Wer den Lebensgefährten, den Partner, den Lieblingsmenschen an den Tod verliert, muss weitermachen. Sagen alle. Irgendwie. Glück und Neues zulassen, ohne zu vergessen. Erinnerungen aushalten bis sie nicht mehr weh tun. Oder nicht mehr so sehr. Das Leben ist nicht fair, niemand hat das je behauptet. Sich in die Arbeit stürzen kann helfen. Muss aber nicht. Keiner weiß das besser als er. Kimmo Joentaa. Hauptfigur in einer meiner Lieblingsreihen und dieser klirrend kalte Wintertag heute, scheint mir perfekt dafür, Euch diese Geschichte von ihm vorzustellen.
Im Winter der Löwen von Jan Costin Wagner
Jenseits der Scheiben schneite es. Kimmo Joentaa hatte sich zum Dienst eingetragen. Wie jedes Jahr, in den letzten Jahren, an Weihnachten. Er war der unter den Kollegen ohne Familie. Verbracht nach dem Tod seiner Frau diese Tage nach Feierabend zumeist allein, in Gesellschaft einer Flasche Wodka. Die hoffentlich Mut machen konnte, meist aber nur einen Kater, vor dem Besuch seiner Schwiegereltern. Der morgen anstand und der immer ausgefüllt war mit selbstgebackenen Plätzchen und dem Schweigen, das sich in ihrer Mitte und aus den gemeinsamen Erinnerungen an seine verstorbene Frau, ihre Tochter ergab.
Kaum hatte er diesmal die Schnapsflasche in Position gebracht, klingelte es. Draußen stand nicht etwa der Nachbar, der ihn zu einem Weihnachtsessen einladen wollte, sondern die junge Frau, die noch wenige Stunden zuvor auf der Polizeiwache Anzeige wegen Vergewaltigung hatte erstatten wollen und die ihrem Angreifer die Nase gebrochen hatte. Sie kam nicht nur rein, sondern blieb. Es kommt eben immer wie es kommen muss, auch nachts um zwei in der gleichen Nacht.
Diesmal klopft es an Kimmos Haustür. Es ist der Weihnachtsmann. Also sein Kollege Tuomas, der in dessen Kostüm steckt, der wenn er es recht bedenkt, noch nie bei ihm zu Hause gewesen war. Tuomas steht völlig neben sich und noch bevor er sich so richtig erklären kann, ist Weihnachten auch schon vorbei. Denn ihr Chef ruft an. Man hatte ihren Gerichtsmediziner tot aufgefunden. Im Wald, die Langlaufski noch an seinen Füßen, seine Kleidung mit Blut getränkt …
Zurück in Finnland, stehe ich wieder vor Kimmos Haus mit dem Apfelbaum, auf dem heuer dick der Schnee liegt. So also hat er Larissa kennengelernt. In dieser Weihnachtsnacht. In der so einiges los ist.
Auch diesmal bleibt es nicht bei einem Toten und der einzige Zusammenhang, der sich den Ermittlern zeigt, ist offenbar eine beliebte Fernsehtalkshow.
Gedämpft beleuchtete Stille. Gedanken, die sich im Kreis drehen. Ein Bild, das aus der Realität herausgefallen ist und das man nicht mehr aus dem Kopf bekommt.
Herren des Todes in realistischer Fiktion. Ein Puppenbauer, der Leichendummies für Filmemacher herstellt und ein Gerichtsmediziner, was haben beide gemeinsam, das einen Mörder auf den Plan ruft?
Das Mumintal in Naantali, am blauen Turm ist die Tür offen. Verlassen. Liegt die Welt der Mumins da. Im Winter. Was will sie hier? Was oder wen vermisst sie? Glaubt sie hier zu finden, was sie sucht? Ein zweiter Erzählstrang gibt mir Rätsel auf.
Jan Costin Wager, geboren am 13. Oktober 1972 in Langen/Hessen, verortet die erfolgreiche Reihe seines Kommissars Kimmo in Finnland, in der Heimat seiner Frau. Kimmo kennt man mittlerweile in 14 Sprachen! Wagner befindet den Schauplatz im hohen Norden für universell, hier könne er all das abbilden, was Menschen umtreibt, die an ihre Grenzen geraten und darüber hinaus, kann man über seine Idee nachlesen. Zuviel von seinen Geschichten verraten darf man allerdings keinesfalls und nie, sie zu entdecken, Verbindung um Verbindung aufzulösen, Hinweis auf Hinweis zu folgen, tastend und vorsichtig, ist großes Krimikino!
