Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin (Thomas Meyer)

*Rezensionsexemplar*

Donnerstag, 06.02.2020

Mensch Motti! Fühl Dich gedrückt und Masel tov! Auf Deiner wundersamen Reise in die Arme einer Schickse habe ich Dich begleitet. Mit Dir gelitten, mich mit Dir gefreut, über jeden erfolgreichen Befreiungsversuch aus den Fängen Deiner Mame. Was warst Du verliebt, was hast Du vertraut, dich getraut, bis zum großen Knall ….

Der Schauspieler Joel Basman verkörpert die Rolle des Mordechai Wolkenbruch in der Verfilmung von Thomas Meyers erstem Motti-Abenteuer so, dass ich fortan immer ihn sehen werde. Gleiches gilt für Inge Maux, die die Rolle seiner Mutter ganz großartig verkörpert. Der Autor selbst hat das Drehbuch für diese Verfilmung geschrieben und den Film finde ich grandios gelungen. Das Ende ein Paukenschlag, kein Wunder also, dass ich wissen wollte, wie es Dir jetzt geht, Motti und was hast Du argloser Kerl denn jetzt bitte mit einer Spionin und der Weltherrschaft zu schaffen hast?!

Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin von Thomas Meyer

Hier bist Du also gelandet, Motti. In einem Kibbuz, in Israel, zwischen Geröll, Hühnerdreck und Apfelsinen. Die Jungs hier sind irgendwie schräg drauf. Erst machen sie einen auf Willkommens-Kultur, dann nehmen sie dir Pass und Handy weg. Besser sei es, nicht zu kommunizieren, von wegen Abstand zu deinem alten Leben und so. Du glaubst ihnen, sie sind nett. Endlich ist auch dieser Druck weg, der auf dir lastet, niemand will dich mehr unter die Haube bringen. Zu Hause hatte es zuletzt deswegen einen heftigen Streit gegeben. Gut, auch wegen deiner Affäre mit der Schickse, deine Mame hat dich raus und dir deine Klamotten hinterher geworfen, und dann hat dich deine Auserwählte auch noch eiskalt abserviert.

Zwischen Jaffa-Orangen, Hühnerfutter und Hausarbeit, dein Tag erhält jetzt eine neue Struktur und du lernst wie man Apfelsinen pflückt. Schon am zweiten Tag im Kibbuz stehst du auf der Leiter, den Kopf in der Krone eines fünf Meter hohen Baumes. 

Trotz lästiger Alltagsaufgaben fühlst du dich hier selbstbestimmt und frei, ich atme mit dir auf, bis dich deine neuen Kumpels des Diebstahls bezichtigen, dich sogar einsperren. Dir den Schlaf entziehen, dich matern, sich dann enttarnen und dich für würdig finden, sie zu führen …

Für einen zweiten Handlungsstrang holt Meyer weiter aus. Er beginnt 1945, stellt uns vor ein hohes Stahltor, das sich quietschend öffnet, eine unheimliche Szenerie tut sich vor uns auf, als es den Eingang zu einer Bergfestung in den Alpen freigibt. Ein weitläufiges Stollensystem durchzieht diesen Berg. Die Männer und Frauen, die sich hierher zurückgezogen haben, haben zum Schluss nicht mehr an den Endsieg geglaubt und gerettet was noch zu retten war, bevor die Sieger es sich holen konnten. Waffen, Benzin und was man sonst noch so brauchte, wenn man ausharren wollte, um Pläne zu schmieden, um daran zu arbeiten, wie man Deutschland zurück erobern konnte und danach die Welt …

Social Media, Smartphones und Internet. Instrumente die wertvoller sind als jede gezogene Waffe und jedes Attentat, um des Volkes Meinung in die gewünschte Richtung zu lenken. Mir wird flau. Eine Schwadron von Agenten sorgt für Kommentare im Netz, “die falsche Nachricht” wird geboren, fake news at it’s best. 

Willkommen bei den “verlorenen Söhnen”. Ein Geheimbund. Entführung, Schlafentzug, Folter, Verschwörung und Zwangsarbeit. Diese Kibbuz-Gemeinschaft hat es in sich, sie tritt an gegen einen Berg voller Alt-Nazis, mir vergeht Hören und Sehen, während ich diese beiden Handlungsebenen erlebe.

Wie Meyer seine beiden Handlungsstränge wohl zusammenführen wird und ob überhaupt, habe ich mich gleich zu Beginn schon gefragt. Nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich liegen sie meilenweit auseinander. Zwei Parteien, die einander nicht feindlicher gesonnen sein könnten, sind die Akteure, die mit unterschiedlichen Methoden und langem Atem das gleiche Ziel anvisiert haben und es geht, wie schon Eingangs erwähnt, um nichts geringeres, als um die Weltherrschaft.

Ein bisschen haarsträubend, ein bisschen an den Haaren herbei gezogen, dann aber auch wieder mit so erschreckend realen Tatsachen garniert, das ich zusammenzucke, nimmt mich Meyer mit in dieses extraordinäre Abenteuer. Nicht alles muss man ernst nehmen, aber man kann.

So ist das mit Autoren, die es auf die sprichwörtliche Spitze treiben. Die überzeichnen mit klaren Konturen, die scharfzüngige Texte fabrizieren, aufscheuchen, überraschen, deshalb sind SIE genau mein Ding. Wenn dann auch noch Humor und Ironie durch die Sätze flitzen, bin ich in jedem Fall dabei. So wie bei Timur Vermes und seinem “Er ist wieder da” zum Beispiel. Oder auch bei ihm: Thomas Meyer. Er macht schriftstellerisch was er will, sagt er. An dem was gefallen könnte orientiert er sich nicht. Gerne beschäftigt er sich mit dem was “jüdisch sein” für die anderen bedeutet. Er selbst hat jüdische Wurzeln und hat im Alltag häufig erlebt, das die Anderen immer genau zu wissen scheinen, wie man zu sein hat, wenn man Jude ist. Dieser Haltung begegnet er mit solchen Texten. Die unverblümt und unverfroren sind und warum soll er Motti denn nicht nach der Weltherrschaft greifen lassen? Das haben auch schon andere versucht …

Euch ist das zu weit her geholt? Zwischendurch hab ich auch mal gezweifelt. Als sich dann aber eine modifizierte Amazon Alexa in das Geschehen einmischt, bin ich schwer beeindruckt. Das kann klappen, vielmehr könnte, wenn da nicht, die Meyer-Fans ahnen es schon, Mottis Mama wäre …

… und lasst Euch ja nicht täuschen von Witz, Seitenhieben und Klischees, in dieser Story steckt mehr als EIN wahrer Kern. Im Quellennachweis von Meyers Nachwort habe ich etwas gefunden, was mich sehr nachdenklich zurück lässt. Alle Facebook-Posts, die im Roman zitiert sind, sind echt, da klopft mir das Herz bis zum Hals, mir fällt da nix mehr ein, Herrn Meyer schon: 

“Ich fürchte, das größte Menschenbedürfnis ist es nicht, zu lieben, sondern schlecht über andere zu denken. Wie lassen sich sonst der Antisemitismus erklären und der politische Erfolg jener Scheusale, die explizit auf diesen Nerv drücken?”

Zitat Thomas Meyer

Thomas Meyer, geboren 1974 in Zürich, studierte Jura und brach ab, um als Texter und Reporter zu arbeiten. Er lebt in Zürich, ist als Allroundtalent seit 2007 selbstständig. Mit seiner Widmung, die sich an eine verstorbene Buchhändlerin richtet, die ihm eine Wegbereiterin gewesen ist, hat er mich berührt, diese seine Demut sucht ihresgleichen und macht ihn ungeheuer sympathisch.

Meyer liest  die Hörbuch-Fassung seines aktuellen Romans in 323 Minuten selbst ein. Eine jede davon habe ich genossen! Er rollt das “R”, sein Akzent ist kratzig charmant, die jiddischen Einsprengsel kommen hier seltener als im ersten Motti-Roman, aber sie kommen und die Abenteuer seines Helden Mordechai Wolkenbruch sind herrlich abstrus.

Ein Hauch von Woody Allen weht durch dieses Abenteuer, überdreht ist es bisweilen und nicht jeder wird lustig finden, was er hier zu hören kriegt. Sehr ironisch geht es zu und das “gute Stück” ist deshalb verdient, für den Deutschen Hörbuchpreis nominiert, Kategorie “Beste Unterhaltung”.

Im Wettbewerb startete Meyer gegen gleich zwei vorlesende Schauspieler, beide mit Namen Matthias. Matthias Matschke und Matthias Brandt. Seit heute ist die Katze aus dem Sack: Meyer wurde aus dem Feld geschlagen von Matthias Matschke. Der laut Jury eine unsympathische Figur durch seinen Vortrag zu einem Sympathieträger gemacht hat. Das ist bei Meyer nicht notwendig, denn sein Motti ist längst einer, ein origineller Sympathieträger noch dazu, der dank Meyer eine eigene Stimme hat. Was ist mit Euch? Seit Ihr mit der Jury einer Meinung? Oder habt Ihr so wie ich, einen anderen Liebling …

Als kleine Entscheidungshilfe (verlinkt nach Klick auf das Cover) hier noch einmal zusammen gefasst meine Besprechungen zu allen drei Kandidaten der Endrunde:

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