Ismaels Orangen (Claire Hajaj)

Mittwoch, 13.12.2017

Es duftete nach Zimt, Vanille und Lebkuchen. Von dem Teller auf dem Tisch rollte ein kleiner roter Apfel herunter. Im Küchenofen meiner Oma knisterte ein Feuer, das darauf wartete, die hergerichteten Bratäpfel aufzunehmen. Eben erst hereingekommen und mit noch klammen Händen vom Schlittenfahren, fingerte ich an einer Apfelsine herum …

Untrennbar waren sie für mich mit Weihnachten verbunden, diese großen duftenden Früchte, auf denen ein Schildchen mit der Aufschrift “Jaffa” klebte. “Jaffa-Orangen” hielt ich tatsächlich lange für einen feststehenden Begriff, eine Produktbezeichnung. Das die Apfelsinen aus einer Stadt kamen, die Jaffa hieß – davon hatte ich so gar keine Ahnung als Kind, und es kümmerte mich auch nicht. Sie schmeckten so gut …

Wie umkämpft, geliebt und verhasst diese Stadt ist/war – erzählt uns Claire Hajaj in dieser Geschichte, die sich nicht nur für eine Rückbesinnung auf Weihnachten eignet, sie ist heute aktueller denn je, hält sie doch den Wunsch nach Frieden wach:

Isamaels Orangen – oder der Duft von bitteren Orangen

Er hatte die Zeichen nicht richtig gedeutet und jetzt war sie fort. Gewundert hatte er sich über ihre Traurigkeit, den Brief den sie vor ihm verbergen wollte, wie sie heute früh gekleidet gewesen war, so anders als sonst und wie sie ihnen nachgeschaut hatte. Ihr Schrank war leer, warum hatte sie ausgerechnet seinen kleinen Bruder mitgenommen, ihn einfach zurück gelassen, wie ein altes paar Schuhe, ohne Abschied, ohne Erklärung? Erst Zorn, dann Eifersucht, dann tiefe Verzweiflung hatten ihn gepackt, geschüttelt und leer zurück gelassen …

1967 London. “Warum sollte ich dich hassen? Ich kenne dich nicht einmal?” – hatte er gesagt. Er war Araber und sie mochte ihn, ganz eindeutig, beides war jetzt nicht mehr zu ändern. Sie war noch nie einem Araber begegnet und in ihrer Familie hatte man ihr beigebracht, das diese alle Juden hassen würden. Auf einer dieser unzähligen Studenten-Partys hatten sie sich kennengelernt, sie die unscheinbare Jüdin, die immer irgendwie verloren am Rand stand und Salim, selbstbewußt, der ihr wie ein Party-Löwe vorgekommen war. Mit Margret, dem Mädchen, das alle haben wollten war er gekommen, gegangen war er aber mit ihr. Jetzt saßen sie hier, in diesem Kaffee und unterhielten sich, wie alte Bekannte. Judith knappe neunzehn, im ersten Studienjahr, Literatur. London machte ihr noch immer eine Heidenangst. Und Salim, ihm standen die Abschlußprüfungen bevor und damit auch die Entscheidung wohin ihn sein Weg danach führen sollte …

In diesem Frühling waren sie kein Paar und doch unzertrennlich, sie teilten ihre Geschichten und Gedanken, waren wie Seelenverwandte. Die Jüdin und der Araber aus Israel, das vor dem Krieg Palästina gewesen war.

Sein grosser Bruder Hassan hatte ihn nicht nur einmal gewarnt, keine Jüdin nach Hause zu bringen und ihre Mutter hatte ihr eingeschärft “Er wird dir, der Jüdin, nie vergeben, dass du auf der Siegerseite stehst.” Gründe, ein für alle Mal, die Finger voneinander zu lassen gab es reichlich und doch zog es die beiden wie zwei Magnete zueinander.

Zwischen allen Fronten, zwischen allen Stühlen, gegen alle Vorurteile, wider besseren Wissens, verzweifelt das Glück ihrer kleinen Familie schützend.

