Eine Reise in die Vergangenheit. Eine Reise in die Kolonialzeit, in die Vergangenheit unseres Sprachgebrauchs. Es fühlt sich sonderbar an und ich zucke zusammen, wenn ich in diesem Text das N-Wort lese. Der Verlag stellt in einer Vorbemerkung klar, man habe sich entschieden in dieser Übersetzung die Sprache des Originals beizubehalten. Man wollte in keinem Fall die Brutalität der rassistischen Haltungen innerhalb der Erzählung im Deutschen beschönigen. Mich hat alleine dieses Vorwort schon aufgewühlt und ich entscheide mich auch zu versuchen hier gleichauf zu bleiben. Das besagte Original erschien erstmals 1947 und sein Autor, René Maran, dem man das Etikett “unvergleichlich” angeheftet hat, so Mohamed Mbougar Sarr, Preisträger des Prix Goncourt von 2021, in seinem Nachwort, transportiert den Wunsch “ein Mensch wie jeder andere” zu sein. Dafür nutzt er als Erzähler, Held und Hauptfigur Jean Veneuse und Sarr fordert uns auf Maran “genauer zu lesen”. Ob ich genau genug war mit meiner Lesart, vermag ich nicht zu sagen, was ich sehr wichtig finde ist, dass Claudia Marquardt mit ihrer Übersetzung von Marans Text zwar sorgsam die Zeilen abgestaubt, ihm seinen an diese Zeit erinnernden Ton aber ganz famos erhalten hat.
“Der Himmel und das Wasser. Auf dem Wasser das Schiff. Soweit das Auge reicht, ist das mehr blau. Der Himmel ist, soweit das Auge reicht, ein Meer aus Luft. Am Horizont, wo sie sich treffen, verwechselt man das eine leicht mit dem anderen.”
Textzitat René Maran Ein Mensch wie jeder andere
Ein Mensch wie jeder andere von René Maran
In den 1920zigern. Bordeaux.
Es ist soweit. Er geht an Bord. Seine Reise, nein, seine Flucht wird ihn, soll ihn, nach Afrika führen. Er muss sie vergessen. Andrée Marielle. Sie beide haben nicht die gleiche Hautfarbe und das entscheidet einfach über alles. Immer. Er hat es nie anders erfahren, gleich wie sehr er sich mühte. Belesen, kultiviert, Einer von ihnen zu werden. Ein Franzose.
Es ist kalt in Bordeaux. Der Himmel schwer wie Blei, die Menschenmenge dicht am Kai. Man winkt mit weißen Taschentüchern denen hinterher, die Freunde und Familie jetzt schon vermissen. So wie Jean Veneuse. Bald wird es finster sein auf offener See und er allein unter Fremden. Was er im Moment einer tiefen vermissenden Verzweiflung nicht ahnt: Er bleibt nicht allein. Ein alter Freund aus Kindertagen und seine frisch Angetraute sind ebenfalls an Bord und die beiden haben eine Frau in ihrem Kielwasser, die ganz eindeutig eine Schwäche für den wehmütigen Jean zu haben scheint …
René Maran, geboren 1887 in Martinique wuchs in Bordeaux auf, verstarb 1960 in Paris. Sein Roman “Ein Mensch wie jeder andere” gilt als sein bedeutendster und lag ihm nach Verlagsangaben besonders am Herzen, auch wenn er 1921 für eine andere seiner Veröffentlichungen, “Batouala“, mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet worden ist. Maran war der erste Schriftsteller schwarzer Hautfarbe, der diese Auszeichnung erhalten hat und gilt als Revolutionär der literarischen Landschaft seiner Zeit. In seinen Romanen agieren Schwarze Protagonisten und neben seinen Erkundungen, welche Verwüstungen der Kolonialismus hinterlassen hat, beschäftigte ihn in seinem Schreiben, wie erlittener Hass in Selbsthass umschlagen kann. Die vorliegende Ausgabe aus dem Verlag Elster & Salis (ich bedanke mich an dieser Stelle rechtherzlich für das Rezensionsexemplar, auch bei dem Team von Kirchner Kommunikation), ist seit 04. September 2023 in deutscher Erstübersetzung erhältlich.
Dakar. Bunt. Laut. Der erste Landgang nach gut einer Woche. Dann weitere Häfen. Immer mehr Passagiere steigen aus. Auch Jeans Freund. Es fühlt sich an wie ein Abschied auf Raten. Von Frankreich. Von seinem Leben. Ein Schild weist darauf hin, das hier in Französich-Westafrika Schwarze nicht geschlagen werden. Hier nicht, aber sonst auf der Welt schon?!
Zwischen den Avancen, die dem belesenen und kultivierten Jean an Bord gemacht werden, stolpert man immer wieder über solche Steine. Sie liegen im Text im verstreut wie Hindernisse. Sind so schwer, dass man sie nicht wegräumen kann. Stilistisch nutzt Maran sie um uns Leser:innen aufzuzeigen, wie unüberwindlich in jener Zeit Rassenschranken und Vorurteile waren. Ein Kunstgriff, über den auch die etwas blumige Leichtigkeit des Textes nicht hinwegtäuschen kann, im Gegenteil, sie kontrastiert großartig.
