Tage des letzten Schnees (Jan Costin Wagner)

Dienstag, 26.03.2019

Die ersten warmen Tage im Jahr werden stets mit Sehnsucht erwartet. Die ersten Blüten wie ein Wunder bestaunt. Das Wintergrau weicht leuchtendem Gelb und ein Summen füllt wieder die Luft. Wir lassen die Hüllen fallen, soweit angenehm und zulässig, stürmen Terrassen und Eiscafés und halten unsere winterblaße Haut in die Sonne. Wie wohl das tut!

Manchmal aber, führt die Natur Regie in diesen ersten Frühlingstagen und lässt zwei Jahreszeiten aufeinander treffen, es noch einmal schneien, die Welt erstarren, frisch getriebene Knospen erfrieren und der Verkehr kommt zum Erliegen.

In dieser Geschichte hier, spielt das Wetter Schicksal und lässt Menschen mit zerstörerischer Wucht aufeinander prallen. Lässt Herzen zu Eis gefrieren und in der Kälte zerspringen …

Tage des letzten Schnees (Jan Costin Wagner)

Nähe Turku, Finnland.

Am 1. Mai waren die letzten Flocken dieses Winters gefallen und obwohl es der Wetterdienst vorhergesagt hatte, schaute Lasse ungläubig gen Himmel. In diesem Monat, in dem alle schon an das Wachsen glaubten, wirkten die wirbelnden Flocken falsch, seltsam deplatziert. Auf der Straße vor ihm bildete sich rasch eine geschlossene weiße Decke, weich und verletzlich. Jetzt aber schnell, seine Tochter Anna war noch vom Eishockey abzuholen.

Ein Licht, ein Blitz, ein Schweben im Raum und dann ein dumpfer Aufprall. Später sollte sich Lasse oft fragen, was sich alles in den Bruchteilen dieser Sekunden abgespielt hatte. Anna starb noch am Unfallort, während der Fahrer floh, elf Jahre war sie alt und sie war nicht angeschnallt gewesen …

Als Kimmo Joenta zur Unfallstelle aufbrach hatte er die Bilder eines strahlend schönen Sommertages vor Augen. Seine Frau war noch gesund und am Leben und sie waren zu Besuch gewesen bei ihrem Chef, Lasse Egholm. Im Garten hatten er, Lasse und Anna, die Tochter der Egholms damals Fußball gespielt …

Jan Costin Wagner, landete 2008 mit Das Schweigen auf Platz drei des Deutschen Krimpreises, 2011 erschrieb er sich Platz 1 auf der KrimiZEIT Bestenliste mit Das Licht in einem dunklen Haus.

Mir hat er im letzten Jahr mit seinem Roman Sakari lernt durch Wände zu gehen eine Lieblingsgeschichte geschenkt. In Tage des letzten Schnees erzählt er von einem Fall, der sich in der Lebensgeschichte seiner Hauptfigur Kimmo Joenta einige Jahre vorher ereignet hat.

Schon nach den ersten gehörten Worten bin ich zurück! Zurück in Finnland und zurückversetzt in diese poetisch, melancholische Grundstimmung, die mir schon bei Sakari so gefallen hat. Auch dieser Fall beginnt mit einem Paukenschlag, oder besser mit einem Tiefschlag. Ein Kind zu verlieren, verbunden mit dem Gefühl sogar einen Teil der Schuld daran zu tragen, ist wohl das Schlimmste was einem Elternteil passieren kann. Was macht das mit einer Beziehung, nicht nur mit einem selbst?

Erfolgreich scheinen alle um die Lücke herum zu manövrieren, die der Tod hinterlassen hat. Erinnerungen werden wach an ein helles, klares Lachen und an die Fehlschüsse beim Eishockey, wenn der Puck den Querholm traf und sie das so sehr wurmte. An die Musik, die sie so gerne hörte und die ihr Vater bis heute nicht verstand.

Wenn das Adrenalin und der Schock nachlassen und die Realität einen mit voller Wucht trifft, können Freunde einen beim Aufstehen stützen, stehen und wieder laufen muss man aber von alleine, nicht nur am am Morgen danach …

Der Morgen nach dem Unfall, die Gefasstheit der Eltern nötigt mir schon Respekt ab, da gelingt mir ein Blick hinter die Fassade und ich erkenne die Verzweiflung, die sich dort eingenistet hat. Normal sein und funktionieren, ins Leben sollen sie zurück kehren, sich der Beerdigung zu verweigern würde sich nicht gehören und auch nicht hilfreich sein …

In einem weiteren Handlungsstrang, der einige Wochen vor dem Unfall beginnt, lernen wir Markus kennen, einen erfolgreichen Fondmanager. Zweiundvierzig Jahre alt, der auf einer Geschäftsreise nach Belgien eine neunzehnjährige Ungarin trifft und der verheiratete Banker, Vater eines kleinen Sohnes, verheddert sich in eine Affäre. Er beginnt zwischen zwei Welten zu pendeln. Auf einem schmalen Grad balanciert er da, wie über einer tiefen Schlucht. Sein Sohn, Alltagsphilosoph und Jedi Fan, seine Frau und seine junge Geliebte, Analphabetin, lebenshungrig, halten ihn in seinem Kosmos auf Spannung.

In einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, in virtuellen Welten, so Wagner, tummelt sich unterdessen ein Geschwisterpärchen. Der eine nicht ahnend, dass die andere ihn längt enttarnt und erkannt hat. Erkannt hat als einen Menschen mit Idealen die einen das Fürchten lehren, der den Kontakt zu sich verloren hat, sich nicht mehr fühlen kann …

Treue und Untreue, eine verhängnisvolle Affäre. Betrogen und verletzt.  Eifersucht und ein Konstrukt aus Lügen. Eine Prahlerei die zu einer Kurzschlussreaktion führt. Prostitution und Ballerspiele und während die Einen in ihrem persönlichen Drama gefangen sind, baut sich bereits ein anderes auf, und Jan Costin Wagner pflanzt in mir eine Ahnung. Unheilvoll droht das Geschehen mit geschehen und ich denke nur noch: “Tu doch was! Tut doch was! Irgendeiner muss doch was tun!”

Zwei Leichen in einer schneeweißen Wohnung, sich verlieren in dem Versuch alle Spuren zu beseitigen. Im Schock verschwimmen Realität und Traum.

Geschlossene Fragen und Kopfnicken, eine erdrückende Indizienlast, fehlende Antworten, die Schlinge zieht sich enger und enger zu. Die Worte fehlen. Kommen die wahren Schuldigen tatsächlich immer davon?

Kimmo Joenta, ermittelnder Kommissar ist mein Held und er bleibt mein Held, gleich in welche Geschichte ihn Wagner verstrickt. Seine Verletzlichkeit macht ihn als Figur so ungeheuer sympatisch und es gibt in der Welt der Romane keinen mehr wie ihn. Nur durch sein eigenes Erleben ist ihm eine Empathie möglich, die man sich selbst wünscht, wenn einen ein solcher Schicksalsschlag trifft.

Der letzte Schnee des Jahres fällt am 1. Mai und er nimmt ein Leben. Der erste Schnee des Jahres fällt am 1. September und er macht Dir, Kimmo, ein Geschenk, das Geschenk des Lebens … Wie Wagner als Autor mit seiner Hauptfigur Schlitten fährt! Da vergeht einem als Leser Hören und Sehen. Mensch, Kimmo! Was Du alles wegstecken musst!

So viele Hüte wie ich vor Wagner ziehen möchte, kann ich mir gar nicht aufsetzen, wie er hier den Kreis schließt! Es gibt wenige Autoren, die mir solche Gefühlsbäder zumuten und wo ich sie auch zulasse, sie sogar genieße, mit jeder Faser.

Dieser vielarmige Plot! Wie geschickt er seine Handlung verschachtelt, wie Adern durchziehen seine einzelnen Handlungsstränge die Geschichte, flössen ihr eine Authentizität ein, dass man meint man lese die Tageszeitung. Keine Sorge, man kann sehr gut folgen, Wagner ist immer klar, kristallklar, führt uns ausgezeichnet, mit ganz viel Menschlichkeit, warmherzig und ohne jeglichen Pathos.

Alles hängt immer mit allem zusammen und ich bleibe dabei: Jan Costin Wagner ist ein begnadeter Erzähler vor dem Herrn! In mir trifft er stets einen Ton, der mich mehr als einmal hart schlucken lässt, das gelingt nicht vielen Autoren mit dieser Verlässlichkeit und auch nicht nur weil er ihn, auch diesmal wieder, für die Hörbuchfassung im Gepäck hat:

Mathias Brandt liest und ich gebe zu, dass er mit der Grund ist, warum ich mich erneut für das Hören von Wagners Stoff entschieden habe. Auf ein Wiederhören mit Brandt habe ich mich gefreut wie Bolle, auf seinen wohl akzentuierten, leicht melancholischen Vortragsstil, der so ausgezeichnet zu Wagners Geschichten um Kimmo Joenta paßt. Diesmal macht er mich wirklich fertig. Macht mich mit seinem beinahe unheimlichen Timbre fassungslos. Diese Ereignisse und seine Stimme! So viele Knie habe ich gar nicht, auf die ich mich bei ihm werfen könnte. Ich verneige mich daher ehrfürchtig und hoffe, jetzt wo die letzte Silbe verklungen ist, es möge nicht die letzte gewesen sein, die ich von ihm noch zu hören bekomme!

Gut zu wissen! Das ZDF und Network Movie wollen die Tage des letzten Schnees im Frühjahr 2019 verfilmen. Man darf also gespannt sein auf eine weitere Fassung dieser clever konstruierten Geschichte  …

Verfasst von:

2 Kommentare

  1. Petra
    4. April 2019

    Wie schön, und sehr gerne Angela! Es würde mich freuen noch einen Fan für das grandiose Duo Wagner/Brandt gewinnen zu können. LG Petra

  2. Literaturgarten
    4. April 2019

    Liebe Petra, ich bin inzwischen auch begeistert vom Hörbuch Hören und dieses Buch möchte ich ich mir nun runter laden. . Danke für Deinen Tip und Rezension!
    Angela

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