Zuhause. Sagen wir zu dem Ort, zu dem wir uns zugehörig fühlen. Was ist dieses Etwas, das uns dieses Gefühl haben lässt? Sind es die Menschen, die mit uns hier leben? Die hier auf uns warten, wenn wir nach Hause kommen? Ist es die Landschaft, mit der wir uns verbunden fühlen? Es gibt sie, Orte, die einsam sind und die magisch Generation um Generation anziehen, wie das Licht die Motte. Lasst Euch entführen an einen solchen Ort. Tief in den Wäldern. Öffnet sich ein Tal. Dort wartet ein meisterhafter Geschichtenerzähler auf uns:
Oben in den Wäldern von Daniel Mason
Das war er! Der Ort nach dem er gesucht hatte. Er folgte dem Jungen das letzte Stück zu Fuß. Hier würde er bleiben und einen Apfel züchten, wie ihn noch niemand gekostet hatte. Er würde seine beiden Töchter herholen und den Krieg hinter sich lassen. Ein für alle Mal.
Die eigene Schwester erschlagen. Mit einer Axt. Rasend vor Wut. Klingt wenig liebevoll. Es im Alter von einundsechzig zu tun, klingt wenig sinnvoll und doch geschieht es hier genauso. Schuld daran ist unmittelbar ein Mann aus ihrer beider Vergangenheit und mittelbar die Furcht vor dem Alleinsein. Dem Zurückbleiben und vielleicht auch Eifersucht.
Zweimal führt ein Kind mit einem Apfel einen Mann zu einem gelben Haus. Daniel Masons Kulissen, seine Landschaften, die Natur als Protagonist hat es wieder in sich, sie greift nach seinem Personal. In seinen letzten beiden Romanen, und auch in diesem, schickt er uns durch und auch zurück in der Zeit. Mir gelingt es dadurch, mich beim Lesen vollständig aus meinem Alltag auszuklingen. Was wunderbar ist.
Weit verstreut liegende Häuser, wackelige Stühle, abgenutzte Sofas, ein Mann der nicht der ist, der er zu sein vorgibt. Ein Kopfgeldjäger, der hinter entlaufenen Sklaven her ist. Ein Eindringen. Ein Grab unter Dielenbrettern. Nur ein Spuk. Vielleicht.
Dies ist ein Spiel. Ein Spiel des Lebens. Ein Spiel auf Zeit. Ein Spiel mit Sein und Schein. Ein Netz aus Wahrheit und Mythos, gewoben in den Wäldern Neuenglands. Eine Geschichte. Alt und jung zugleich. Die angereichert ist mit Illustrationen, Briefwechseln und Balladen, mit Elementen des magischen Realismus, episodenhaft führt sie mich durch ihre Kapitel. Wie Spotlights tauchen ihre Figuren aus der Dunkelheit auf um wieder zu vergehen. Ich spüre ihren Verbindungen nach. Zu diesem Ort. Zu seinen Bewohnern. Zueinander.
Daniel Mason, geboren 1976, aufgewachsen in Palo Alto, studierte Biologie und Medizin, der us-amerikanische Schriftsteller arbeitet als Assistenzprofessor für Psychatrie am Standford Hospital und lehrt Literatur an der Stanford University. Seinen Debütroman “Der Klavierstimmer ihrer Majestät” veröffentlichte er noch während seines Studiums 2004. Mit seinem Roman “Der Wintersoldat” schrieb er sich 2020 auf die Nominiertenliste des Pulitzer Preises, gehörte zu den Finalisten und wurde mit dem Joyce Carol Oates Literary Prize ausgezeichnet.
Beide Geschichten habe ich gelesen oder gehört und gern gemocht, lieben Dank an das Team von C.H. Beck für die Vorabempfehlung seines aktuellen Romans, der gestern am 15.02.2024 erschienen ist. Das folgende kennt Ihr schon, macht gerne einen Ausflug in meine vorhergehenden Besprechungen, durch einen Klick auf die an dieser Stelle eingefügten Cover:
Ins Zentrum seiner Geschichte stellt Daniel Mason diesmal ein Haus und einen Ort. Ein Haus und die Zeit. Ein kleines gelbes Haus, das in den Wäldern von Massachusetts inmitten von Apfelbäumen steht. Die nicht von Anfang an hier waren. Also die Bäume und die Äpfel. Sie sind das Ergebnis eines Lebenstraums. Ein Soldat und Witwer, Vater von Zwillingen, nach ihm hat dieses Stück Land förmlich gerufen, hat es nach dem Tod seiner Frau und nach seiner Rückkehr von den Schlachtfeldern urbar gemacht. Als auch er verstirbt bleiben seine Töchter hier. Machen weiter. Leben den Traum ihres Vaters. Sie kennen keinen anderen.
Wie bei einer Zwiebel liegt die Zeit Schicht auf Schicht, Haut auf Haut, auf diesem Haus. Seine Bewohner waren gekommen um zu bleiben und mussten am Ende gehen. Was geschieht im Danach? Welche Spuren bleiben? Wer folgt nach? Wie verbinden, verschränken sich diese Leben? Tun sie es überhaupt?
Es sind diese zwischen den Zeilen schwebenden Fragen Masons, die mich berühren. Sein überaus bildhaftes Erzählen der leisen Töne. Auf Paukenschläge wird verzichtet, es geht um das Kleingedruckte. Die Figuren, ihr Wirken und ihr Innerstes.
Übersetzt hat ganz wunderbar stimmig Cornelius Hartz. Der den sanften, tiefgründigen, den Menschen zugewandten Ton von Mason perfekt im Deutschen aufgreift. Es machte mir Freude diese Sätze zu lesen. Über Wiesen zu streifen, Blüten zu bewundern, Tau an den Händen. Den Duft eines Apfels in der Nase. Das Zwitschern von Vögeln im Ohr. Mal ist einem das Herz leicht hier, die Schönheit dieses Ortes macht es möglich. Mal verfällt man in Melancholie. Die Abgelegenheit dieses Ortes ist dann Fluch nicht Segen.
“Mit ihm zu reden war so einfach wie Denken, fand sie, die Unterhaltung kam und ging ganz sanft.”
Textzitat Daniel Mason Oben in den Wäldern
Ein Maler. Einsam. Ein ganzer Wald in seinem Haus. Die Sehnsucht eines ganzen Lebens. Hinter verschlossenen Türen und draußen üppige Farne und Kastanien im Herbst und Schnee. Schnee schon vor dem Winter. Der auf rotes Laub fällt.
Diese Kapitel waren mir die liebsten. Doch. Ja. Da hat etwas Klick gemacht in mir. Jedes einzelne beschriebene Bild habe ich vor mir gesehen. Die Verlassenheit dieses Mannes gespürt. William. Seine in den Absätzen zuvor abgedruckten Briefe. Die Antworten darauf verbirgt Daniel Mason vor uns und doch wissen wir alles. So klug ist das gestrickt. So nah bei seinen Figuren und ein bisschen aus der Zeit gefallen auch.
Episode um Episode stellt uns Mason, wie in einem Reigen, seine handelnden Personen vor. Nicht immer ist zu Beginn der Vorstellung schon klar, wo sich ihre Leben berühren werden und ob überhaupt. Das ergibt einen Spannungsbogen, der den ganzen Roman trägt, durchgehend habe ich darauf gewartet wie er das wohl auflöst. Die Verbindung ist am Ende immer dieser eine Ort. Die Magie, die von ihm auszugehen scheint, ohne das wirklich Magie im Spiel ist. Oder vielleicht doch?
Ein Spuk. Ein Medium oder kein Medium? Geschickter Betrug trifft auf guten Glauben. Manchmal weht der Wind einfach weil er es kann, ein paar Sporen herbei. Winzlinge, die die mächtigsten Kastanien in die Knie zwingen.
Die Buntheit und Vielfalt, die in dieser Geschichte stecken, haben mich ehrlich verblüfft. Jede Menge Raffinesse in der Konstruktion und viel Liebe zu Detail und Ausdruck lassen sich hier finden. Mit der diesmal gewählten Erzählart hebt er sich deutlich ab von seinen Vorgängerromanen. Ein wenig experimentel fühlte sie sich an, gerne wäre ich bei der ein oder anderen Figur noch etwas länger geblieben und dann wieder trieb genau dieses Fragmentarische mich an.
Fragezeichen auf meiner Stirn. Mason beschränkt sich bei seinem Erzählen nicht nur auf den menschlichen Blickwinkel, war das eben ein Ulmenkäfer, dessen Sicht er mich einnehmen lässt?
Spielt Daniel Mason mit mir und mit der Zeit als solches? Mit der Zeitlosigkeit, die für das Verhalten, die Gefühle von Menschen gilt, die diesen Ort berühren? Zeitlich bleiben einzelne Handlungsstränge eher unkonkret, mal schnappe ich auf, Roosevelt sei Präsident, also stecke ich irgendwo zwischen 1933 und 1945. Wie eine Ermittlerin, eine Detektivin wage ich mich vor, taste mich entlang an Verbindungsfäden, die mal hauchdünn gesponnen sind, dann so dick wie ein Tau. Manche Fäden lässt Mason fallen, die Figur verschwindet wie eine Fata Morgana und aus dem Dunst betritt eine neue die Handlungsbühne. Jetzt bin ich gespannt wo all das enden wird. Kann es denn enden? Hat ein Ort ein Ende? Wer steht an seinem Anfang?
Ich hänge meinen Gedanken nach. Frage mich, wer wohl nach uns in unserem Haus wohnen wird. Werden sie Wände herausreissen? Wird es ihm/ihr/ihnen ein Zuhause sein/werden, so wie es uns eines war? Werden sie durch unseren Garten gehen, unsere Bäume ansehen und sich fragen, wer wir waren?
Stilistisch und sprachlich finde ich diesen Roman von Daniel Mason überaus bemerkenswert, auch weil er mir diese Fragen stellt, inklusive solcher, die mich mit Wehmut erfüllen. Wer wird einmal unseren Nachlass ordnen? Werden Fremde erkennen, was uns im Leben wichtig war?
“Der Tod war viel mehr als das Ende eines Lebens, er markierte das Ende ganzer Welten von Bedeutung.”
Textzitat Daniel Mason Oben in den Wäldern
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