In Venedig steigt das Wasser. Alljährlich. In der Zeit zwischen September und April, aber zumeist im November und Dezember, werden von einer Spitzenflut die Straßen und Plätze der Lagunenstadt überschwemmt. Mal mehr, mal weniger stark, aber immer bekommt man dann auf dem Markusplatz nasse Füße, hier ist der tiefste Punkt der Stadt. <Acqua Alta> nennt man diese Hochwasser im Italienischen und MO.S.E. das brandneue, 2021 in Dienst gestellte Sturmflutsperrwerk aus 78! beweglichen Fluttoren, Modulo Sperimentale Elettromeccanico. Die Abkürzung MO.S.E. soll an Mosè, Moses erinnern, der beim Auszug aus Ägypten das Rote Meer teilte.
Bau und Bauwerk sind bis heute umstritten und skandalumwittert, Schmiergeld in Millionenhöhe soll geflossen sein, Umweltschützer reklamieren die Bauhöhe, die zu niedrig angelegt sei und politische Gleichgültigkeit angesichts des Schutzes den Venedig und seine Lagune tatsächlich brauchen.
Acqua Alta von Isabelle Autissier
Es war zu spät die Entscheidungen zu bereuen die Venedig, seine erhabene Schönheit, der Konsumbessenheit geopfert hatten. Guido, Stadtrat für Wirtschaftsentwicklung, hatte alles verloren. Seine Frau Maria Alba. Unter den Trümmern. Seine Stadt. Sein Zuhause. Sein Boot stieß an einen Schutthaufen, ein Silberreiher stochert vor ihm im Schlick. Macht hatte er gewollt und Einfluß. Die Wähler hatten sie ihm geschenkt. Was hatte er daraus gemacht?
Léa liebte Venedig. Studierte und malte Venedig. Fühlt sich ohnmächtig angesichts des sie umgebenden Verfalls. Streitet sich. Mit Guido ihrem Vater. Der Geld hat und die Macht. Die Macht Dinge zu verändern. Sie stellt einen Kontakt her. Es geht um ein Gutachten. Ist beschämt. Von seiner Reaktion. Seiner Untätigkeit. Nimmt es selbst in die Hand.
Maria Alba, ihre Mutter, entstammt einer alten Patrizierfamilie, zwölf Dogen haben sie gestellt, der Tradition fühlt sich verpflichtet. Einem Venedig, das es nicht mehr gibt und mittlerweile nutzlos geworden (so sieht sie sich in ihrer Ehe), arrangiert sie Blumen und Geschirr. Schafft ihrem Mann ein Zuhause und einen vorzeigbaren Backround. Ihre Tochter ist flüge geworden. Nabelt sich mehr und mehr ab. Ihr Mann tut derweil alles für seine Karriere, ist kaum zu Hause während sie gefühlt nur altert. Schönheit vergeht. Auch die der Stadt bröckelt gefährlich und Guido tut so, als ob ihn das nichts angehe. Jagt der Kurzfristigkeit eines Gewinns hinterher. Über seine Frauengeschichten, die man sich jetzt nicht nur mehr hinter vorgehaltener Hand zuflüsterte, sieht sie hinweg. Meist ist ja Alkohol im Spiel. Sie wahrt die Fassade.
Venedig zerstört durch eine Jahrhundertflut? Was für ein erschütternder Gedanke! Isabelle Autissier lässt Guido, einen Stadtverantwortlichen und Überlebenden gleich zu Beginn ihres Romans nach einer verheerenden Flut zurückkommen und uns durch seine Augen auf Trümmer und Ruinen schauen.
Man sucht nach Erklärungen, wie nach jeder Katastrophe, simuliert das Geschehene, will verstehen. Beschimpft sich. Flucht auf die Kreuzfahrer, das Versagen des Hochwasserschutzes, die Entscheider, die zuließen, das Kanäle der Seeschiffahrt wegen immer tiefer ausgeschachtet wurden, die fragilen Pfahlfundamente der Altstadt, die so noch mehr Druck und unablässigen Erschütterungen ausgesetzt worden sind.
Isabelle Autissier, geboren 1956 in Paris, lebt und schreibt heute in La Rochelle. Im Mare Verlag (ich bedanke mich rechtherzlich für das Besprechungsexemplar dieser druckfrischen Neuerscheinung), erschienen zuvor 2020 ihr Roman Klara vergessen und 2017 Herz auf Eis, für den sie für den Prix Goncourt nominiert war. Autissier, die 1991 für Aufsehen sorgte, weil sie als erste Frau allein im Rahmen einer Regatta die Welt umsegelte hat sich mit ihrem Herz auf Eis in mein Herz geschrieben. Wie sie das Meer in ihren Geschichen als Protagonist aufnimmt, ist für mich einmalig und ihrem neuesten Coup habe ich mit großer Freude entgegengesehen. Diesmal verlässt sie den kühlen Norden, aber nicht ihr Kernthema, das Zusammenspiel von Mensch und Meer.
Demonstranten, Wutausbrüche Tränengasgranaten. “Kreuzfahrer ihr seid hier nicht willkommen.” Es regnet Besteck und Geschirr. Lea wird verhaftet, landet, prominent wie sie ist, barbusig auf der Titelseite einer Zeitung. Ihr Vater schäumt und tut ihr Engagement als jugendlichen Idealismus ab. Es gibt Streit und er, vergreift sich einflußnehmend an ihrem Leben.
