Der verlorene Sohn (Olga Grjasnowa)

Ausgebrannt. Ein dreißigstündiges Feuer zerstörte am 17. Dezember nach julianischem Kalender, respektive am 29. Dezember 1837 nach gregorianischem den Winterpalast, die Hauptresidenz der russischen Zaren in St. Petersburg. Der vierflügelige, dreigeschoßige Bau am Ufer der Newa wurde hernach wieder hergerichtet und um Ostern 1839 fertig gestellt. 1852 ließ Zar Nikolaus I. dann noch etliche der 1.000 Räume abtrennen, um so die weltberühmte Eremitage-Gemäldesammlung einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Auch heute noch ist dieses prächtige Bauwerk des russischen Barocks bedroht, durch Besuchermassen, die Feuchtigkeit des nahen Flusses und den weichen sumpfigen Untergrund auf dem es errichtet wurde.

Von Geschoß zu Geschoß variierende Fenster, unterschiedlich geschmückte Fassaden, sein Ballsaal protzt als größter Raum mit seinen 1.103 m2. Malachit Säulen, riesige, kostbare Vasen, Wandteppiche, imposante Treppenhäuser. Was wäre ich da gerne mal live in Ruhe und mit Muße unterwegs, würde von den rauschenden Bällen der Romanows träumen. Bis dahin lasse ich mich in und von dieser Geschichte hierher entführen, so wie die Hauptfigur. Was ihn angeht geschieht dies allerdings nicht freiwillig und die Opfer, welche er bringen muss sind hoch …

Der verlorene Sohn von Olga Grjasnowa ….

Im Sommer 1839, heute war der letzte Morgen, am letzten Tag seines alten Lebens. Kaum neun Jahre alt, wurde er zum Unterpfand. Die Mutter hatte ihm nach dem Wecken noch einen Dolch zugesteckt, verbunden mit der eindringlichen Warnung, diesen nicht gegenüber seinen Wächtern einzusetzen und nur dann zu nutzen, wenn er sein Leben in Gefahr sah. Früh eingebunden in Verhandlungen, die Koranlehre, sogar in Kämpfe, sollte er als ältester Sohn und Erbe des Vater eigentlich dereinst über den Nordkaukasus herrschen. Dann, wenn die Russen endgültig besiegt sein würden.

Eine Festung hoch oben in den Bergen. Not und Elend, Gestank und Pestilenz hatten hier Einzug gehalten und das Kinderlachen, der Geruch von sauberer Wäsche und das unbeschwerte Geplauder der Frauen waren längst verstummt. Man aß mittlerweile Gras, konnte seine Toten nicht mehr begraben. So viele waren es. Das Leben so nah am Himmel war zu einem in der Hölle geworden. Ständigem Kanonenfeuer waren sie ausgesetzt, und der Zar, ihr Feind, schien fest entschlossen die Kämpfe jetzt zu Ende zu bringen. Einem Waffenstillstand hatte er nur zugestimmt, wenn für die Zeit der Verhandlungen der Sohn des Imams seine Geisel werden würde. Und so wurde Jamalludin, Sohn des Schamil, Zar Nikolaus I. als Geisel übergeben, in aller bester Absicht – und sie wurden betrogen. Der Vater und Jamalludin. Denn das russische Herr verschleppte den Jungen. Nach St. Petersburg, wo der Zar selbst ihn in Empfang nahm …

Extra-Rationen Wodka, sinnloses Schlachten, Hunger und die Verlockung süßer Früchte. Gefangenschaft und Häme und der Wunsch danach nichts besonderes zu sein, nicht der Sohn des Feindes, sondern ein einfacher Junge. Kein Wort verstand er, der Muezzin fehlte ihm und das erste Morgengebet hatte er bereits verschlafen. Mit schlechtem Gewissen. Da halfen auch starker schwarzer Tee und weißes Brot nicht, während der Zar einen Plan schmiedete, der so grausam wie raffiniert war und dabei wirkte er keineswegs boshaft, sondern eigentlich eher wohlwollend …

Alles Kalkül um Loyalität zu gründen oder echte Zugewandtheit, welches Kind kann das unterscheiden? Eine Kadettenschule. Drill und Disziplin. Briefe in die Heimat, die ins Leere laufen. Vergessen, verloren. Innere Kämpfe. Jähzorn und ein schier unstillbarer Wissensdurst. In diesem Jungen tobt ein Krieg.

Heiligabend bei den Romanows. Rotkohl und Gänsebraten. Champagner und Weine aus Deutschland. Stollen mit Marzipan, Schokolade im Überfluss. Weihnachten mit Leckereien aber ohne Familie wecken einen Hunger der anderen Art.

Decken aus Bärenfell, rauschende Bälle, Bankette, Diamant-Diademe, Perlenketten, Prunk und Gloria, schöne Frauen, ordengeschmückte Uniformen, ein Funkeln und Glitzern unter Kronleuchtern. Bei Hofe spricht man französisch, wie gelingt es, sich nicht permanent wie ein Betrüger zu fühlen? 

Was wie ein Wintermärchen klingt ist für unseren Helden ein Kulturschock und er ist mindestens ebenso fasziniert wie abgestoßen. So ergeht es ihm mit allem, was er hier im Land des Feindes erlebt, das ihn zunehmend zu vereinnahmen sucht, ihn beständig in Widerstreit bringt. Er will und kann Vater und Land nicht verraten und möchte doch die ihm angebotene Freundschaft der Ungläubigen nicht zurückweisen. Dazwischen immer wieder die aufkeimende Hoffnung auf einen Gefangenaustausch. Die Hoffnung darauf doch nicht vergessen zu sein …

Hofzeremoniell und politisches Taktieren. Polen, 1856. Eine Verlobung. Eine Heimkehr. Eine Zweckehe. Die Muttersprache vergessen. Krankheit, Trauer. Entfremdung die schmerzt bis auf die Knochen. Ein tragisches Ende. Diese Autorin schont ihren Helden nicht, mich ebenso wenig. 

Sofort war ich drin in dieser Geschichte, war gefangen in ihr, so wie Jamalludin. Gespannt darauf zu erfahren, was das Schicksal für ihn bereit halten würde auf dieser Reise, die eine lange ist. In Jahren und Kilometern gemessen. In rüttelnden Kutschen und zu wildfremden Menschen in die Stadt des russischen Regenten. 

St. Petersburg. Diese Fülle an Eindrücken. Gemälde, prunkvolle Säle, Gold. Der Winterpalast, so viele Zimmer, nein Gemächer hat es hier, zum Verlaufen schön. Durch jedes Schlüsselloch möchte man spähen, unverschlossene Türen öffnen und diese Bibliothek, angefüllt mit Kunstbänden. Da will ich hin! Wäre da nicht dieser Kummer. Diese Wut, die in unserem kleinen Helden wühlt. Nur sie hält mich zurück.

Dies ist die Geschichte eines Jungen der früh entwurzelt zu einem jungen Mann heranwächst eingeklemmt zwischen Verpflichtung, Verantwortungsgefühl und einer unbändigen Lust auf Entdeckung. Der wie ein Setzling ausgerupft, neu eingepflanzt in frische Erde, erst schwer wieder anwächst, dann aber gut gewässert und gedüngt, wider Erwarten neu und kräftig austreibt. 

Dies ist die Geschichte eines Vaters, der nicht nur bereit ist seinen Sohn herzugeben, sondern der es auch noch tut. Der sich danach nicht mehr umsieht. Die Geschichte einer Mutter, die in einem von Männern dominierten Gefüge ihrem Sohn nicht zur Hilfe kommen kann. 

Olga Grjasnowa, geboren am 14. November 1984 in Baku, Aserbaidschan, lebt und schreibt heute in Berlin. 2012 veröffentlichte sie ihren Debütroman “Der Russe ist einer, der Birken liebt“. Bislang hatte ich nur einen Roman von ihr gelesen, “Gott ist nicht schüchtern”, in dem sie sich dem Syrien-Konflikt und daraus resultierender Flüchtlingsschicksale angenommen hat. Im verlorenen Sohn blättert sie das Geschichtsbuch sehr viel weiter hinten auf. Dabei mischt sie Fakten und Fiktion gekonnt und fesselnd. Entführt mich weit, nicht nur räumlich sondern auch zeitlich, lässt mich die Kaukasusregion, ihre Völker, ihre Konflikte, ihre Kämpfe aus dieser Zeit erleben. Wieder nutzt sie dafür ein Einzelschicksal, verbindet es diesmal mit einer realen historisch verbrieften Gestalt, dem Imam Schamil, der sein Volk in den Dschihad führte und sich 1859, drei Jahre nach Ende des Krimkrieges, den wir hier auch streifen, den Großrussen ergeben musste.

Zu Beginn macht die Autorin noch regelmäßig einen Schwenk zu glücklichen Kindertagen, zurück zu Familie und Freunden, dann verblassen die Bilder in Jamalludin, nicht aber seine Gefühle. Im Gegenteil alles zerrt an ihm, die Wut in ihm ist schier übermächtig.

Grjasnowa kleidet dabei ihren Roman in prachtvolle Gewänder, stattet ihn mit Opulenz aus, aber hinter ihren Fassaden kauern Heimweh und eine Zerrissenheit, die besonders in den stillen Stunden in den Eingeweiden ihrer Hauptfigur rumoren. Sie schreibt über eine Zeit in der Dostojewski zu Zwangsarbeit verurteilt und nach Sibirien deportiert wird, weil seine Schriften dem Zaren missfallen. Ausgesprochen szenisch durchtränkt sie ihren Text mit einer ordentlichen Prise Historie, weich formuliert sie aus und …

Julian Mehne, geboren 1972, der in Bochum Schauspiel studiert hat und für das Theater und auch als Sprecher für Rundfunk, Fernsehen und Hörbuch arbeitet liest für sie vor. Der Bariton, der auch schon Auftritte an der Semperoper hatte, weiß seine wohltönende, weiche Stimme hier mehr als gut einzusetzen. Er interpretiert beim Vorlesen so wie Grjasnowa schreibt. Rund und sanft, wenn er den neunjährigen verunsicherten Jungen auf seiner Reise in die Gefangenschaft, ins Ungewisse begleitet. Als erwachsener Mann spiegelt er stimmlich den inneren Zweispalt des Protagonisten ohne sich selbst in den Vordergrund zu drängen. Die vielen Eindrücke die auf Jamalludin einstürzen fangen er und Grjasnowa sehr sinnlich ein. Das war mir weit mehr als nur angenehm, weswegen ich dieses Hörbuch zum Schwelgen im Herbst, bei Kerzenlicht im bequemen Sessel, sehr gerne empfehle!

Mein Dank geht an den Hörbuch Hamburg Verlag für dieses Besprechungsexemplar.

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