Geschützfeuer, Vertreibung, Flucht und Enteignung. Brüder, Waffenschieber, Widerstandskämpfer, gebrochene Versprechen, Krieg, Tod und Verderben. Ein Krisenherd der noch heute schweelt. Der Sohn wie der Vater, der Vater wie der Sohn zerissen auf der Suche nach der eigenen Identität. Unaufhaltsam auf die Katastrophe zusteuernd …

Textzitat: “Daran was Du für andere Menschen bist, kannst Du nichts ändern ..”

Claire Hajaj, geboren in London, als älteste Tochter einer Jüdin und eines Palestinänsers, verbrachte ihre Kindheit in Kuweit. Ihre Eltern verloren ihr Erbe in der Heimat, als Hajaj zehn Jahre alt war und kehrten nach England zurück. Mit siebzehn begann sie ein Literaturstudium, arbeitete später für die Vereinten Nationen in verschiedenen Friedensprojekten. Obwohl Ismaels Orangen ihrem Bekunden nach eine fiktive Geschichte ist, drängen sich mir hier Paralellen zu ihrer eigenen Lebensgeschichte auf.

(Quelle Wikipedia:) Am 29. November 1947 beschloß die UN Generalversammlung die Teilung Palästinas in einen arabischen und einen jüdischen Staat, wobei Jerusalem unter UN-Verwaltung bleiben sollte. Am 14. Mai 1948 verlas dann David Ben Gurion die israelische Unabhängigkeitserklärung. Noch in der Gründungsnacht erklärten Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien, Libanon, Irak und Syrien dem noch jungen Staat den Krieg. Im Laufe dieses Krieges begann die Flucht bzw. Vertreibung vieler palästinensischer Araber. Die Geburtsstunde Israels gilt für die Palästinenser als Katastrophe.

Vor diesem Hintergrund lässt Claire Hajaj ihre Figuren agieren. Lässt sie kämpfen und schwanken zwischen Intoleranz, innerer Zerrissenheit und der Sehnsucht nach Frieden und Heimat. Lässt sie verzweifeln und scheitern, lieben, hassen und vergeben. Sie berührt, macht kopfschütteln und nachdenklich, rüttelt an eigenen Vorurteilen, schubst uns mit der Nase auf den noch immer anhaltenden Nah-Ost-Konflikt. Wird es hier jemals Frieden geben können? Wie tief sitzt die Furcht vor dem Anderen in den Herzen?

Hörbuch-Fassung:

Boris Aljinovic kennt man auch als Berliner Tatort-Kommissar “Felix Stark” wo er an der Seite von Dominic Raacke ermittelt. Als Hörbuch-Sprecher erhielt er bereits zweimal, 2007 und 2014, den Deutschen Hörbuchpreis in der Kategorie “Kinder-und Jugendbuch” als “Bester Interpret”. Er ist ein Routinier als Sprecher, das merkt man vom ersten Ton an. Seine Stimme ist klar und angenehm.

Einfühlsam und lebendig spricht er diese Geschichte ein. Allen Figuren läßt er ausreichend Raum, was angesichts der dramatischen Entwicklung dieser Geschichte wohltuend ist.

Das Hörbuch ist gekürzt, so endet es leider etwas ruppig, fast wie mit einer Vollbremsung. Auf meinen Stick geladen hatte ich nicht rechtzeitig auf die Stopptaste gedrückt und so ging der Roman wieder von vorne los – zum Glück! Denn so wurde ich gewahr, das sich der Kreis dieser Geschichte tatsächlich schließt, der Prolog wird so zum Epilog und läßt mich dann doch versöhnt zurück.

Gut zu wissen: Hardcover und Hörbuch erschienen unter dem Titel “Ismaels Orangen” bereits 2015 in der deutschen Übersetzung. Die Taschenbuch-Ausgabe erschien am 19.12.2016 unter dem Titel “Der Duft von bitteren Orangen”.

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