Sakari lernt, durch Wände zu gehen (Jan Costin Wagner)

Sonntag, 10.12.2017

Hörgenuß voraus!

Wie es sich anfühlt, einen Menschen zu verlieren, der einem das Lebenslicht gewesen ist, haben viele von uns schon erleben müssen.

Wie muss es sich anfühlen, das Lebenslicht eines Menschen auszulöschen, unabsichtlich, den eigenen Fehler vielleicht  einsehend? Wie unfassbar erschreckend allein diese Frage ist.

Unsere Nachrichten sind täglich voll von Gewalttaten, die Berichterstattung oft reißerisch und plakativ, bleibt an der Oberfläche. Wir sehen Bilder die uns erstarren lassen – nicht nur in den Nachrichten, sondern auch in den sozialen Netzwerken. Die immer gleichen Sequenzen werden dann gezeigt, zerpflückt und diskutiert. Die Gefühlswelt der Betroffenen, gleich auf welcher Seite der Tat sie stehen, können wir dabei bestenfalls erahnen. Wollen sie auch so manches Mal gar nicht verstehen, uns kein Bild machen, so unfassbar, so unmenschlich erscheint uns das Geschehene.

Eine Tat, eine Geschichte hat immer viele Facetten. Der Roman, den ich heute besprechen möchte, steht im Dezember auf Platz 1 der Krimi-Bestenliste der FAZ. Das Genre “Krimi” ist hier allerdings aus meiner Sicht viel zu kurz gegriffen, auch wenn der Plott eine Tat und ihre Umstände beleuchtet, und mit einem Toten beginnt …

Textzitat, Kapitel 1: 

Die Fee des frühen Morgens – Der Sommer in dem Marissa den Mond vermessen möchte, betritt Kimmo Joentaa den Raum, indem das Meer zu Hause ist. Sanna schwimmt im Sonnensee, Petri läuft zwischen Bäumen auf der Flucht vor sich selbst. David löscht die Sonne aus. Magnus und Stefan spielen Leben. Aune und Walteri stehen Hand in Hand. Lena tanzt mit dem Tod. Sakari lernt durch Wände zu gehen …

Turku, Finnland.

Vor aller Augen, in einem Brunnen vor dem Einkaufszentrum, saß hinter einem Schleier aus Wasser ein nackter Mann mit einem Messer. Sorgfältig hatte er zuvor seine Kleidung gefaltet, zu seinem ordentlichen Stapel aufgeschichtet und am Brunnenrand abgelegt, zusammen mit einem Paar blank geputzter Schuhe. Nur schemenhaft, schattenhaft, hatte der junge Mann, hinter der dünnen Wand aus Wasser, in die die Sonne kleine Regenbogen schickte, sein unfreiwilliges Publikum wahrgenommen, als er begonnen hatte, sich mit dem mitgebrachten Messer die ersten Verletzungen beizubringen …

Erste Blutstropfen begannen sich mit dem Brunnenwasser zu vermischen, als sich der Schuß aus der Dienstwaffe des Polizisten Petri Grönholm löste. Die Zeit schien still zu stehen, als Petri rannte, nachdem der zweite und der dritte Schuß gefallen waren. Fort, nur fort von dem Mann, der jetzt nackt vor dem Brunnen in einer Blutlache lag …

Ungläubig, hilflos, Lena konnte nicht mehr atmen. Wie ein Blitzschlag drängt das Unheil erneut ins Leben von Lena Nystad. Als sie wach wurde, war alles voller Rauch. Feuer! Eric, David – rief sie in Gedanken, gerade eben hatte sie sie doch noch gerügt, als sie mit nassen Badehosen den Teppich voll getropft hatten um in ihre Zimmer hinauf zu laufen. Den fremden Mann, der ihr aus dem brennenden Haus geholfen hatte, hatte sie nicht fragen können wo ihre beide Söhne waren, keinen Ton hatte sie aus ihrem Mund herauspressen können. Atmen, dachte sie, wie ging das noch, bevor sie das Bewußtsein verlor …

Textzitat, Kapitel 40: 

Die gelebten Momente sind vergangen, die versäumten Momente auch.

Hinter dem Jungen öffnet sich der Raum, an dessen Wänden Schatten tanzen. Joentaa folgt dem Blick des Jungen. Jeder Schatten scheint mit einer Flamme zu verschmelzen und am Fenster steht ein kleines Bett in dem ein Affe liegt. Neben dem Affen ein schlafendes Kind …

Jan Costin Wagner – deutscher Schriftsteller, geb. 1972 in Hessen, lebt teils in Frankfurt, teils in Finnland in der Heimat seiner Frau. Mein erster Roman von ihm, Mann oh Mann, er hat wirklich eine ganz eigene Stimme!

