Luftschlösser (Hilary Leichter)

Annie, Edward und Baby Rose müssen ausziehen. Das Geld ist knapp, die Miete zu hoch. Die neue Wohnung winzig. Zu klein für einen Tisch, für Gäste und doch ist Stephanie hier. Sie ist Annies Arbeitskollegin, war ihre Vertretung, hat sie nach dem Mutterschutz wieder freundlich aufgenommen. Annie hat sich Mühe gegeben an diesem Abend. Hat aus alter Kleidung Servietten geschnitten, mit dem schönen geerbten Porzellan eingedeckt. Als Stephanie kommt schämen sie sich ein wenig, weil es so ist, wie es bei ihnen ist. Eng.

Ihr Besuch aber schien sich daran gar nicht zu stören. War sie, Stephanie es dann gewesen, die den immer überquellenden Wandschrank geöffnet hatte? Ihre Gastgeber hatten den Atem angehalten, damit gerechnet das ihr Vorrat an Windeln heraus fallen würde, aber stattdessen öffnete sich eine Tür, die auf eine wunderbare große Terrasse führte und auf die ihr Gast hinaustrat, sich umdrehte und fragte ob man nicht lieber draußen essen wolle.

Lange blieben sie draußen an diesem Abend, hinterfragten nichts, genossen die Luft und die Aussicht. Als Stephanie ging, sich die Tür des Wandschranks hinter ihnen schloss und Annie und Edward sie hernach erneut öffneten, war die Terrasse verschwunden. Weil sie meinten jetzt eine Terrasse zu haben, luden sie nun wiederholt Gäste ein. Aber die Tür zur Terrasse öffnete sich nicht mehr. Bis sie Stephanie erneut einluden und dann immer wieder, immer öfter, um mit ihr draußen sein zu können.

Hilary Leichter, geboren 1985, lebt in Brooklyn, unterrichtet Literarisches Schreiben an der Columbia Universität, mit “Die Hauptsache” legte sie 2021 ihren Debüt Roman vor, der für zahlreiche Preise nominiert wurde. Übersetzt hat ihn, wie auch ihren aktuellen Roman der Wahlberliner Gregor Runge für den Arche Verlag. Ich darf mich herzlich für ein Besprechungsexemplar bedanken.

Warum wollte ich Luftschlösser lesen? Vielleicht weil ich mich als Bücherwurm schon als Kind, immer gerne in eigenen Luftschlössern eingerichtet habe. Weil die Geschichte des Königreichs Narnia, das man durch einen Schrank betreten kann und andere, die von Weltenübergängen erzählen, mich immer besonders fasziniert haben.

Der Gedanke daran, die Vorstellung, eigene enge Räume verlassen und andere betreten zu können, ganz einfach durch eine geheime Tür, ist ein Traum, oder? Jeder sollte ein Luftschloss haben. In das er sich flüchten kann, wenn es hart auf hart kommt. Findet Ihr nicht? Träume zu haben, Pläne zu schmieden, Wünsche zu teilen macht vieles leichter und es ermöglicht uns, wenn sich jemand auf diese Weise öffnet, ihn ganz anders kennenzulernen.

Bücher können das. Türen öffnen. Deshalb mag ich Texte, die mit Elementen des magischen Realismus spielen und trotzdem nah an unserer Lebensrealität bleiben, lieber noch als die reine Fantasy oder Phantastik. 

Wenn sich die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verwischen. Wenn Mythologie, Geschichte und Geographie so verschmelzen, dass es sich auf der gleichen Handlungsebene natürlich und realistisch anfühlt, wenn es Autor:innen gelingt, so wie bei den Großen dieser Stilrichtung, Gabriel García Márquez oder Mario Vargas Llosa, das phantastische Gedanken und Realismus mehr als gut nebeneinander bestehen können und nicht nur nicht in Konflikt geraten, dann bin ich Feuer und Flamme.

Zuletzt war ich das bei Samota von Volha Hapeyeva, da gingen solche Szenen poetisch eingerahmt Hand in Hand. Hat sich auch beim Lesen von Luftschlösser dieses Gefühl bei mir einstellen können?

Hilary Leichter schreibt anders als Hapeyeva und das ist auch gut so. Für ihre Geschichte wählt sie einen beinahe nüchtern sachlichen Ton. Damit schafft sie es, das auch ich von Beginn an, nicht hinterfrage, sondern diese Terrasse betrete. Leicht irritiert zwar, aber rasch von der Begeisterung der sich dort Wohlfühlenden vereinnahmt. 

Aus Leichters Sicht ist Stephanie eine zutiefst einsame Superheldin. Ihre Gabe anderen Räume zu öffnen, ihnen benötigten Freiraum zu geben, verhilft ihr nicht zu mehr oder engeren Bindungen, im Gegenteil. Durch ein mehr an Platz entsteht Distanz. Dadurch, dass sie vermag, was sie eben vermag halten andere Abstand zu ihr. Weil es fremd ist und andere verschreckt. In diesem Fall Annie dann doch. Wenn auch etwas später. Die anfängliche Freude über den Zugewinn von Wohnraum weicht irgendwann Skepsis. Dann verliert Annie ihren Job. Stephanie hat ihre Kunden einfach zu gut “gepflegt” während ihrer Abwesenheit. Sie wird nicht mehr gebraucht. Annie ist wütend. Auch auf ihre Kollegin. Als der Winter kommt und damit die Möglichkeit draußen zu sein, hören die Besuche von Stephanie schließlich auf.

Edward ist es, der sie im Frühling wieder einlädt. An diesem Abend aber wird es anders sein. Zum ersten Mal schließt ihr Gast die Tür auf der Terasse hinter sich und Annie bleibt in der Wohnung zurück, während Stephanie, ihr Mann und Baby Rose draußen sind …

Die Stimmung im Roman kippt. Unheilschwanger fühlt sie sich an. Ist aber auch gleichzeitig erfüllt von tiefer Traurigkeit.

Wegen der Gedanken, die Hilary Leichter pflanzt, habe ich ihn gern gelesen. Wegen der Zwangsläufigkeiten und des Zaubers. Der ein stiller ist und zwischenzeilig agiert. Diese Geschichte, die auf wunderbare Weise gegenwärtig und gleichzeitig entrückt ist.

Trotzdem habe ich eine zeitlang nach dem passenden Schlüssel für ihren Text gesucht. Erst die Ausflüge in Stephanies Collegezeit und die kurzen Streifzug durch ihre Kindheit haben mich spüren lassen worum es der Autorin gehen muss. Vielleicht habe ich da aber auch herausgelesen, was ich lesen wollte. Nur für mich.

Hilary Leichter abstrahiert, packt stilistisch einiges ein an Zwischenweltlichem. Kühl hält sie mich auf Abstand. Lässt mich dann die Entfremdung von Paaren spüren, die sich nebeneinander her lebend aus den Augen verlieren, ohne für mich erkennbaren Grund. Welche Einsamkeit es auslöst, welche Distanz zu anderen, wenn man anders ist, egal wie, aber eben nicht so wie die Mehrheit, das habe ich auch spüren können. Die von Leichter gewählte Erzählform ist mehr als ungewöhnlich um all das zu vermitteln und um ein Haar hätte sie mich abseits der Magie für Ihren Text verloren.

Dann aber kam die Wende: Die Perspektive wechselt. Stephanies Trennung von den Eltern. Jetzt kenne ich den Grund. Ein Unfall. Die Schuldfrage steht zwischen ihnen.

Habe ich das raumschaffende Wunder zuerst aus Sicht von Annie erlebt, dann ist jetzt Stephanie an der Reihe zu erzählen. Der durchaus bewusst war, dass sie ausgenutzt wird. Es aber in Kauf nimmt, um ihrer Einsamkeit zu entkommen. Die von ganzem Herzen diese neu gewonnene Freundschaft genießt und ich fühle das sehr. Es schmerzt mich, weil ich zu wissen glaube, so wird es nicht bleiben. Sie hat die Macht und ist doch ohnmächtig.

“Sie konnte ihnen dieses Geschenk machen, und sie konnte es widerrufen und erneut schenken. Es kostete sie nichts, und das war gut so.”

Textzitat Hilary Leichter Luftschlösser

Nimmt man für das eigene Glück automatisch anderen etwas weg? Was verlangen wir voneinander wenn wir uns binden? Wie bedingungslos sind wir bereit miteinander umzugehen? Das hat nichts mit Magie zu tun, aber mit einem Zauber der jeder Beziehung zu Beginn anhaftet und der, wenn er verfliegt, einen Bruch bedeuten kann.

Kann. Wer es schafft diese Bruchkanten zu glätten, Schwächen zuzulassen und zu akzeptieren, bei sich wie bei anderen, zu verzeihen, erschafft Bindungen die dauerhaft sind.

Eine Suche durch Zeit und Raum beginnt wo alles endet. Dort wo eine Tür sich schließt und trennt was sich gefunden hat.

Schmerzhaft ist die Symbolik, die Leichter einsetzt. So schmerzhaft wie eine Trennung selbst. Habe ich mich eben noch gefragt, wie sie all das wohl auflösen wird, stehe ich jetzt am Ende vor diesem Finale. Verstehe. Hilary Leichters Text. Mag ihn mehr. Doch. Sogar sehr. Weil er mir da weh tut wo er muss. Luftschlösser bestehen aus Luft, ihre Eigenart der Flüchtigkeit macht ihren Reiz aus und ist die Wahrheit am Ende nicht genauso flüchtig wie sie?

“Es tut gut, gebraucht zu werden, wenn auch aus den falschen Gründen.”

Textzitat Hilary Leichter Luftschlösser
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