Wagner schreibt dabei stets mit dem Herzen eines Poeten und dieser ihm eigenen Eindringlichkeit. Die Narben auf meinem Herzen, die seine Geschichten dort eingeschrieben haben, melden sich wieder, auf diese gute Art, ihr wisst was ich meine. Ich genieße es, mir von Matthias Brandt (meinem Bücherflüsterer!) auch diesen dritten Teil der Reihe vorlesen zu lassen, die ich seit Sakari lernt durch Wände zu gehen (Bd.6) von hinten aufrolle. Wagner und Brandt sind einfach ein Match! Beide bringen Sehnen und Vermissen so auf den Punkt, dass sie mir unter den literarischen Krimiautor:innen und Sprecher:innen noch immer die Liebsten sind!
Die Verletzlichkeit von Figuren zeichnen, ohne einen Hauch von Rührseligkeit, Motive herauszuarbeiten, sich am Rande menschlicher Abgründe vortasten, vorzuwagen bis kein weiterer Schritt mehr möglich ist, das ist Jan Costin Wagner par excellence. Auch diesmal. Das Überraschungsmoment und wie sich am Ende alles fügt, sind weitere Stärken von Wagners Schreiben. Neben dieser wunderbaren Wehmut, die immer wieder in den Lücken seiner Sätze aufblitzt.
Mal abgesehen davon, dass dieser Teil der Kimmo-Joentaa-Reihe in einem Zeitraum von Weihnachten bis zum 8. Januar spielt, passt sie mit ihren leisen Tönen und sanften Melancholie, ausgezeichnet in diesen Lesemonat. Mit ihren Sätzen, die immer wieder in der Luft hängen bleiben, die Brandt durch Pausen einfach mal stehen lässt,- sie erwischen mich jedes Mal.
Die finnische Landschaft und Lebensart fügen sich als Protagonisten wie selbstverständlich ein, sind nie nur Kulisse oder Rahmen. Die Kapitelumbrüche, die unterschiedlichen Erzählperspektiven und Blickwechsel, sorgen für Überraschungen in Wagners klug konstruierten Plotts, sie sind für mich das Markenzeichen dieser Reihe. Seine Figuren mit ihren Schrullen, Macken und Verletzungen, die mit viel Empathie gezeichnet sind, wachsen mir jedes mal mehr ans Herz. Dabei bleibt Kimmo eine meiner liebsten Hauptfiguren in der Literatur überhaupt. Wer niemals nicht Krimis liest, aus Gründen, sollte wenigstens ihn kennengelernt haben. Ich vermisse ihn immer schon, kaum ist der letzte Satz verhallt und ich wünsche mir so sehr, dass seine Geschichte noch nicht zu Ende erzählt ist und ich ihn in einem Band 7 wiederlesen darf.
Jetzt bleiben mir nach Sakari lernt durch Wände zu gehen, Tage des letzten Schnees, Licht in einem dunklen Haus und Im Winter der Löwen nur noch Band 1 und Band 2. Sie heißen Eismond und Das Schweigen und ich hebe sie mir auf, wie eine gute Schokolade, zögere das letzte Lesen oder Hören hinaus.
Ein Trigger ist der Schlüssel zur Lösung und die neue, geheimnisvolle Frau an Kimmos Seite wird noch ihre eigene Geschichte zu erzählen haben, was ich weiß, weil ich die Reihe ja rückwärts lese.
Also bleibt dran, da gibt es noch einiges zu erzählen und mit jedem Band versteht man Kimmo ein bisschen besser.
Wagner bleibt dabei Wagner, seine Rückblenden, seine sich in die Quere kommenden Erzählebenen sind einfach Klasse. Er schont seine Figuren keinen Meter. Nie. Konfrontiert sie mit dem Schlimmsten.
Kimmo, bleibt Kimmo, die Trauer um seine Frau Sanna, mit der er zu leben lernt, macht ihn so ungeheuer sympathisch und zu einem, der Menschen auf eine Art und Weise versteht, die selten und kostbar ist. Danke, Jan Costin Wagner, für diesen Helden und diese Geschichte, die für mich ganz wunderbar in diese stillste der Jahreszeiten gepasst hat.
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