Chor der Erinnyen (Marion Poschmann)

Die griechische Mythologie kennt drei Rachgöttinnen: Alekto (Die Unaufhörliche), Magaira (Der neidische Zorn) und Tisiphone (Die den Mord Rächende, oder Die Vergeltung). Man nannte sie die Erinnyen, lese ich beim großen W, die Römer bezeichneten sie als Die Furien und spätestens wenn wir das hören, macht es bei uns Klick, nennen wir doch bis heute eine Frau die rasend ist vor Wut “Furie” …

Chor der Erinnyen von Marion Poschmann

Es ist noch früh, die erste Tasse Kaffee noch nicht getrunken, Mathilda hat die Nacht noch nicht abgeschüttelt, als es klingelt. Sie hat sie ewig nicht gesehen, jetzt steht sie vor der Tür, mit Croissants in der Hand. Birte und sie sitzt schneller an ihrem Küchentisch als Mathilda sich umdrehen kann. Als wäre das selbstverständlich. Im Handumdrehen hat sie sich auch eingeladen für Mathildas als Auszeit mit einer Freundin geplantes Wochenende.

Erstens kommt es anders und zweitens als Frau denkt, könnte man meinen. Also ich tue es und es kommt auch genau so. Anders. Als erwartet. Im allerbesten Sinne.

Marion Poschmann, geboren am 15. Dezember 1969 in Essen, lebt und schreibt heute in Berlin, die von ihr veröffentlichten Romane und ihre Lyrik wurden mehrfach preisausgezeichnet. Im September 2017 erschien im Suhrkamp Verlag ihr Roman Die Kieferninseln, in dem sie uns von einem Deutschen erzählt, der Hals über Kopf aus seiner Ehe nach Japan flüchtet, weil er geträumt hat, seine Frau betrüge ihn und sie darauf angesprochen, “komisch” reagiert. An einem Tokyoter Bahnsteig begegnet er einem Mann, der sich das Leben nehmen will. Im Bestreben, den Selbstmörder von seinem Plan abzubringen, bricht er mit dem jungen Japaner auf, um einen besseren Platz für dieses Vorhaben zu finden als eben diesen Bahnsteig. Ziel ihres gemeinsamen Weges sollen die Kieferninseln in der Bucht von Sendai sein.

Rund sechs Jahre nach den Kieferninseln legt Marion Poschmann jetzt nach und erzählt uns unter Zuhilfenahme von Elementen des magischen Realismus die Gegengeschichte, oder eher die Parallelgeschichte zu ihren Kieferninseln. Am 11.09.2023 ist dieser neue Coup von ihr ebenfalls bei Suhrkamp erschienen, ich darf mich an dieser Stelle herzlich für das Besprechungsexemplar bedanken.

Ins Zentrum stellt Marion Poschmann diesmal die Ehefrau des in haltloser Verzweiflung nach Japan Geflohenen, sie heißt Mathilda, ist Studienrätin für Mathematik und Musik und hat augenscheinlich keinen Schimmer, warum ihr Mann auf und davon ist, scheint sich damit aber auch nicht wirklich aufzuhalten.

Die Lorely, ein Entenhaus in Form einer Pagode. Blätter auf dem Wasser. Haltlosigkeit und die Gewohnheit des Falls.

“Abwesenheit. Die anwesenden Dinge zeigten nicht sich selbst, sie ließen das hervortreten, was fehlte.”

Textzitat Marion Poschmann Chor der Erinnyen

Festnetzanschluss vs. Mobilfunkgerät. Erreichbar, so oder so. Wartend. Abwartend. Vermissend vielleicht. Zornig eventuell. Alarmiert. Unruhig. In jedem Fall.

Niemand kann einfach so ablassen von Gewohnheiten. Sie am allerwenigsten. Oder doch? Von ihrem Mann? Wenig vorstellbar.

Ich irre durch die Seiten. Zwischen einem Wald der brennt und einem Leben in Flammen sehe ich die Hand vor Augen nicht mehr. So wie Mathilda. Fühle sie sehr. Ihren Wunsch nach Zugehörigkeit. Ihr Streben nach Abstand. Ihre Fragen. Besonders die, die sie nicht stellt.

Über viele Dinge macht Mathilda sich Gedanken. So vieles bedenkt sie, so wenig nicht, während ihr entgleitet was sie sicher glaubte. Die Beziehung zu ihrem Mann, das selbst dieser Wendepunkt an dem sie jetzt steht, der sie aus ihrem braven, geordneten Leben führen könnte, nicht auf ihrer eigenen Entscheidung gründet.

Mit großer Vorfreude bin ich in diese Geschichte gestartet, hatte ich doch bereits Die Kieferninseln gerne gelesen. Klickt auf das Cover für meinen damaligen Beitrag, wenn ihr mögt.

Erwartet hatte ich bei den Erinnyen, die Sprachmagie für die Marion Poschmann verehrt wird (auch von mir), wieder erlesen zu dürfen, wie schön diesen Scheck erneut einlösen zu können. Wunderbar ausbalancierte Sätze kann man finden, nicht wenige davon markiere ich mir. 

