Vater Unser (Angela Lehner)

*Rezensionsexemplar*

Sonntag, 15.09.2019

Meine Großmutter hat mir davon erzählt, wie es war, wenn der Lehrer den Rohrstock herausholte auf den Allerwertesten zielte, oder was noch schlimmer war, auf die ausgestreckten nach oben gedrehten Handinnenflächen. Nicht weil sie aufsässig oder nicht folgsam gewesen war, sondern nur weil sie etwas nicht gekonnt hatte. Auch meine Mutter hat die Prügelstrafe noch in der Schule am eigenen Leib erlebten müssen.
1973 wurden <Körperstrafen> dann in der Bundesrepublik per Gesetz verboten. Das Bundesland Bayern aber abhielt noch bis 1979 ein <gewohnheitsrechtliches Züchtigungsrecht> aufrecht. Hier wurde die Prügelstrafe tatsächlich erst 1980 offiziell abgeschafft. Seit dem Jahr 2000 haben Kinder bei uns ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung, dies wurde im BGB festgeschrieben. <Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig” heißt es dort. Tja, soweit die Theorie, die in vielen anderen Ländern bis heute so noch nicht gelebt wird …

Viele von uns können das Gebet, das für diesen Roman titelgebend ist im Schlaf. Es gilt laut Wikipedia als das am weitesten verbreitete Gebet des Christentums und als das einzige, das nach dem Neuen Testament Jesus Christus seine Jünger selbst gelehrt hat. Man findet es im Matthäus- und im Lukasevangelium, es wird von Christen aller Konfessionen gebetet, ich hatte erstmals im Konfirmanden-Unterricht damit Berührung. In dem Roman, den ich heute mitgebracht habe, berührt es mich auf andere Weise, seine Protagonistin konnte es als Kind einfach nicht behalten, sollte es im Religionsunterricht auswendig lernen und fing sich dafür Schläge ein. Diese von einem Priester und Demütigungen vor der Klasse gab es gratis obenauf.

<Du sollst nicht lügen> haben sie ihr auch eingetrichtert, was sie sich irgendwie auch nicht beherzigen konnte und ich finde, die Autorin hat sich mit dieser außergewöhnlichen Heldin zurecht einen Platz unter den Nominierten für den diesjährigen Deutschen Buchpreises gesichert. Aber, schauen wir erstmal von Anfang an …

“Das man Angst hat, heißt nicht, dass man sich auch fürchten muss”. (Textzitat)

Vater Unser von Angela Lehner

Mit auf dem Rücken gefesselten Händen und im Polizei-Gewahrsam hatte man sie hier eingeliefert, in die Irrenanstalt, nein Nervenheilanstalt, in der Nähe von Wien und in dieser Kleinstadt der Verwahrten traf sie auch wieder auf ihn, ihren Bruder, Bernhard. Einlieferung mit Familienanschluss sozusagen, aber er wollte sie nicht treffen. Meidete sie wie die Pest, floh vor ihr, verweigerte sich jeglichem Kontakt, jeglichem Gespräch, auch ärztlicher Intervention …

Mit dem Klemmbrett in Händen saß er ihr gegenüber. Forschend war sein Blick, die Stirn in tiefe Falten gelegt und Eva erzählte, führte sie vor ihre Erlebnisse, ihre Erinnerungen, das, was sie für wahr hielt. Bald schon bin ich nicht mehr sicher, was davon kann ich wirklich glauben. Manipulativ, getrieben, verletzt und vernarbt. Die Narben auf ihrer Seele scheint er mir aufbrechen zu wollen dieser Dr. Korb, ihr Psychiater und sie wehrte sich, mit Sätzen und Worten wie Gewehrsalven. Ich verzeihe ihr ihre Ungehobeltheit. Denn ganz leise schleicht sich in mir eine Ahnung an, warum sie sich Nachts kratzt bis die Laken blutig sind, warum ihr Bruder nichts mehr essen kann, man ihn zwangsernähren muss …

Angela Lehner, geboren 1987 in Klagenfurt, lebt heute in Berlin. Mit <Vater Unser> legt sie ihren ersten Roman vor, und wie! Sie garniert ihren Text mit herrlichen österreichischen Dialekteinsprengseln. Beschreibt die Innenansichten dieser Nervenheilanstalt so, das ich mich eingeliefert fühle und ausgeliefert, diesen Seelendoktoren, die alles zu wissen scheinen. Oder, die vielleicht ja auch selbst einen Schlag weg haben? Wie soll man das auch aushalten, wenn man sich Tag für Tag den Seelenmüll anderer anhören muss? Filetieren muss zwischen dem Ist, der Erinnerung und der Einbildung. Wie übersteht man das ohne selbst dabei Schaden zu nehmen?

“Als wäre so ein Psychiater ein leeres Gefäß, das das Wesen der Irren auffängt wie eine Flüssigkeit”. (Textzitat)

Von verrückten Alten kann man hier lesen, die verloren gehen, einfach so weg laufen, Nachts, ohne Hemd, ohne Hose. Nackt in die Welt, so wie sie einst auf sie gekommen sind. Von Mitleid und Irrsinn, und wer nicht essen will, sich dem am Leben bleiben verweigert, der wird halt gestopft. Und wer sind jetzt eigentlich die Verrückten in dieser Welt? Wer bestimmt das? Ich bin hin und her gerissen!

Angestellte flitzen hier in Golfwägelchen über das Anstaltsgelände, es gibt Musiktherapie, Geschwistertage, Vorwurfspingpong und Überraschungsbesuche. Es wird gelechzt nach Wertschätzung und Patientenspitznamen lauten schon mal Dumbo. Moralisch flexibel muss man sein und man darf die Verletzungen eines Menschen nie unterschätzen und eins ist gewiss, Langeweile kennen hier vielleicht die Insassen, als Leser ist man unter permanenter Spannung.

Geschickte Manipulatorin oder Opfer? Freundschaften werden erschüttert, die Menschen sind ja so schwach! Ich schwanke, derweil wankt Lehners Figur Eva zwischen Gewaltfantasien und Erinnerungsfetzen. Was ist das mit ihr? Kann sie tatsächlich immer nur das eigene Leid sehen, ist sie ganz Narzisstin oder doch die Retterin der Familie? Ein Schreibaby war sie, eine Besserwisserin. Eine Lügnerin ist sie und geistesgestört, oder etwa nicht? Eine Hauptfigur die man wahrlich nicht alle Tage trifft ist diese Eva, die mehr Fragen aufwirft, als sie zunächst glaubhafte Antworten gibt, die mich rasend macht und ratlos, die mir Furcht einflößt, mit ihrer Direktheit und für die ich gleichzeitig eine große Sympathie empfinde. Das finde ich großartig!

“Und das, denke ich, ist die größte Strafe: Dass ich jeden Moment meines Lebens mit mir selbst verbringen muss. Wie gern würde ich diesen Körper einfach ausziehen, ihn wie einen Pyjama abstreifen; ihn liegen lassen; neu anfangen”. (Textzitat)

Gelitten habe ich mit ihrem Bruder Bernhard, so hungrig nach Leben, so verzweifelt, es nicht bei sich behalten zu können! Ganz und gar und auf keinen Fall ein Wohlfühlbuch hat sie da geschrieben die Angela Lehner. Nein, ein Nachdenkbuch hält man hier in Händen, das schmerzt und wühlt in einem, auch noch lange nach dem Lesen. Besonders auch diese Sätze, treten förmlich nach, in ihrer Knappheit, ihrer Gemeinheit, ihrer Frechheit, hart auf Kante formuliert, geht man nur um ein weniges fehl, wartet der Wahnsinn … Wow!

“Jetzt schaue ich mir meine Angst an. Man muss sie hin und wieder beachten wie ein Kleinkind, sonst schreit sie im Hintergrund nur noch lauter, bis man irgendwann gar nichts anderes mehr hört”. (Textzitat)

Blut ist dicker als Wasser und wie hält man ein ganzes Leben mit sich selbst aus? Wenn man nicht heraus kann aus seiner Haut? Die Perspektive nicht wechseln kann? In diesem Roman habe ich mich nicht nur an den Cover-Farben gestoßen, die in den Augen brennen. Einen Show-Down schreibt sie daher die Frau Lehner, da will ich kein Wort zuviel verraten, bis dahin spielt sie mit mir und mit meiner Wahrnehmung wieder und immer wieder. Mit meiner Sicht auf Wahrheit und Lüge, mit meiner Überzeugung von richtig und falsch – und vielleicht, ja hoffentlich nicht nur mit mir. Ich drücke ihr jetzt auf jeden Fall ganz fest beide Daumen für den Deutschen Buchpreis!

“Ein freier Tod ist eine Gnade, die einem die Gesellschaft nicht zugesteht”. (Textzitat)

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