“Alle Menschen sind eitel und alle Menschen brauchen den Boden um darauf zu ruhen. Marionetten aber nutzen ihn nur wie Elfen, um ihn zu streifen, das macht ihre Grazie …”
Textzitat Thomas Hettche Herzfaden
Augsburg. Wir waren auf dem Heimweg, nach einer Reise, und hatten noch eine Übernachtung geplant. Hier sein, ohne einen Besuch in der Kiste, ging nicht. Mein Mann musste das einsehen und so stand ich dann da. Vor den Szenen aus meinen Lieblingsstücken, vor Frau Wutz und dem Urmel, vor Schusch, dem Walross und Professor Habakuk Tibatong, vor Emma, Lukas und Jim, dem Dings, dem Dings, dem König, Alfons dem Viertelvorzwölften und dem Scheinriesen (der echt nicht so groß ist!) und vor Prinzessin Li Si, direkt hinter Frau Malzahn. Mein Herz hüpfte da an seinem Faden wie ein Yo-Yo, und wer ich mit diesen kleinen hölzernen Helden aufgewachsen ist, der wird mich verstehen …
Herzfaden von Thomas Hettche
Es war dunkel in dem Aufgang, als sich die Tür hinter dem kleinen Mädchen schloss und es sich langsam die Stiegen hinauf vor wagte. Die Vorstellung war zu Ende und das hier sah nach einem guten Versteck vor dem Vater aus. Also tapfer weiter voran und hinauf. Hinauf bis in einen Raum, in den durch ein Dachfenster hell und kreisrund das Mondlicht auf den Boden fiel. In seinem Gegenlicht zeichnete sich etwas ab, und das Mädchen streckte tastende die Hände danach aus. Es waren Puppen, Marionetten, die hier aufgehängt waren, dicht an dicht. Viele von ihnen. Ihre Glieder klapperten, als das Mädchen sie berührte und dann erklang eine Stimme aus dem Dunkeln. “Ich bin die Prinzessin Li Si und mich finden nie sie …”
Ihn hatte sie lieber als alles auf der Welt, gestand Hatü ihrer Schwester Ulla, da war sie acht und Ulla neun. Sie wollte sie nicht kränken, oder eifersüchtig machen. Es war einfach so und sie war froh, dass es ausgesprochen war. Als der Vater jetzt vor ihr stand, mit Stahlhelm und Stiefeln, wusste Hatü, warum es zuvor auf der Straße so ruhig gewesen war. Es war jetzt Krieg, hatten die Erwachsenen gesagt, und der Vater musste hin, dorthin wo der Krieg am schlimmsten war …
Thomas Hettche, geboren 30. November 1964 in Treis, Landkreis Gießen. Deutscher Schriftsteller und Essayist ist mit Herzfaden jetzt zum vierten Mal unter den Nominierten für den Deutschen Buchpreis und auf der Shortlist 2020. 2006 stand er auf der Shortlist mit “Woraus wir gemacht sind“, 2010 auf der Longlist mit “Die Liebe der Väter“, 2014 wieder auf der Shortlist mit “Pfaueninsel” (der, Asche auf mein Haupt, noch ungelesen auf meinem Stapel liegt).
Was fantastisch beginnt, mit einer magischen Begegnung auf einem Dachboden voll mit Schnüren und Marionetten, kombiniert Thomas Hettche mit Rückblenden zu Walter und Hannelore Oehmichen, alias Hatü, die all diese Puppen einst gemacht, ihre Köpfe geschnitzt haben.
Eine ganz besondere Magie geht für mich bis heute von diesen Puppen aus, weswegen mein Besuch in der Kiste vor einigen Jahren unweigerlich mit dem Kauf einer solchen enden musste. Jim Knopf habe ich mir mitgebracht und ihr könnt Euch meine Empörung vorstellen, als mir kürzlich zu Ohren kam, das ausgerechnet der grandiose Michael Ende mit der Geschichte um Jim Knopf, ebenso in die Pädagogenkritik geraten ist wie Astrid Lindgren mit ihrer Pippi Langstrumpf. Rassistische Tendenz wird unterstellt und plötzlich sind die geliebten Geschichten von einst skandalumwittert. Für mich ist das schwer nachvollziehbar. Besonders die Geschichte von Jim und Lukas und ihre Reise von Lummerland nach Kummerland, wo “nicht-reinrassigen Drachen” bei Todesstrafe der Eintritt verboten ist, steht für mich wie ein Mahnmal im Wald der Geschichten …
Aber zurück zu Hettches Roman, in dem er uns von Personen und Ereignissen erzählt, die es tatsächlich gegeben hat und die doch erfunden sind (Zitat Hettche) …
Das Mondlicht benetzt den Boden mit einem goldenen Teppich in seiner Rahmenhandlung wie ein Scheinwerfer und in ihn lässt er die Puppen, die wir kennen und lieben nacheinander treten. Derweil ich verharre wie ein stummer Zuschauer, nimmt der Geist von Hannelore Oehmichen in ihrer Mitte Platz. Was wäre ich da gerne mit dabei gewesen auf diesem Dachboden. Aber was, ich war es ja. Denn, wenn ich die Augen schließe und Christian Brückner lausche, bin ich wieder Kind und fühle mich dorthin versetzt.
In der wunderbaren Hörbuchfassung lesen Valery Tscheplanowa und Christian Brückner ungekürzt 7 Stunden und 54 Minuten lang mit Leib und Seele. Tscheplanowa, geboren am 07. März 1980 in Kasan, Sowjetunion, studierte Tanz und Puppenspiel!!! Ihr wurde 2018 für “Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war” der Deutschen Hörbuchpreis als Beste Interpretin verliehen. Sie und Brückner, Bundesverdienstkreuzträger, deutsche Synchronstimme von Robert DeNiro mit eigenen Hörbuchlabel (parlando), teilen sich das Vorlesen von Hettches Geschichte. Tscheplanowa übernimmt dabei die Passagen aus der Sicht von Hatü Oehmichen und Brückner die Rahmenhandlung. Was eine überaus gelungene Kombination ergibt, wie ich finde. In dieser ausgesprochen schön vorgetragenen Geschichte hat, obwohl ich Brückner sehr verehre, Valery Tscheplanowa für mich die Nase vorn. Sie ist meine Hatü! Beide transportieren die Wehmut die hier mitschwingt und die einer Kunst gilt, die im Zeitalter der digitalen Animation wie ausgestorben daher kommt, so liebevoll, dass sie auch mich erfasst, von der ersten Silbe an.
“Das ist der Herzfaden … der wichtigste Faden einer Marionette. Nicht sie wird mit ihm geführt, sondern mit ihm führt sie uns. Der Herzfaden einer Marionette macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herz der Zuschauer festgemacht.”
Textzitat Thomas Hettche Herzfaden
Jetzt verstehe ich! Und ich folge der weiteren Handlung wie gebannt.
Der Vater hatte den Tod mit gebracht aus der Gefangenschaft. In einer Kiste, ein Skelett, eine Marionette. Wenn man das Spielkreuz senkte fiel ein Bündel aus Knochen auf den Tisch. Hob man es, richtete er sich auf und klapperte beängstigend. Jetzt also spielte der Vater mit dem Tod und nicht mehr wie früher als Schauspieler Charlies Tante?
Hochöfen und weißglühender Stahl. Bunkernächte und 1942 brennt ihr kleines Puppentheater nach einem Angriff auf Augsburg. Sie hatten es kommen sehen, war die Zeit die ganze Zeit über auch verschont geblieben, die Messerschmidt-Werke waren wohl doch zu bedeutsam. Mit Kinderaugen, durch die von Hatü, schauen wir auf das was der Krieg sie lehrt. Auf Staub nach Bombennächten und auf ihr geliebtes, jetzt verbranntes Puppentheater, aus dem sie nur die Gretel, versengt und abgerissen, retten kann. Die Gretel, mit ihr war Hatü zum ersten Mal als Puppenspielerin aufgetreten …
Auf die Maserung des Holzes muss man achten, das hatte der Vater immer gesagt. Ein Kasper ist es am Ende geworden. Aber einer, dem sein Lächeln zu einem bösen verrutscht ist. Hatü weiß, dass sie die Marionetten nicht fürchten muss, sie sind ja nicht lebendig und doch, vor diesem Kasper, aus ihrer eigenen Hand hat sie Angst. Was er gesehen hat, ist das was sie gesehen hat. Alles verbrannt, alles Schutt, alles Asche …
Als es Frieden wird in Augsburg ist Hatü vierzehn. Still ist es in den Ruinen der zerbombten Stadt, wenn sie auf ihren Streifzügen sind. Der Vater und Hatü, auf ihrer Suche nach Brettern und Nägeln für ein neues Theater. Nein, eine Puppenkiste soll es werden, damit man überall spielen kann. Auch zwischen den Trümmern …
Aus der Not geboren. Zum Kult geworden ist sie. Die Puppenkiste aus Augsburg, mit ihren hölzernen Stars und an die Fäden seiner Marionetten wollte der Vater seine jungen Zuschauer knüpfen. Nicht mehr zurückkehren als Spielleiter ans Theater. Ein eigenes Puppentheater sollte es werden, groß gedacht. Vier Jahre sollten vergehen, bis die neue Puppenkiste endlich ihren Deckel öffnete und der Kater Mikesch über die Bühne stolzierte.
Diese große, unbändige Sehnsucht sich nach dem Krieg auszuprobieren, sich modisch verirren. Unglaublich stimmungsvoll ist Hettche in und mit dieser Aufbruchsstimmung unterwegs. “Der kleine Prinz”, zum ersten Mal spielen Mensch und Puppen vor und auf der Bühne. Und dann kommt das Fernsehen, noch steckt es in den Kinderschuhen, aber am 21. Januar 1953 nur zwanzig Tage nach der ersten offiziellen Übertragung des Deutschen Fernsehens, geht die Kiste auf Sendung, mit Peter und der Wolf.
Hettche bricht ein Stück Geschichte aus dem Buch der Geschichten heraus, erzählt auf zwei Ebenen, die sich auf einem vom Mond beschienen Dachboden berühren, das so szenisch, so bildhaft, gleich ob man durch die Trümmer des zerbombten Augsburg läuft, oder mit angezogenen Knien auf einem magischen Dachboden zwischen Marionetten sitzt, geschrumpft auf ihre Größe, mich hat er ganz und gar vereinnahmt und verzaubert.
Die Wärme und Empathie, die Hettche für seine Figuren zeigt, für die aus Fleisch und Blut, und für die aus Holz und Fäden, spürt man in jedem Wort. Es ist schön mit dabei zu sein und zu erleben, wie der Traum der Oehmichens zum Leben erwacht und wie er mich bei der Hand nimmt und zurück führt in meine eigene Kindheit.
Wieviel Liebe und Herzblut hier im Detail steckt. Ich bin so dermaßen fasziniert von der Leidenschaft der Oehmichens und besonders von Hatü, die Hettche hier nachzeichnet und so dankbar, dass er mir nach Jahren MEINE Puppenkiste zurückgebracht hat.
Spätestens als Hannelore Oehmichen im Roman auf Michel Ende trifft, und als er ihren Jim Knopf kennenlernt, als sie sich die Hand geben, Ende und Jim, ist es ganz um mich geschehen. Beide Daumen drücke ich Hettche und seiner Lummerland Truppe, dem Urmel und allen anderen im Rennen um den Deutschen Buchpreis 2020. In mir haben sie ein Glöckchen wieder zum Klingen gebracht, das längst stumm geworden war.
Also, Vorhang auf! Der Marionettenspieler verschwindet im Dunkel. Ganz und gar uneitel, denn es geht ihm nur um die Geschichte. Ich applaudiere stehend und empfehle diese wunderbare Geschichte allen, die im Herzen Kind geblieben sind und denen, die es auch noch ein bisschen bleiben wollen …
Mein Dank geht an den Argon Verlag für dieses Rezensionsexemplar und das Foto im Beitragseinstieg habe ich übrigens selbst live in der Kiste geschossen …
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