Zudem nimmt diesmal ein ganz feiner, hintergründiger Humor ihren Situationen die Spitze. Das war für mich völlig unerwartet und ich habe es sehr genossen. Zeile für Zeile. Ein Humor, der gut und gerne von einer Elke Heidenreich stammen könnte. Er greift an vielen Stellen, dann etwa, wenn Mathilda vom Aufwachsen mit ihrer Mutter erzählt, von ihrer Unduldsamkeit, ihrer Strenge und Zwanghaftigkeit, die ihr förmlich die Luft nahm. Hier verneige ich mich vor Marion Poschmann, vor ihrer Eloquenz und davor, wie sie diesen Text, den ich sehr sehr gerne auf der Longlist des Deutschen Buchpreises gesehen hätte, mit einer Leichtigkeit versieht, die mir große Freude gemacht hat. Sie kommentiert in Gedanken, also eigentlich Mathilda, lässt dabei tief blicken ins Innere ihrer Figur. Nichts kommt von nichts.

Man kann ihre aktuelle Geschichte lesen ohne Die Kieferninseln zu kennen, ich für meinen Teil bin aber froh, dass es bei mir anders ist, so ergibt sich ein Erzähl-Ensemble das ein größeres Verständnis ermöglicht, betrachtet man die Beziehung beider Protagonisten. Wie gut kennt man im Grunde seinen Partner? Wieviel Lebenszeit verstreicht nebeneinander statt gemeinsam? Wieviel teilt man wirklich? Wieviel auch von sich mit?

“Wertvoll sind jene Dinge, die uns entgleiten, die uns aus den Händen rinnen, die spätestens in diesem Moment keine Dinge mehr sind.”

Textzitat Marion Poschmann Chor der Erinnyen

In regelmäßigen Abständen finden sich in Marion Poschmanns Text poetische Verse ein, perfekt für einen Lyrik-Fan wie mich. Passagen die gespenstergleich anmuten. Gedankenversponnen. In eigene Wortschöpfungen gehüllt. Verse die inneren Widerhall erzeugen, eine Nachdenklichkeit, die mir, die sich  permanent zurücknehmende, kühle, Mathilda nahe kommen lassen. Ihre Sehnsucht, als himmelsstürmend bezeichnet Poschmann sie. Ihr Hinterfragen, dass mir wehmütig vorkommt und vermissend. Wenig ärgerlich.

Dabei hätte sie dazu allen Grund. Diese Birte, die sich ihre Freundin nennt, ist die pure Missgunst und auch mit ihrer Mutter, die was Dominanz angeht, nicht zu überbieten ist, muss Frau erstmal klar kommen. Mathilda tut das. Klaglos und beherrscht.

Ein Wald brennt, drei Frauen eint der Neid. Marion Poschmann zieht ihrer vernünftigen Heldin den Teppich unter den Füßen weg. Die kämpft noch mit ihren Gewissheiten, glaubt selbst Tage nach dem Verschwinden ihres Mannes, der wird wieder auftauchen. Alles wird sich klären. Warum sich Gedanken machen? Verdrängt sie, oder ist sie so lässig? War sie das auch im Laufe ihrer Ehe?

Viel lässt sich hinein lesen in diese Geschichte, und auch viel heraus. Es vollständig wiedergeben? Unmöglich. Obwohl sich die Kernhandlung rasch zusammenfassen ließe, weitet sich der Text, verliert zunehmend an konkretem Verlauf. Es geht um Abstand zu den Dingen, um Anstand und philosophische Grundsatzfragen. Salopp hingeworfene Sätze, lassen tief blicken, teils in die griechische Mythologie, teils in den Abgrund. In den, der sich zwischen Menschen auftut. Oft.

Wie viel Traum ist Wirklichkeit und wieviel Wirklichkeit Traum? Poschmann spielt mit mir. Mit ihrer Hauptfigur. Ihrer Sicht und ihren Überzeugungen.

Wie mag sie das wohl auflösen? Frage ich mich. Werden der wandernde Bartforscher aus den Kieferinseln und die Musiklehrerin einander wieder begegnen? Am Ende.

Am Ende ist es immer wieder Poschmanns Sprache die mich einfängt und vereinnahmt. Ganz und gar. Poetisch, tiefgründig, mal sanft, mal düster. Die Bilder, die sie in mir entstehen lässt. Die Metaphern, die sie wählt, die Komposition ihrer Sätze, die wirken wie im Feuer geschmiedet und doch so leicht sind. Ich lasse los und mich ein. Spüre Mathildas Angst, die Zweifel, der nach außen so tough wirkenden Frau, in der es tobt und wirbelt. Erlebe großes Erzählkino auf engstem Raum. Vermisse nichts und doch auch Mathilda, am Ende der letzten Seite angekommen. Wäre ihr gerne Freundin gewesen. Inmitten ihrer inneren Wirren. Hätte ihr beigestanden. Gegen das Gestern, im Heute, für morgen. Doch. Ja. Eindeutig. Auch und besonders in diesem rätselhaften, ungewissen Sinne der mir hier geboten wurde. Herrlich! Da klopft mein Leserinnenherz gaanz laut!

Verfasst von:

Schreibe den ersten Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert