Bleib (Adeline Dieudonné)

Die Zeit anhalten, das wünschen wir uns wenn uns Schlimmes wiederfährt. Vor dem großen Knall auf die Stopp-Taste drücken, den letzten schönen Moment einfrieren, das müsste man können. “Bleib” sagen, vor einem Verlust und das es dann auch wirkt. Stattdessen geht es plötzlich ums Loslassen. Alle sagen das man das muss, aber keiner weiß wie.

Bleib von Adeline Dieudonné

M ist tot und ihr Geliebter. Gewesen. Jetzt ist sie allein mit ihm, in einem Chalet irgendwo im Nirgendwo und morgen würde sie den Schlüssel abgeben müssen. Morgen wäre ihre Auszeit zu zweit vorbei gewesen. M wäre heimgekehrt, zu seiner Frau, seinem Sohn. Sie zurück in ihr Leben. Als geschiedene Frau. Als Geliebte eines verheiraten Mannes. Die sie seit acht Jahren war.

Davon will sie schreiben, in Briefen an die Ehefrau. Ohne Bitterkeit, beinahe liebevoll und ohne Unrechtsbewusstsein. Sie stand nicht zwischen Zweien, sah sich in keiner Konkurrenz, teilte was sie liebte. Ohne Reue und zwar ihn: M. Sechsundvierzig Jahre, quasi Nichtraucher, begeisterter und konsequenter Schwimmer. War jetzt im Wasser geblieben. Leblos hatte sie ihn am Ufer gefunden, nur bekleidet mit seiner knappen roten Badehose.

Adeline Dieudonné, Dramaturgin und Theaterschauspielerin, geboren 1982, wohnhaft in Brüssel, erwischte auch mich vor ein paar Jahren, ich glaube das war 2018, mit ihrem Roman-Debüt “Das wirkliche Leben” eiskalt. Gleich 14 Literaturpreise hat sie damit eingeheimst und ihre Geschichte war der Liebling des französischen Buchhandels in seinem Erscheinungsjahr. Gespannt war ich, ob diese Geschichte sich anschließen kann und das könnte teil meines Problems gewesen sein. Steile Vorlagen wecken hohe Erwartungen. Bei mir.

Was diesmal mit einem Paukenschlag beginnt, die kraftvolle sehr direkte Sprache Dieudonnés hat Sina de Malafosse ins Deutsche übersetzt, Schauplatz sind die französischen Alpen, ganz in der Nähe von der Felswand, an der 2015 ein Flugzeug zerschellte, setzt sich fort mit einem ersten Brief. Dann ribbelt sich eine Geschichte auf, als wolle man einen Pullover aufziehen, aber nicht Reihe für Reihe, konfus und wirr fallen hier die Maschen.

Die namenlos bleibende Hauptfigur und Ich-Erzählerin behält ihn. Den Leichnam ihres Geliebten. Den sie durchgängig M nennt. So diskret ist sie. Seinen Namen bewahrend. Sie wäscht den Toten, zieht ihn an, setzt ihn in ihr Autor und fährt mit ihm los. Keinen Plan wohin.

Ist das denkbar? Für mich nicht. Ist was sie empfindet nachvollziehbar? In jedem Fall. Der Schmerz ihres Verlustes hat sie komplett aus der Bahn geworfen. Die Autorin fasst das so in Worte:

“Die Kollision mit der Wirklichkeit reißt alles auf, zertrümmert das Begriffsvermögen, schürft einen so tief auf, dass die Gefühle verstummen.”

Textzitat Adeline Dieudonné Bleib

Wenn sie dann in der Folge versucht in Gedankensprüngen davon zu erzählen, warum sie Bindungsängste hat, alles kam wie es kommen musste, geht es für mich los. Ich nehme es dieser Figur nicht ab. Zuviel bleibt an der Oberfläche, zuwenig geht in die Tiefe.

