Holz. Bleich und trocken wie Knochen. Das Leben ist aus ihm gewichen und trotzdem fasziniert es noch. Was würde ich erfahren, könnte es mir erzählen was es gesehen hat? Auf seinem Weg hierher. An das Ufer eines Bergsees. Ich halte ein Aststück in meiner Hand, drehe es. Würde ich staunen? Hat es Furcht erlebt, Hunger, Kälte und Entbehrungen oder auch Freude und Erinnern? So wie Thomas Hettche, dem ich in seiner neuesten Geschichte auch auf einen Berg gefolgt bin. In die Schweiz.
“Stille ist das was wir spüren, wenn etwas unsere Träume zerreißt.“
Textzitat Thomas Hettche Sinkende Sterne
Sinkende Sterne von Thomas Hettche
Vergessene Playmobilfiguren, unentschiedene Wassertropfen im Bad. Vergessenes aus einer Zeit die man geteilt hat. Die Hinterlassenschaften eines Lebens. Erinnerungen an Sommer, in denen der Vater für ihn die Zeit angehalten hatte.
Geflohen aus dem Elternhaus, nicht gerade viel Kontakt hatte es mehr gegeben. In den Jahren, die verstrichen waren und auch zuletzt nicht, als der Vater, dem die Mutter schon in den Tod vorausgegangen war, zum Pflegefall geworden war. Auch die Beerdigung des Vaters hatte er nicht miterlebt und jetzt empfingen Soldaten, in diesem Frühling, in dem er zurückgekommen war um den Nachlass der Eltern zu regeln.
Der Zugang zum Wallis war mittlerweile reglementiert. Es hatte kürzlich ein Unglück gegeben und Tote. Ein Bergsturz hatte mehrere Orte beerdigt, die Rhône am Ende dieses Tals aufgestaut zu einem See, der jetzt glitzernd in der Sonne lag, als sei er schon immer da gewesen. Nicht mehr da waren die Bewohner des Ortes, an dessen Rand ihre Hütte lag und die Brücke, die das Tal mit der Außenwelt verbannt. Sie hatte man gesprengt?!
Thomas Hettche, geboren am 30. November 1964, Schriftsteller und Essayist hat sich mit seiner Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2020, Shortlist und seinem Roman Herzfaden in mein Leseherz geschrieben. 2014 stand er schon einmal auf dieser Shortlist mit Pfaueninsel (diese Geschichte von ihm habe ich noch in meinem Lesevorrat!) und auch 2010 befand er sich unter denen, die für den Deutschen Buchpreis in die engere Wahl kamen, war loglistet mit Die Liebe der Väter. Dieser Autor und Dauergast unter den Nominierten für den Deutschen Buchpreis geht regelmäßig Risiken ein mit der Art und Weise wie er sich einen Stoff vornimmt. So erzählte er in Herzfaden nicht nur die Geschichte der Familie Oehmichen und damit die der Augsburger Puppenkiste, sondern gleich auch ein Stück deutscher Geschichte, wie aus der Deckung und mitten ins Herz. Kitschfrei und großartig. Tatsächlich vermisse ich diesen Titel auf der diesjährigen Longlist und feiere ihn drum hier!
Sinkende Sterne ist ein eigenwilliges Buch geworden. Eines mit viel Rückschau. Auf Zugehörigkeit, den Verlust von Bindung und auf Hettches Beziehung zu seinen Eltern, die er autofiktional aufarbeitet. Wer jetzt denkt, es könnte rührseelig werden, der liegt bei Hettche falsch. Mit den Geistern der Vergangenheit geht er auf seine Weise um und zwar in Form ganz besonderer fantastischer Ausflüge und das man so manches Mal zweifelt, was noch wahr ist und was nicht. Was Methode ist und Absicht und wunderbar. Wie schon bei Herzfaden habe ich mich für die Hörbuch-Fassung entschieden, sie ist ungekürzt erhältlich als digitaler Download beim Argon Verlag (vielen Dank an dieser Stelle für das mir zur Verfügung gestellte Hörexemplar). Es liest:
Thomas Sarbacher, Schauspieler, geboren am 25. Januar 1961 in Hamburg, lebt mit seiner Familie heute in Zürich, ist mir persönlich besonders durch seine Darstellung markanter Persönlichkeiten präsent. Seine Stimme ist nicht minder unverwechselbar, sie und die Art seines Vortrages sind fraglos ein Gewinn für Thomas Hettches Sinkende Sterne. Rund 5 Stunden und 40 Minuten war ich mit Sarbacher in den sich überstürzenden Ereignissen dieser Geschichte unterwegs, die ganz leise und etwas wehmütig beginnt, genauso ausklingt und froh darüber, dass er mich bei der Hand genommen hat. Kundig führte er mich, ließ mich nie den Faden verlieren. Weil ein wenig Konzentration ist schon gefordert, will man hier hörend hinterherkommen.
