulte, geboren 1993 in Berlin, freischaffende Schauspielerin und Sprecherin, ergibt das eine perfekte Symbiose. Schulte sorgt mit ihrer warmherzigen Art zu lesen dafür, dass mein Herz weit offen bleibt, um die Wunder aufzunehmen, die Sarah Brooks bereithält und um deren vermeintlichen Schrecken in Frage zu stellen. Da malt eine Stimme wie auf einer Leinwand, bunt, prächtig und mächtig ist dieses Ödland und weit entfernt von öde. 416 Seiten umfasst die Buchversion, die ungekürzte Hörbuch-Fassung, die bei DAV Der Audio Verlag am 19.06.2024 als Downloadtitel erschienen ist, fesselte meine Ohren 11 Stunden und 12 Minuten lang. Keine davon möchte ich missen. Ich bedanke mich herzlich für das Besprechungsexemplar. Was für eine außergewöhnliche Reise!

Verfasst von:

Schreibe den ersten Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert