Demon Copperhead (Barbara Kingsolver)

David Copperfield von Charles Dickens, erstmals veröffentlicht 1849/50, trägt autobiographische Züge und erzählt von einer Kindheit, die geprägt ist von Strenge, Züchtigung, Armut und Lieblosigkeit. Umstände, die es in der Geschichte allesamt nicht verhindern konnten, dass aus David Copperfield im Erwachsenenalter ein erfolgreicher Schriftsteller wurde. Was hat die Autorin Barbara Kingsolver veranlasst diese Geschichte neu zu erzählen und sie ins heutige Amerika zu verlegen?

In einem Interview mit ihr höre ich, dass sie zwei Jahre lang nach auf der Suche war nach einem Zugang zu ihrer Geschichte, dann habe ihr Charles Dickens, sie hatte sein Schreibzimmer besucht, die Antwort gegeben und sie habe sich entschieden ihren eigenen David Copperfield seine Geschichte erzählen lassen. So heißt ihr Held dann auch ganz ähnlich, Damon Fields, aber alle nennen ihn Demon Copperhead.

Kingsolver startet mit ihrer Geschichte in den 1990zigerJahren, inmitten der Opiodkrise in den USA, wo Oxycodon ein Schmerzmittel von Purdue Pharma mittels einer geschickt und strategisch platzierten Marketing-Maschinerie eine Schwemme von Suchtkranken hinterlassen hat. Wer dazu mehr wissen möchte, dem sei Imperium der Schmerzen von Patrick Radden Keefe empfohlen.

Barbara Kingsolver, geboren am 8. April 1955 in Annapolis/Maryland, veröffentlichte 1988 ihren ersten Roman, heimste für ihr Schreiben seither zahlreiche Preise und Nominierungen ein, mit dieser ihrer Novelle räumte sie gar den Pulitzer Preis und den Womens Prize for Fiction 2023 ab. Ihr Roman avancierte in Großbritannien und den USA zu einem Bestseller, Ophra Winfrey besprach ihn in ihrem Buchclub.

In Kingsolvers Geschichte kann man wahrhaftig versinken. Sie ist konsumig und flüssig erzählt aus der Sicht eines Kindes, dann Teenies und späterem Erwachsenen. Mit Kraftausdrücken und Sozialkritik wird nicht spart, mit ersteren ist ihr Protagonist auch aufgewachsen. In einem Trailerpark, der Ausweglosigkeit ein- und ausatmet und bei unzähligen Pflegeeltern. Für sein Erzählen setzt Kingsolver einen ganz eigenen Humor ein, in so mancher Situation muss das Galgenhumor ihres Protagonisten sein. Vielleicht hat aber auch genau diese Sicht, auf das was ihm geschieht, Demon geholfen durchzuhalten und “wird schon wieder” denken zu können, aber ich greife vor, lasst uns am Anfang beginnen:

“Es ist ein Wunder, dass man das Leben mit nichts beginnt und mit nichts beendet und dazwischen trotzdem so viel verliert.”

Textzitat Barbara Kingsolver Demon Copperhead

Demon Copperhead von Barbara Kingsolver

Mit einer Mutter, die drogenabhängig, alkoholsüchtig, viel zu früh schwanger wird. Die damit allein bleibt. Mit ihm, mit Demon, der als Sturzgeburt zu Hause auf die Welt kommt. Wo ihn die Nachbarin, die nur nach dem Rechten schauen wollte, findet. Umhüllt von einer Haut und Flüssigkeit. Auf dem Fußboden. Was für ein Start ins Leben für dieses kleine Wesen als Junkiekind und als wäre das nicht genug, betritt alsbald ein Stiefvater die Bühne und zwar einer der schlägt und schikaniert. Der unberechenbar ist.

Das Kind, das in der Glückshaube zur Welt gekommen ist, scheint so gar kein Glück zu haben. Kurz blitzt es auf, wenn die Nachbarn, die sich mehr kümmern als die eigene Mutter, ihn mit in die Ferien nehmen. Der Besuch eines Aquariums inklusive Haitunnel – unvergesslich. Das Staunen und die Freude auf diesem Ausflug – unbezahlbar. Währen aber nur kurz.

Wie Demon versucht sich einen besorgten und verständnisvollen Blick auf seine Mutter zu bewahren und daran scheitert, schmerzt. Auf eine Mutter, die immer wieder abstürzt, die entscheidet, sich an genau diesem Mann, an Stoner, festzuhalten, die ihn heiratet und dann erträgt wie er sie und ihren Sohn behandelt.

Gruselige Pflegeväter. Pflegeeltern, die nur abkassieren wollen. Falsche Vorbilder, eine Tabakernte nebst Nikotinvergiftung, Superhelden und eine Gabe.

Die Atemlosigkeit und die Fülle des Erzählens von B. Kingsolver erinnerte mich an “Der Stich der Biene” von Paul Murray. Allen, die Demon Copperhead mochten, empfehle ich daher wärmstens noch einmal diesen großartigen Roman. Neben hoher Erzählkunst, findet man dort ein unfassbar geniales Plotkonstrukt, wohingegen sich Kingsolver auf das lineare Erzählen beschränkt. Aber zurück zu Damon, denn er verdient das man ihm zuhört:

Der am eigenen Leib erlebt wie Agenturen Pflegekinder und Familien verwalten, wie Mäuse sich durch Brot fressen, Kakerlaken tanzen und Kinder schon bei Partys Tabletten einwerfen (müssen?). Damon ist zehn Jahre alt und eben doch kein Superheld, als er bei diesem “Pflegefarmer” ankommt. Seine Mutter ist wieder einmal auf Entzug. Das Jugendamt bringt ihn auf der Farm unter, wo der kleine Kerl einiges auszuhalten hat. Wie er sich dabei treu und ehrlich bleibt, seine Gabe entdeckt und eigene Superheld:innen erfindet, durch sie ausdrückt was in ihm vorgeht, wie er die Welt um sich herum sieht, ganze Cartoons zu zeichnen beginnt, packt mich.