Maran holt weit aus und entführt uns in wunderschönen Sprachbildern in den Kongo. Zeitweilig erinnerte er mich an Ann Petry, die ich als weibliche Stimme und deren Sicht auf alltagsrassistische Themen ich sehr schätze. René Maran konfrontiert uns mit einer verbotenden Liebe, einer Liebe die damalige Konventionen nicht zu überwinden vermochte. Er bindet Briefwechsel ein, die Gedankenströme eines Jungen, der mit drei oder vier Jahren von den Antillen nach Frankreich kam. Seine Heimat im Grunde nicht erinnert, aber auch in der Fremde keine neue gefunden zu haben scheint.
Marans Hauptfigur heißt Jean Veneuse, ist gebildet und wird wohl auch wegen seiner Hautfarbe von seinen Dienstherren gerne in Afrika eingesetzt. Seiner Hautfarbe kommt im Roman soviel Bedeutung zu, dass wir davon bereits im ersten Satz erfahren und es darf in der Folge keinen Zweifel geben. Keinen Zweifel daran, wer hier in wessen Spiegel schaut. Wo die Schranken zwischen den Ethnien verlaufen. Was gar nicht so klar ist, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag und der schriftstellerischen Brillianz von Maran geschuldet ist. Er dreht den Spieß mehrfach und immer wieder stellt sich die Frage neu, wie sehr verinnerlicht man andauernde Erniedrigung und geäußerte Vorurteile so, dass man sich selbst nicht mehr spürt. Nur noch Projektionsfläche ist. Projektionsfläche von Hass, Missgunst und Erniedrigung, gegen die man ein Leben lang anbrandet. Gleich wieviel man lernt, gleich wie sehr man mit Fleiß wettzumachen sucht, was andere liegen lassen. Die Anerkennung unter eigentlich Gleichen bleibt einem verwehrt.
Das zu erleben und zu erlesen schmerzt auf eine tiefgehende Art, besonders in dieser Beiläufigkeit mit der hier passiert was passiert. Worte treffen wie vergiftete Pfeilspitzen und infizieren einen Menschen mit dem Wundbrand des Selbsthasses, der alles verzehrt.
Stilistisch darf man sich dabei auch auf wunderbare Naturbeschreibungen freuen. Was für mich eingedenk der Thematik völlig unerwartet und einzigartig war. Melancholisch bin ich mit Jean auf der Jagd nach dem Horizont, poetisch unterwegs zwischen den Zeilen. Finde gemeinsam mit ihm Trost in der Literatur. Staune über seine Belesenheit, seinen unstillbaren Durst, wenn es um kluge Texte und große Denker geht.
Bildgewaltig und zugleich voller Poesie fängt Maran seine Szenen ein, unnötig zu sagen, wie sehr mir das gefallen hat. Wie sensibel seine Hauptfigur auf die Welt und die ihn umgebenden Dinge schaut, wie ausgeprägt sein Sinn für die Schönheit ist, die sich in Kleinigkeiten manifestiert!
Marans Übersetzerin Claudia Marquardt hat dafür wunderschöne und teils herzzerreißende Entsprechungen im Deutschen gefunden. So entstehen klangvolle Satzbilder, ich mir teils auf der Zunge zergehen lasse.
Maran bietet mir die Möglichkeit tief abzutauchen in Zeit und Gegend, ich bin lange auf dem Ozean, der Weg ist ein weiter. Buchstäblich. Er bereitet ein ernstes Thema, mehr als gut lesbar auf, entlässt mich aus meinem Alltag, katapultiert mich in einen anderen. Hier schaue ich mich um, streife mir eine andere Haut über, fühle mit. Balle meine Fäuste. Nicht nur innerlich. Lausche wellenloser Stille, schrillem Möwen-Klagegeschrei, erlebe ein Schiff wie ein Dorf. Einen alten Freund der versteht. Hoffe darauf. Auf sein Verständnis. So einfach ist das aber nicht. Die Zeit auf dem Meer könnte ein Raus-aus-Allem sein, eine Pause und Abstand bedeuten. Jean aber kann sich nicht lösen. Von seinem Kummer. Nimmt sich mit und ihn.
Es liegt eine Schwermut auf diesem Text, die ihn erhebt, nicht erdrückt. Was sich liest wie ein poetischer Abenteuerroman ist bitter im Abgang. Man weiß es im Grunde schon beim Einstieg in die Geschichte, möchte am Ende nur noch zitieren und zitieren. Satz um Satz. Gedanke um Gedanke.
Beinahe zärtliche Umgebungsbeschreibungen wechseln sich ab mit Verzweiflung und Bestürzung, wenn Maran seinen Jean etwa selbst dichten lässt. Die Poesie mit der René Maran die Verlorenheit und Zerrissenheit seiner Figur zeichnet, ganz selten erlebe ich, das mich das so erwischt! Was für ein Erzähler!
Als ich mit ihm an der Mündung des Kongo ankomme, halte ich den Atem an. Jeans einstige Begeisterung für das gewaltige Flussdelta, seine Ufer, die von unzähligen Plantagen und blühenden Bäumen gesäumt sind, ist ihm abhanden gekommen. Er erinnert die Toten, die in diesen Fluten ertranken. Wirkt traurig und verzagt. Er nimmt widerstrebend seine Aufgabe an, als verlängerter Arm der Kolonialherrschaft. Auf der Flucht vor seinem persönlichen Glück, bleibt dabei integer und zutiefst menschlich …
Was für ein Abenteuer! Was für ein Text! Leichtfüßig und hintergründig zugleich beweist er gegenwartsliterarische und historische Relevanz, etwas das mehr als selten gemeinsam einem Roman zu finden ist. Bravo!
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