Die Kinder sind Könige (Delphine de Vigan)

Die Kinder sind Könige und wir hoffen, das sie das sind. Das wir sie schützen können, fördern, sie im Frieden aufwachsen sehen dürfen. Wir wissen aber auch, das es andere Lebenswirklichkeiten gibt als diese. Denken an den Hunger in der Welt, an Kinderarbeit in Fabriken. Das Kinderarbeit auch ganz anders aussehen kann, das wir sie vielleicht gar nicht bewußt erkennen. Das sie persönlichkeitsverändernd und prägend sein kann für alles Weitere das kommt. Denken wir auch darüber nach? Dann, wenn wir auf unseren Social Media Accounts Inhalte konsumieren die Kleinkinder ungeniert zeigen, Bilder anschauen, Reels, Videos die bestenfalls den Stolz der Eltern spiegeln. Bestenfalls.

Wie oft springen wir ab zu YouTube, schauen Filmchen an ohne über die Hintergründe nachzudenken? Wie oft landen in unseren Feeds Werbung, Fotos und Videos die uns nur ein Algorithmus zulost? Die nicht selbst gewählt sind. Mir werden zur Zeit ständig Reels vorgeschlagen die Babys und Kleinkinder zeigen, die irgendwelche Faxen oder ihre ersten Schritte machen, ihre ersten Worte sprechen, singen, tanzen oder mit Haustieren schmusen. Das Eltern stolz sind auf den Nachwuchs kann ich gut verstehen, das sie ihre Kleinsten aber in allen erdenklichen Situationen, teilweise sogar unbekleidet, einer Öffentlichkeit präsentieren die ihrerseits diese Bilder ungefragt teilt oder gar anderweitig nutzt macht mich zornig. Hört hier das Recht am eigenen Bild etwa auf?

Die Kinder sind Könige von Delphine de Vigan

Da ist möglicherweise jemand neidisch, neidisch auf unser Glück, weil wir sind nämlich, sie sucht nach dem passenden Wort, und findet es: “Stars”.

Mélanie Claux, Mutter von zwei Kindern, sitzt durchgefroren vor einem Polizeiermittler. Ihre Tochter ist verschwunden. Beim Versteckspiel und was alle wissen, aber nicht aussprechen, der Countdown läuft längst. Denn wenn es sich um ein Verbrechen handelt, überlebt das vermisste Kind meist die ersten vierundzwanzig Stunden nicht …

Stars sind sie, hat sie eben gesagt. Der Polizist hält sie für eine Spinnerin, das kann sie spüren. Aufhorchen lässt ihn dann aber ihr vermeintliches Jahreseinkommen von “rund” einer Million und die dazugehörige Einkommens-Quelle – ihr YouTube Channel. 

Kimmy, die verschwundene Kleine, ist sechs Jahre alt und heute am Tag ihres Verschwindens schreibt der Kalender den 10. November 2019. Nur ihr Kuscheltier, ein zerschmustes Kamel, fand man noch auf dem Spielplatz ihrer Wohnanlage. Sonst nichts. Kein einziger Hinweis. Als Ermittlerin übernimmt Clara Roussel das Eintauchen in die Internet-Identität dieser Familie und verblüfft nicht nur ihren Chef sondern auch mich mit dem was sie da recherchiert …

Delphine de Vigan, geboren 1966 erschrieb sich 2007 mit “No & ich” ihren Durchbruch. Für ihn wurde sie in Frankreich gleich zweifach preisausgezeichnet. 2015 erhielt sie für ihren Roman “Nach einer wahren Geschichte” den Prix Renoudot. Der fehlt mir noch in meiner Sammlung. Gelesen habe ich mit Begeisterung “Loyalitäten” und auch “Dankbarkeiten”, gehört “No & Ich”, alle samt Übersetzungen von Doris Heinemann, die auch den aktuellen de Vigan Roman aus dem Französischen übertragen hat. Wer mag klickt für meine Beiträge zu den Titeln auf die nachfolgend eingebetteten Cover:

Was ist das, das Zuschauer so fasziniert an Skriptet Dokus und Sendungen wie Big Brother? De Vigan versucht diese Faszination durch ihre Mélanie zu erklären. Treten wir mal einen Schritt zurück und schauen auf das Wie-Es-Begann:

Mélanie ist ein Teenager und Fan wie die Eltern auch. Gemeinsam verfolgt man im Fernsehen wie eine Gruppe junger Menschen in einem Wohncontainer eingeschlossen wird und ab jetzt können die Fernsehzuschauer alle durchs Schlüsselloch und zig Kameras beobachten. Man suggeriert “alles” sei zu sehen. Keine Peinlichkeit bleibt verborgen, keine Intrige unaufgedeckt und am Ende wird Eine:r gewinnen und danach berühmt sein. In dieser ersten Staffel ist es eine junge Frau und für Mélanie steht fest, genau das will sie auch, diese Welle der Anerkennung von der die Siegerin getragen wird, die Bewunderung …

Sie versucht es mit einer solchen Fernsehshow, kommt auch durch den Cast aber scheitert schon gleich zu Beginn. Wird ausgestochen, von noch mehr Sexiness. Gibt diesen Traum auf, den sie leben will, heiratet, wird Mutter.

“Sie hatte das Gefühl, einen Platz auf der Welt gefunden zu haben, einen Ort zum Leben.”

Textzitat Delphine de Vigan Die Kinder sind Könige

Dieser Ort heißt Facebook und hier zieht Mélanie Claux nach der Geburt ihres Sohnes und einer Schwangerschaftsdepression ein. Die Idee dazu lieferte ihr Mann Bruno um sie aufzumuntern und ihre erste Challenge, um den virtuellen Titel der “super maman”, lässt nicht lange auf sich warten. Nur vier Fotos illustrieren wie glücklich sie als Mutter ist und die Anerkennung ihrer neuen Community ist groß. Die meisten Likes gab es, wenn sie Baby Sammy gekonnt in Szene setzte und sie lernte schnell, dass es vor allem darum ging seine Schokoladenseite zu zeigen.

In der eigenen Familie und in der Gunst der Eltern hingegen gewinnt ihre Schwester mit ihren drei Kindern, die als fröhlicher und pflegeleichter wahrgenommen werden als ihr Sammy, und als ihr Austausch auf Facebook dieses Anerkennungsvakkuum nicht mehr füllen kann, es immer wieder auch gehässige Kommentare gibt, entdeckt sie YouTube. Die hier online gestellten Videos können mit den von ihr so geliebten Realityshows mithalten und so startet sie hier selbst einen Kanal, wird vom Algorithmus perfekt verstanden, findet ein neues Zuhause. Ihr Vorbild sind verschiedene Kinderkanäle mit Produktpräsentationen. Kimmy, zweites Kind, ist hier der neue Star der ihnen die Türen zu den Herzen und Daumen von Tausenden Abonnenten öffnet. Ihr Mann gibt seinen Job auf, sie richten sich ein Filmstudio ein. Das Zauberwort heißt Unboxing. Zwei bis vier Videos die Woche sind Pflicht. Präsent bleiben eine Notwendigkeit. Geteilte Freude ist Mehrfachfreude.

Wie eins zum anderen kommt kann man bei de Vigan live miterleben. Das Hineinschlittern in eine künstliche Welt die plötzlich zu einem mehr als einträglichen Broterwerb wird. Das Licht, die Schatten. Die Abhängigkeiten. Dazwischen immer wieder Protokollauszüge der polizeilichen Ermittlungen, mittels derer ich einen Blick auf die Videos von Mélanie werfe, vor meinem inneren Auge laufen sie los. Während die Mitschriften der Beamten nüchtern und sachlich für ein Zuspitzung sorgen, die mich auch ärgerlich macht. Kinder sind keine Instrumente auf denen man das spielt was andere hören wollen. Sind kein Mittel zum Zweck.

Für Kinder, die kommerziell als Models oder Schauspieler arbeiten gibt es strenge Vorschriften, auch das Geld betreffend das sie damit verdienen. Bei YouTubern wertet man das hingegen als private Freizeitbeschäftigung. In diesem rechtsfreien Raum gibt es offenbar keine Regeln.

Wer glaubt denn bitte daran, dass sich die betroffenen Kinder frei entscheiden in jeder Lebenslage zu posen? Jeden Tag, in jeder Situation sichtbar sein. Sind die vielen Likes emotionaler Lohn und Bestätigung, der feenhafte Auftritt einer Mutter Kalkül und Unternehmertum oder Kompensation eines Defizites? Diese Fragen stellt sich nicht nur Clara als Ermittlerin im Roman. Ich grüble mit ihr über die Mutter nach die Delphine de Vigan sich da erdacht hat. Über ihr Verhältnis zu ihrer eigenen Mutter. Zu lesen wie abhängig diese YouToube-Kinder von Likes werden. Wie sie sich bei fallender Abonnentenzahl weniger geliebt fühlen ist echt übel!

Aktivisten kämpfen mit Petitionen für die Rechte und die Freiheit dieser Kinder. Noch bewegt sich da aber wohl wenig bis nichts. Money rules the world.

Darauf schaut Delphine de Vigan, ihr Blick gilt dabei zunächst zwei Perspektiven, die der Polizistin Clara und der von Mélanie, der Mutter von Kim und Sam, sie arbeitet sie zunächst als Hauptfiguren aus. Versucht hinter ihre Fassaden zu schauen. In welchen Blasen leben sie? Dann schickt sie uns weiter, auf eine Zeitreise ins Jahr 2031, wo wir Sammy wiederbegegnen, er ist jetzt zwanzig und ich erkenne ihn nicht wieder. Den großen Bruder, den sorgenvollen, nachdenklichen Jungen, der seiner kleinen Schwester mehr als nur eine Flucht ermöglicht zu haben scheint, aus Nebenfiguren werden Hauptakteuere, die Blickrichtung ändert sich …

De Vigan entspinnt ein Was-Wäre-Wenn-Szenario, entwickelt Irrwege und Auswege und ich muss plötzlich an den Film The Trumann Show, an die Verzweiflung von Jim Carey als Hauptdarsteller denken, als er erkennt das seine Wirklichkeit eine Lüge ist und wie eine Seifenblase zerplatzt, da schlägt de Vigan auch schon die Brücke. Ich überquere sie mit ihr und ihren Figuren. Eine Melancholie legt sich auf die Geschichte, die weit mehr erzählt als nur davon, dass ein kleines Mädchen verschwindet. Diese ausgefuchste Autorin überlässt mir immer so unglaublich viele Denkansätze, sie triggert mich auf eine Art und Weise, wie nur sie es kann. 

Sie schreibt eben nicht nur Romane, sondern spannende Augenöffner, mit Figuren wie aus Fleisch und Blut. Holt Tabuthemen ans Licht. Dafür verehre ich sie und dafür wie gekonnt sie ohne zu moralisieren den Finger auf die offenen Wunden unserer Gesellschaft legt. Jedes Mal. Sie ist für mich aus dem Stoff gemacht aus dem Lieblingsautorinnen sind. Harte Kapitelschnitte hallen bei ihr Gedanken und Aussagen hinterher, sie schmerzen mich bis auf die Knochen. Herzen zerspringen und ich schürfe mich auf an ihren Splittern. Nichts geht mehr. Oder vielleicht doch? 

Mein Dank geht an den Dumont Verlag für dieses Besprechungsexemplar.

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