Loyalitäten (Delphine de Vigan)

*Rezensionsexemplar*

“Loyalitäten. Das sind die Sprungbretter, auf denen sich unsere Kräfte entfalten, und die Gruben, in denen wir unsere Träume begraben.” (Textzitat)

Alkohol – Dämon, Genußmittel, Gewohnheits- oder Partydroge. All diese Gesichter hat er und zeigt er in unterschiedlicher Ausprägung. Wer in unserer Gesellschaft bei Feierlichkeiten keinen Alkohol trinkt, steht schnell auch mal am Rand. Mündig, erwachsen und selbstbestimmt schüttelt man da lästige Fragen vielleicht locker ab. Für Jugendliche gilt da eher ein anderer Zwang, will man dazugehören muss man mithalten können. Locker, cool und beliebt sein geht vielfach nicht “ohne”. Es enthemmt ja auch so herrlich. Was aber wenn man übertrieben hat, den Weg aus dieser Falle nicht mehr zurück findet? Ist es dann loyal, wenn Freunde, Eltern und Bekannte die Augen verschließen, wenn sie Dosis und Regelmäßigkeit im Trinkverhalten decken?

Wie agieren wir selbst, wenn uns bei einem Kollegen, Mitarbeiter, Nachbarn, Freund oder Familienangehörigen auffällt, dass in Sachen Alkohol-Konsum etwas nicht stimmen kann. Sich Verhaltensauffälligkeiten zeigen, die nur einen Schluß zulassen? Sind wir mutig genug dann einzuschreiten?

Ab welchem Alter hat man eigentlich ein Empfinden für loyales Verhalten? Wenn Kinder ihre Eltern verteidigen, schützen wollen, was ist das dann? Handeln Sie noch instinktiv oder schon bewußt?

Wenn eines unser Miteinander erdet, dann ist sie es, oder? Die Loyalität, im Beruf, in der Partnerschaft, im Umgang mit Freunden und Familie. Sie ist Fundament und wenn es bröckelt, wird es eng …

Loyalitäten (Delphine de Vigan)

Théo saß jetzt etwa eine halbe Stunde im Treppenhaus vor der Tür zur Wohnung seines Vaters. Alle achtzig Sekunden stand er auf und knipste die Flurbeleuchtung wieder an. Geklingelt hatte er schon, den Vater hörte er auch hinter der Tür rumoren, offenbar war er nicht bereit ihm zu öffnen. Von Woche zu Woche dauerte es länger, bis der Vater ihn rein ließ. Freitags, an dem Tag, an dem Théo jede Woche das Leben wechselte. Mit Sack und Pack, Woche für Woche von der Mutter zum Vater zog. Seit sechs Jahren, seit der Scheidung seiner Eltern und seit dieser Entscheidung des Gerichts zur “geteilten Obhut”, damit der Vater keinen Unterhalt zahlen musste.

Endlich ging die Tür auf und der Vater stand im Schlafanzug vor ihm, ein gelber Fleck im Schritt auf der Hose. Er lächelte ihn verhalten an und gab ihm den Weg in die Wohnung frei, wo Théo seine Arbeit aufnahm. Verkrustete Teller schrubbte, lüftete, die Betten bezog und die Waschmaschine befüllte …

“Er ist das Kind einer Trennung von Tisch und Bett, das Kind von Bitterkeit, unbeglichenen Schulden und Unterhaltszahlungen – er kennt die Regeln der Diplomatie.” (Textzitat)

Das ist mir lange nicht passiert!

In einem Rutsch habe ich diesen Roman von Delphine de Vigan gelesen. Unmöglich war es mir, mich diesem Sog zu entziehen, ich fühlte mich wie mit den Füßen im Treibsand. Zwischen die Zeilen wollte ich springen, Théo da rausholen, seine Eltern empört anschreien, schütteln, ja – ohrfeigen. Ob Ihnen denn nicht auffalle, welche Nadelstiche, welche Wunden und Narben sie seiner noch reifenden Seele beibringen. Sie, die sich selbst nicht aushalten können, ihn abstrafen – nein, keine Angst, hier wird nicht körperlich misshandelt, es geht vielmehr um das, was nicht getan wird.

Seine Lehrerin wollte ich anfeuern nicht aufzugeben zu ihm durchzudringen, ihr Beine und Mut machen. Aber, keiner hört mich! Ich fühle mich als hätte mich ein Bus gestreift!

In der Kürze dieses Romans liegt seine Stärke. Hart holt er aus und er trifft mich mitten ins Herz. Mit zu erleben, wie Théo versucht es allen recht zu machen. Wie ihn Nachts der Tinnitus weckt und wachhält, er im Unterricht einschläft, eine unbändige Sehnsucht danach entwickelt wie der Alkohol den Aufruhr, den Widerstreit seiner Gedanken, seine Angst dämpft. Wie ihn seine Loyalität für Vater und Mutter in einer Ausweglosigkeit gefangen hält, die mir fast körperlich wehtut. Doch den Rausch des Verschwindens zu erreichen, den Eintritt in das “Koma durch Ethanolvergiftung”, hier hat er in Bio besonders gut aufgepaßt und den Rest im Internet gegoogelt, ist schwieriger als gedacht. Immer wird ihm schlecht, kurz bevor er den Punkt erreicht, an dem er niemand mehr etwas schuldet und er muss sich erbrechen. Noch …

Er, das Scheidungskind, ist dabei gerade mal zwölf! Ich fasse es nicht!

An Alkohol zu kommen ist nicht das Problem, es gibt genug Schüler die älter sind. Im Barschrank zu Hause findet man auch genug angebrochene Flaschen, die man mit in die Schule nehmen kann.

Es ist unglaublich, wie es die Autorin schafft, in einer Schlichtheit und Klarheit auf nur 174 Seiten, mittels wechselnder Blickwinkel eine Dramatik zu erzeugen, die mich bis ins Mark erschüttert hat. Die handelnden Figuren verbindet sie dabei geschickt miteinander, bindet sie aneinander. Die Loyalität strahlt dabei in allen Farben.

Wir erleben Ehefrauen, die sich nach loyalen Ehejahren plötzlich betrogen, ausgegrenzt sehen, die  nicht mehr bereit sind dies auch nur noch einen Tag länger mitzutragen ebenso, wie die Loyalität einer Jungen-Freundschaft. Den Mut den es braucht sich einzusetzen, wohl wissend, das das eigene Umfeld, die Eltern nicht mit einem auf der gleichen Seite stehen. Wir können die Verzweiflung, die Machtlosigkeit die Raum greift nur erahnen, wenn wir miterleben das man nicht mehr zu einem Kind durchdringen kann, obwohl man spürt das hier alles aus dem Ruder läuft. Wie knapp es zugehen kann, wenn sich unausweichliches fügt, man den entscheidenden Schritt zu spät ist …

Wenn wir einen Menschen lieben, ist die Loyalität das Licht am Ende des Tunnels wenn es hart auf hart kommt. Aber sie ist auch ein gefährlicher Pfad, ein Balanceakt auf dünnem Eis, dann wenn die Liebe, die Freundschaft uns blind für die Wahrheit macht. Wenn wir uns auf eine Komplizenschaft einlassen, die aufzukündigen nur durch einen endgültigen Bruch möglich ist, droht es uns zu zerreissen.

Dies ist ein Roman der für mich wie ein Blicköffner wirkt, für die Macht die wir alle haben, andere zu prägen, zu halten, zu führen und auch zu verletzen, zu zerstören.

Diese Macht spürt man hier wie einen Faustschlag. Die Macht, die Erwachsene, Eltern und Lehrer Kindern gegenüber haben. Wenn Sie sie mit Worten oder mit Schweigen schlagen. Wir erleben eine Lehrerin die für Theo eskaliert, sich für ihn stark macht ebenso, wie solche denen er “unsympathisch” ist und die ihn in jede Demütigung schicken die ihnen einfällt.

Für dieses Jahr habe ich mein bisheriges Lese-Highlight gefunden. Definitiv und unverrückbar. Wie eine Sturmflut hat er mich mitgerissen dieser Roman, in seinem wundbar reduzierten Gewand. Mein Herz klopft laut und hart gegen meine Rippen, nachdem ich die letzte Seite umgeblättert habe. Er wirft mich auf mich selbst zurück, läßt mich fragen wie wichtig mir Loyalität ist, wie ich mich selbst verhalte, wie mutig ich einschreite oder wie verhalten, wie achtsam ich bin im Umgang mit anderen, mit denen die mir nahe stehen, besonders mit ihnen …

Delphine de Vigan, selbst Scheidungskind, wurde 1966 geboren, lebt mit ihren Kindern in Paris, Sie zählt zu den wichtigsten literarischen Stimmen Frankreichs und hat für ihren Roman “Nach einer wahren Geschichte” 2015 den Prix Renoudot erhalten. Weil sie das mit mir macht, was sie mit mir macht hefte ich ihr einen imaginären Orden an ihr Revere: Petras Lieblings-Autorin 2018!

Nicht vergessen will ich Doris Heinemann, sie hat dieses Kleinod für uns wunderbar ins Deutsche übertragen. Ohne ihre Arbeit wäre ich gar nicht in den Genuß dieser Lektüre gekommen. Merci und Vorsicht – Herzensbuch!

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