Die emotionale Feinheit in Wagner Sprache hält er durch bis zur letzten Silbe, dem letzten Buchstaben. Poetisch, mit intensivem Nachhall erobert er sich so für mich ein absolutes Alleinstellungsmerkmal in der Buchwelt.

Meine erste Assoziation nach dem Lesen des Titels war “Japan”. Sakari klang für mich so japanisch, und dort hatte man doch auch Wände aus Papier, oder? Aber weit gefehlt – mitten hinein geworfen hat mich Wagner in die Hitze dieses finnischen Sommers. Dieser Sommer, der nicht nur eine intensive Wärme abstrahlt, sondern eine bittersüße Melancholie, die mich sofort erfaßt und bis heute, nicht mehr losgelassen hat.

Seine Eröffnungs-Szene am Brunnen ist so unfassbar, so unfassbar gut, dass man meint, da kann doch gar nicht mehr viel kommen. Oh, doch – es kann und es kommt. Man sitzt hier förmlich im Kopf von Sakari und im Kopf des Polizisten, erlebt das Geschehen so nah, dass man meint mit Händen danach greifen zu können.

Bunte Holzhäuser vor einem blauen Himmel, die Wiesen voll mit Sommerblumen. Mit nackten Beinen auf einem Bootssteeg am See sitzen, die Füße ins kühle Wasser baumeln lassen, lachen bis der Bauch weh tut, Eis essen soviel man schafft, in der Nacht mit dem Geodreieck den Mond vermessen, Nudeln mit Tomatensoße kochen und die Küche dabei einsauen …

Die Unbeschwertheit eines Sommers prallt hier zusammen mit Leid, Schuld und Tod. Diese szenische Mischung macht Wagners Plott einzigartig. Hebt ihn für mich in den Roman-Olymp. Tiefgründig und klar, wie die Seen in Finnland.

Trauer, Verlust und Beherrschtheit, ein verhängnisvolles Unglück bindet hier zwei Familien aus der Nachbarschaft auf tragische Weise für immer aneinander und spaltet sie zugleich zutiefst. Ein jeder hier schultert sein Päckchen so gut wie er es vermag. Man wird Zeuge, wie eine Kurzschlußreaktion den Leben einen Stoß gibt, wie ein Kö einer Billardkugel.

Kimmo Joentaa als feinfühliger Ermittler, mit ruhiger Hand agierend, in sich ruhend, integer und so sympatisch – ich bin sofort sein Fan geworden. Seine Intuition, sein Mitgefühl, wie er mit seiner Tochter umgeht, hat soviel Seele. Wagner schafft es mit viel Empathie Figuren zu zeichnen, mit denen man von Anfang an mitfühlt, denen man beistehen, die man umarmen, anschreien oder zum Freund haben möchte.

Nachdem ich Mariana Lekys “Was man von hier aus sehen kann” in diesem Jahr schon als mein Lieblings-Hörbuch gekürt hatte, war ich sicher – da kann so schnell nichts ran reichen. Wie man sich doch irren kann! Zum Glück!

Dieser Roman hat mich sehr bewegt und angerührt auf eine Weise, die mich als Nordland-Fan jetzt sagen läßt: Ihr Norweger und Isländer, die ihr schon einen festen Platz in meinem Herzen habt, müsst jetzt zusammenrücken – die Finnen kommen! Sakari, Waltari, Sanna, Petri, Kimmo und all die anderen – vielleicht gibt es ja ein Wiedersehen?

Hörbuch-Fassung:

Bewußt, obwohl gekürzt habe ich diese Geschichte als Hörbuch ausgewählt, wegen ihm, Matthias Brandt, dem “Bücherflüsterer”. Denn er könnte aus dem Telefonbuch vorlesen und ich würde mit offenem Mund und großen Augen vor ihm auf dem Boden sitzen.

Und? Das hier ist wahrhaft großes Kino für die Ohren!

Gekonnt bespielt Brandt diese akustische Leinwand, wie es kein anderer vermocht hätte. Ich liebe es wie er liest. So herrlich unaufgeregt und eindringlich zugleich haucht er den Figuren Leben und Tiefgang ein. Wie kaum ein zweiter Vorleser ist er ihnen zugewandt. Was für eine wunderbare Wehmut, die Brandt mit seiner Stimme durch die Geschichte bis zu mir trägt. Unvergleichlich!

Das letzte Wort ist noch nicht verklungen – da fehlen mir Kimmo und diese kleine Schicksalsgemeinschaft schon. Seit Tagen renne ich mit hängenden Ohren rum und frage mich, was ich jetzt bloß als nächstes hören soll. Was kann hier gegen jetzt bestehen? Über diesen Fall muss für mich definitiv erst ein wenig Gras wachsen …

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