Wie gerne sie doch wäre wie ihre kämpferische politisch engagierte Schwester. Die weiß was sie will und steht dafür ein. Wie sie ihren M kennengelernt hat erfahre ich, von ihrem ersten Kuss in der Öffentlichkeit, dem Händchenhalten, einem sexuellen Übergriff in ihrer Vergangenheit. Davon wie es ist, sie zu sein, Lehrerin an einem Gymnasium und Frau. Nach ihrer Definition. Nebenfrau.

Völlig irrational, so würde ich ihr Handeln beschreiben. Ihr Auto mit Leiche stellt sie am Tag zwei nach dem Tod ihres Partners auf einem Parkplatz an einem gut besuchten Stausee ab um mit einer Gruppe junger Männer Joints zu rauchen. Am Tagesende, zur Schließzeit ist ihr Wagen fort: Abgeschleppt und jetzt wird es völlig verrückt, der Leichnam wird nicht entdeckt! Das obwohl er schon riecht, wie sie zuvor berichtet hat und der Wagen einen Tag in der Sonne stand?!

Okay, ich verstehe, auf eine achtjährige Beziehung folgen sechs Tage Wahnsinn. Man stellt ihr eine klinische Diagnose. Aber hier passieren Dinge, die fasse ich nicht. Ein Zahn kommt unter die Haut. Mittels Skalpell und für mich zu häufig Sätze fallen wie: “Darauf verwette ich meine Klitoris.”

Nein, diese Geschichte war in Summe nicht mein Ding. Die Chancen, die die Autorin unterwegs liegen lässt, um aus ihr eine spannende zu machen sind zahlreich. In “Das wirkliche Leben” hat sie alle genutzt und mehr. Wenn ich stattdessen hätte mitfühlen können, wäre auch das okay gewesen, aber es fehlte mir, sorry, an Sympathie für diese Hauptfigur. Alle ihre Männer, bis auf eben diesen Einen, waren ein Desaster, wie gerne sie doch Sex hat, betont sie überaus variantenreich, auch über Körperstellen und Geschlechtsteile spricht sie ausgesprochen gerne und darüber, wie gestresst und unzufrieden sie als junge Mutter doch gewesen ist. Wo, wie und warum sie ihre jeweiligen Partner nicht unterstützt haben.

Es fällt ihr leicht andere zu finden, die Schuld haben, dieses Jammerhafte und ihr Ich-Bin-Hier-Das-Opfer-Empfinden fand ich anstrengend. Andere mögen anderes herauslesen, ihre Verzweiflung und Hilflosigkeit annnehmen, ich habe das nicht geschafft. Daran konnte am Ende auch die authentische Lesung von:

Jördis Triebel, deutsche Schauspielerin, geboren 1977, nichts mehr ändern. Sie liest für DAV – Der Audio Verlag, die ungekürzte Hörbuch-Fassung in rund 4 Stunden 44 Minuten ein. Der Titel ist seit 13.06.24 erhältlich. Ich darf an dieser Stelle Danke sagen, für das Besprechungsexemplar. Triebel, die u.a. mit Sönke Wortmann in “Die Päpstin” zusammengearbeitet hat, gefiel mir in diesem Text vor allem wegen der sachlichen Distanziertheit die sie wahrt. Sie holt die Heldin gut ab und hielt mich so trotz meiner Kritik bei der Stange.

Was ich Dieudonnés aktuellem Roman zu Gute halte, ist die Erzählform die sie wählt, die Briefe die sie einbindet, die Geliebte schreibt an die Ehefrau, dies alles andere als chronologisch, eher wie ein krudes Gedankendurcheinander. Stylistisch lässt das die Tatsache, wie sehr diese Frau im Angesicht ihres Verlustes neben sich gestanden haben muss deutlich hervortreten. Erinnern und Trauer kommen nach Belieben. Als Attacke und in Wellen. Dieser Kniff der Autorin versöhnt mich etwas, auch wenn ich die nächste Geschichte aus ihrer Feder wohl eher auslassen werde. Hier noch für alle die mögen, ein Blick auf meinen Beitrag zu Ihrem sehr guten Debüt:

Verfasst von:

Schreibe den ersten Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert