Donnerstag, 04.07.2019
“Im Leben ist man ganz alleine in seinem Kostüm und es ist eben Pech, wenn es zerrissen ist”. (Textzitat)
Ohne Adresse keinen Job, ohne Job keine Adresse.
Im Rahmen einer groß angelegten Aktion, der “Nacht der Solidarität“, zählten im Februar 2018 mehr als 1.700 Freiwillige in Paris “ihre Clochards”. Was für ein romantisch verklärter Begriff das doch ist …
Das Ergebnis der Zählung lag bei 3.000 Menschen, weitere 2.000 konnten in dieser Nacht in Notunterkünften untergebracht werden und wurden hinzuaddiert. Besonders der Winter ist ja eine kritische Zeit, in der das Angebot an Notunterkünften aufgestockt werden muss.
Die Dunkelziffer der in Paris auf der Straße lebenden dürfte aber noch weit höher liegen, so titelte damals die französische Zeitung “Le Monde“, weil bei der Zählung nur die reinen Stadtbezirke abgesucht worden seien, nicht aber die Großbaustellen rund um Paris und auch nicht die Böschungen und Straßengräben am Rande der Schnellstraßen …
Eine Zahl die aufschreckt, die noch dazu einen Anteil an Jugendlichen enthält, der als “stark schwankend” angegeben wird. Man kann zum Teil Angaben finden ihre Anzahl betreffend, die bis zu 20% reicht. Eine meiner Lieblings-Autorinnen hat sich ebenfalls mit diesem Thema beschäftigt …
No & Ich (Delphine de Vigan)
Der Schrei ihrer Mutter hallte durch die Wohnung im fünften Stock. Lou stand in der Tür zum Kinderzimmer und sah wie ihre Mutter ihre kleine Schwester fest an sich drückte, auf dem Boden zusammensank, immer wieder murmelnd “nein, nein, nein” … Wie verzweifelt ihre Mutter versucht hatte noch einmal schwanger zu werden, das Prozedere einer künstlichen Befruchtung über sich hatte ergehen lassen, wie glücklich sie gewesen war als Lous kleine Schwester zur Welt gekommen war. Jetzt lag das Baby reglos in ihren Armen, und auch die herbeigerufenen Sanitäter konnten nur noch seinen Tod feststellen. In den darauffolgenden Wochen begann ihre Mutter das Haus nicht mehr zu verlassen, immer weiter entfernte sie sich von Lou und ihrem Vater …
Lou war gerne hier, am Gare D’Austerlitz, einem der großen Bahnhöfe hier in Paris, immer am Bahnsteig, dort wo man den Menschen zuschauen konnte, die sich hier trafen um Abschied zu nehmen oder auch um sich wieder zu sehen. Sie malte sich gerne aus, welche Geschichten die Menschen mitbrachten und meinte die Luft dicker werden zu spüren, wenn sich hier Paare verabschiedeten, die wussten, diesmal würde es für länger sein.
Ganz feine Antennen hatte sie unsere Mademoiselle Lou, wenn es um das ging was zwischen Menschen passierte. Auch heute sann sie gerade über ein Pärchen nach, das sich nach einer Umarmung voneinander löste, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte, und eine Stimme sie fragte, ob sie eine Zigarette habe. Sie drehte sich um. Ein Mädchen stand vor ihr, ungewaschen, ungekämmt, mager, aber mit wachen Augen und einem hübschen Gesicht unter all dem Dreck. Und so begann mit dieser Frage, ohne das Lou es ahnte, ein neues Kapitel in ihrer eigenen Lebensgeschichte …
Delphine de Vigan, hat sich 2018 als Autorin buchstäblich in mein Herz geschrieben. Ihr noch aktueller Roman Loyalitäten (Rezi ebenfalls auf dem Blog) war mein Lieblingsbuch im vergangenen Jahr. Nicht weil es ein Wohlfühlbuch ist, sondern weil sie so schonungslos auf nur so wenigen Seiten über schicksalhaftes berichten kann, weil sie mich sprachlich zu berühren weiß. Dies ist auch bei No & ich der Fall, auch dieser Roman von ihr ist ebenfalls wieder wunderbar ins Deutsche übersetzt.
Sie stellt uns hier Lou Bertignac vor, 13 Jahre alt, ziemlich klein, aber IQ 116, hochbegabt und wieder Klassenbeste, zwei Klassen hatte sie bereits übersprungen, in der Zehnten ist sie jetzt, aus gutem Hause, wohnhaft in Paris. Ihre Mitschüler nennen sie zwar “Das Hirn”, gehen ihr aber lieber aus dem Weg, irgendwie fehlt Lou halt die Leichtigkeit, die diesem Alter angemessen ist.
No ist das genaue Gegenteil von Lou. 18 Jahre, hübsch unter all dem Schmutz, das Haar verfilzt, die Kleidung löchrig, es fehlt ihr ein Zahn, sie ist obdach- und elternlos, so auf den Straßen von Paris gelandet. Abgeklärt und selbstsicher tritt sie bei ihrer ersten Begegnung auf und zieht Lou damit magisch an. Die beiden treffen sich auf einen Kakao, aus dem für No ein Wodka wird, oder waren es zwei?
Mit ihren nur vierzig Kilo sieht die achtzehnjährige No eher aus wie fünfzehn. Die Fingernägel stark abgekaut, die Hände zitternd, ist sie längst über ihre Grenzen hinaus gekommen, das erkennt Lou auf den zweiten Blick. Ohne feste Adresse laufen alle ihre Bewerbungen ins Leere, gleich ob sie es bei einer der vielen Fast Food Ketten, oder in einem Supermarkt versucht. Ein Teufelskreis …
Der pfiffigen Lou legt de Vigan Sätze in den Mund, die mich staunen lassen. Es war mir eine Freude sie kennen zu lernen. Sie und ihre Leidenschaft, mit der sie die Welt verändern, mir der sie No retten will. Wie sie Zustände, die sie himmelschreiend findet, einfach nicht hinnehmen will, auch dann nicht wenn sie zwischendurch der Blitzschlag der Erkenntnis trifft.
“Denn ich weiß jetzt, dass das Leben nur eine Folge von Ruhe und Ungleichgewichtszuständen ist, deren Anordnung keiner Notwendigkeit unterliegt”. (Textzitat)
Eine Geschichte von Hilfsbereitschaft und Scham. Von einer ungewöhnlichen Freundschaft, von Schicksalsschlägen und davon, wie das Leben mit einem umspringen kann. Von der Kraft, die man für einen Neubeginn fassen muss, von Klugheit und Herzensgüte ebenso wie von Eskalation und Verzweiflung, Tabletten und Alkohol. Davon wie man zwischen zwei Welten geraten kann, zu keiner wirklich gehörend.
Kontinuierlich spitzt sich die Handlung zu, ich halte den Atem an und würde am liebsten wieder einmal zwischen die Seiten springen um einzugreifen …
Wie de Vigan Lous Lebenssicht und Nos Leben darstellt, hat mich echt angepackt. Wie sie das immer schafft! Sie besitzt scheinbar tatsächlich den “Autorenschlüssel” zu meinem Herzen!
“Gewalt ist diese Zeit, die die Wunden verdeckt. Die unerbittliche Abfolge der Tage. Die Unmöglichkeit einer Rückkehr in die Vergangenheit. Gewalt ist das, was wir nicht begreifen. Sie schweigt, sie zeigt sich nicht.” (Textzitat)
Es liest Jennipher Antoni, mit Herz und Verstand, die Unterschiedlichkeit beider Mädels herausstellend. Besonders den schnoddrigen Ton von No hat sie sich gut drauf gebracht. Lou gibt sie einen leicht vorlauten Touch, der sehr charmant und liebenswert ist. So entsteht ein gelungenes Gesamtpaket. Merci an die beiden Damen de Vigan und Antoni für dieses Hörerlebnis!
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