Zu viel Wind in den Segeln soll Demon haben. Sagt sein Stiefvater. Dagegen gibt es auch Tabletten. Die müsse er nehmen wenn sie eine Familie sein wollten. Denn seine Mutter war wieder schwanger, der Haken daran war nur, sein Stiefdad wollte das Kind nicht. Und dann war seine Mutter tot. Durch eine Überdosis Oxy. Die Todesnachricht erreicht Demon an seinem elften Geburtstag, an den wieder einmal niemand gedacht hat und er kämpft. Mit seinen Gefühlen, die nicht mehr da sind für seine Mutter und mit seiner Wut. Nicht das sie bislang für ihn da war, aber jetzt hatte sie ihn einfach allein gelassen. Allein mit diesem Unhold.

Jetzt will er weg, weg von diesem Mann, dann wird es eben wieder eine Pflegefamilie. Diesmal eine, die chronisch pleite ist und das Pflegegeld, das sie für ihn erhält, zum Löcher stopfen nutzt. Nicht nur das, Demon soll einen weiteren finanziellen Beitrag leisten und bekommt mit seinen elf einen Job. Auf einer Müllhalde, steht dort für seinen Chef, der Crystal Meth braut, zwischen Ratten, Windeln und Batteriesäure und in der Schule ist er plötzlich der Loser, nicht mehr derjenige, der von den Jungs am besten lesen kann. 

Er haut ab. Wird abgezockt. Verliert sein sauer Erspartes. Seine Fluchtkasse. Sucht und findet seine Großmutter. Die ihn auch nicht behalten will. Was für eine Odyssee. Die Anzahl der Familien die ihn weiterreichen habe ich nicht mitgezählt. Das er ein “Meloungeon” ist, scheint dabei nicht hilfreich.

Nicht nur für seine Mitschüler ist er ein “Hillbilly”, was übersetzt etwa Hinterwäldler bedeutet, oder etwas liebevoller vielleicht noch “Landei”. In den meisten Fällen nutzt der, der diese Bezeichnung verwendet sie allerdings herabsetzend und meint damit, ein Hillbilly habe keine oder zuwenig Bildung und Kultur. 

Eine verschollene Oma, ein Lehrer, der ihn seine Herkunft recherchieren lässt, genauer sein Wurzeln und als er herausfindet das Europäer, Afroamerikaner oder auch nordamerikanische Indigene seinen erweiterten Stammbaum speisen, als ein neuer Pflegevater und Trainer ihn als Footballer ausbildet, eine Kunstlehrerin sein Talent fördert, wird eine Wende eingeläutet. All das erdet ihn. Konnte doch noch alles gut werden?

Barbara Kingsolvers Ich-Erzähler richtet sich mit Blick auf die Vergangenheit an uns, was bedeutet der Erzählton ist nicht durchgängig altersentsprechend erzählend. Seine Schilderung aus seiner Zeit mit zehn oder elf Jahren wirkte bisweilen sehr abgeklärt auf mich, auch weil Ausdrücke darunter gemischt sind, die eher kein Kind in den Mund nehmen würde.  

Was bleibt mir von dieser Geschichte? Eindeutig ihre Ausführlichkeit. Die Innenansicht einer jugendlichen Gedankenwelt, die unfassbare Gewissenlosigkeit und die Auswirkungen der Opiodkrise in den USA. Das was Unbeirrbarkeit und ein Talent erreichen können. Ihre Komplexität, Ihre Bildhaftigkeit und ihr Detailreichtum. Ja, man hätte sicherlich auch kürzen können, aber nicht müssen. Es würde mich nicht wundern, wenn da Netflix & Co. noch anrufen. Kingsolver spart schließlich auch nicht mit Sozialkritik, die sie mitreissend, teils rauh und ungeschönt verpackt. Da müssen Drehbuchautoren aufhorchen.

Insbesondere eingedenk solch dramatischer Zuspitzungen, wie sie gegen Ende des Romans warten. Verluste stehen wie stumme Zeugen an Demons Lebensweg förmlich Spalier und immer sind es diejenigen, die er liebt, die es trifft …

Wer seine Lebensgeschichte lieber hören will trifft auf:

Fabian Busch, geboren am 1. Oktober 1975, in Ost-Berlin, deutscher Schauspieler, der mit dafür sorgt, dass man am Text bleibt. Es passiert so einiges auf diesen 829 Seiten oder in den 20 Stunden und 37 Minuten der ungekürzten Hörbuch-Fassung. Busch ist eng dran an der Figur des Demon und sein Vortrag ist lebendig, echt und glaubwürdig. Gleich ob es um das Erleben des Kindes Demon oder des jungen Erwachsenen geht. Von mir gibt es daher eine Empfehlung für beides für die Geschichte und das Hören.

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