Schon als ich mit Thomas Hettche im Chalet seiner Eltern ankomme, bin ich seinem Erzählen verfallen. So szenisch sind seine Erinnerungsbilder, so herrlich seine vergleichenden Beschreibungen. Seine Prosa ist warm, sie umhüllt mich, obwohl ein Sturm mich in dieser Geschichte empfängt. Als mich die Holzhütte einlässt, scheint in ihrem Inneren die Zeit stehen geblieben zu sein. Ein alter Nassrasierer im Bad und vergessenes Spielzeug sind die Zeiger auf der Uhr dieser Tage, die verblasst waren und jetzt als innere Bilder wieder aufleuchten.
Eine drohende Enteignung, Abschottung, Nicht-Wallisern wird ein Bleiberecht verweigert. Das geht jetzt und man staunt. Nicht schlecht.
Hettche ist ein dystopischer und gleichzeitig gegenwärtiger Roman gelungen und wie er seine Was-Wäre-Wenn-Fragen stellt und sie mit seiner persönlichen Geschichte verbindet, sich als den erlebenden Erzähler einbaut, finde ich genial.
Alles verändert sich, nachdem durch den Felsrutsch ein fünfzig Meter hoher Damm entstanden ist, und man die Grenze die sich so gebildet hat als Chance, nicht als Krise begreift. Ihn stehen lässt, statt die Steine wieder abzutragen. Was daraus erwächst ist beängstigend und faszinierend zugleich. Man hält nicht mehr auseinander was Ursache und was Wirkung ist und es spielt auch keine Rolle. Die Veränderungen die in Gang kommen scheinen nicht aufhaltbar. Ein Notar klärt Hettche und uns auf, der nicht mehr verkaufen will aber muss und in einem Moment plötzlicher Klarheit entscheidet, ganz im Wallis bleiben zu wollen. Dort wo jetzt dieser bewachte Damm die deutsche von der französischen Sprachgrenze auch körperlich trennt. Wo die Anreiner des hinzugewonnenen Sees sich als die künftigen Herren über das Wasser sehen, wo doch überall auf der Welt die Wälder brennen und die Flüsse versiegen.
Sennerinnen, Gletscher und arme Seelen. Eine leere Wohnung in der Stadt, ein verlorener Job und gleichmütiges Wasser. Heuschrecken und Brot aus dem Holzbackofen, Schnee schon im November, Bilder vergangener Tage vermischen sich mit einem sehr kritischen Blick auf Zukünftiges, das Wachstum der Weltbevölkerung und unseren Umgang mit Ressourcen. Auf das was wir verlieren und gewinnen könnten, wäre etwas mehr Achtsamkeit in der Welt verblieben. Für uns, die Natur, für das was uns am Leben hält. Vernunft vielleicht.
“Wenn wir lesen, Jamil, sagte ich leise, ist das so als als ob wir jemanden ansähen. Wir schauen einem Fremden ins Gesicht und Fremdheit ist fast das Wichtigste an Literatur.”
Textzitat Thomas Hettche Sinkende Sterne
Und darum geht es in Sinkende Sterne auch,wie könnte es bei einem leidenschaftlichen Schriftsteller auch anders sein: Um Literatur, das Übersetzen, um Verantwortung bei der Suche nach Entsprechungen für Begriffe, die wir heute als rassistisch empfinden, sie tilgen aus einem Text. Ich denke an Michael Ende und Astrid Lindgren, deren Geschichten Kinder heute nicht mehr unzensiert lesen können. Manchmal ist der Glanz eines Wortes wichtiger als seine Exaktheit, schreibt Hettche. Ich fühle das sehr und stimme ihm innerlich zu, derweil ich einen Einblick in die Anfänge seines Schreibens erhalte, Ausflüge mit ihm in die Odyssee unternehme. Es wird analysiert und theoretisiert, ich begegne Sheherezade, einer der Stimmen aus Tausend und einer Nacht. Erfahre vom Traum das Erzählens, vom Raum des Erzählens und von seiner Macht. Erlebe mit wie es ist, nach langer Zeit wieder mit dem Füller zu schreiben, staunend auf die eigene Handschrift schauend, vergewissernd, dass Wörter die so niedergeschrieben sind, genau da bleiben wo sie sind.
Die Hitze bricht und der Sommer geht. Eine Frist läuft ab. Den Bergen grollt ein Gewitter.
“Literatur stillt unsere Sehnsucht nach einer Wahrheit die es nicht gibt und alles was sie dabei an Erkenntnis bietet, bietet sie in der Zeit.”
Textzitat Thomas Hettche Sinkende Sterne
Seine Geschichte habe ich als anspruchsvoll erlebt, aber auch als ungemein interessant, habe Elemente des magischen Realismus, literaturtheoretisches, kombiniert mit autofiktionalem genossen. Ihrer Nachwirkung nachgespürt, auch ihres Schlusses wegen.
Fieberträume. Romangestalten. Schemen. Leise, manchmal traurige Töne verklingen in einer stillen Landschaft. Es ist Zeit zu gehen. Das Herz aber will bleiben.
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