Poveglia, eine kleine Insel, etwa fünf Kilometer südlich von Venedig in der Lagune gelegen, wird besetzt. Die verlassene, einstige Pest- und Cholera-Quarantänestation wird zur Zuflucht. Sie wird zum Zentrum eines verzweifelten Kampfes.
Autissier zeichnet ein düsteres, aber ein was zu befürchten ist, realistisches Bild dieser beeindruckenden Stadt und der sie umgegebenden Umstände. Die Serinissima. Touristen fluten ihre Kanäle. Politiker und Unternehmer kennen nur das Eine: Money, makes the world go around. Eintrittsgelder für den Markusplatz oder für das Betreten der Altstadt werden erwogen. Wer länger bleibt soll mehr zahlen. Die UNESCO denkt laut über die Aberkennung des Welterbelabels nach. Zuviel Müll, zuviel Schmutz, ein Rettungsplan soll her. Man gibt der Stadt ein Jahr. Zeit, die man nicht hat.
Das Venedig versinkt weiß alle Welt. Man schaut dabei zu. So lange wird sein Untergang schon prophezeit, dass man übersieht, das sich die Anzahl der Hochwasserereignisse mittlerweile verdoppelt hat. Léa, siebzehn, verfällt ihrem Professor. Seiner Leidenschaft. Denn er kämpft. Für ihre Stadt. Mit Hilfe von Hydrotechnikern, Klimaschützern, Architekten und Ökologen. Ist gegen den Umbau der Palazzis zu Hotels, damit noch mehr Touristen unterkommen können.
Sechshundert kommen jetzt schon auf einen Einwohner, es gibt immer mehr Mieterrauswürfe zu Gunsten Airbnbs, selbst der kleinste Dachboden wird dafür ausgenutzt.
Wer gerne reist, wie ich, wird nachdenklich im Angesicht dieser Geschichte. Mit unserem Wunsch die Welt zu sehen und weil wir es uns leisten können, befeuern wir die Gier. Von Stadtentwicklern und politisch Verantwortlichen. Verschließen die Augen, blenden aus. Bis es zu spät ist.
In diesem Fall zu spät für das Gleichgewicht von Land und Meer. Für Strömungen und dringend notwendigen Wasseraustausch. Es geht bei Autissier um Fragilität und Beständigkeit. Darum, zu schützen was wir lieben. Verantwortung zu übernehmen. Aufzustehen.
Man lernt bei ihr eine Menge und das ganz nebenbei. Das macht sie großartig. Sie hält die Balance zwischen Aufrütteln und Unterhaltung meisterhaft, durchwirkt ihren Text mit Fakten, ich google immer wieder, will mehr verstehen und wissen. Man schluckt und hastet weiter durch die Seiten, obwohl sie das Schlimmstannehmbare bereits in den ersten Kapiteln vorweggenommen hat.
Was man dieser Stadt alles angetan hat! Vielleicht ohne Argwohn. Vielleicht nicht. In den Fünfziger Jahren wurde Grundwasser abgepumpt zur Versorgung der Industrie mit Gas und Wasser. Die Folge, eine gefährliche Austrocknung des Untergrundes. Aufschüttungen für Hafen- und Flughafenanlagen folgten, die Trockenlegung und Ausschachtung der Hauptverkehrsadern, damit Öltanker und Kreuzfahrer die Lagune befahren können. Das die Summe der Dinge einen Dominoeffekt heraufbeschören kann, zeigt uns Autissier auf und ich glaube ihr. Jedes einzelne Wort.
Diese Stadt darf kein Vergnügungspark sein und wir können die Natur nicht ewig unseren Wünschen beugen, schreibt sie. Venedig braucht eine Stimme. Dieses Buch ruft laut für sie aus: Rettet mich. Auch wenn das pathetisch klingt bleibt es wahr. Es braucht eine nachhaltige Politik mit Trag- und Reichweite. In Venedig und andernorts und manchmal sind es Millimeter und eine Kapillarwirkung, die ganze Welten zum Einsturz bringen können.
Familien sprengte schon ganz anderer Stoff, immer sind es gegensätzliche Sichten, davon erzählen viele Geschichten. Autissier verwendet in ihrem Roman, der sich trotz dystopischer Note erschreckend gegenwärtig anfühlt, ihre Figuren wie Gegenspieler, sie stehen sich auf dem Schachbrett Auge in Auge gegenüber und es geht diesmal nicht um ein Matt in drei Zügen, hier fegt die Natur alle Spieler gleichzeitig und mit voller Wucht vom Tisch. Den Spielaufbau zeigt sie uns im Rückgriff und ergänzt durch unterschiedliche Perspektiven.
Isabelle Autissier erzählt die Geschichte eines Bruchs und eines Zusammenbruchs. Spitzt ihre Handlung zu, ist kämpferisch, zeichnet nahbare Figuren, die man nicht mögen muss, lässt Menschen die Geduld miteinander verlieren. Sie muss mein Leseherz nicht mehr gewinnen, ich entscheide mich mittlerweile blind für ihre Bücher. Vor allem, weil das Meer bei ihr nicht nur Kulisse ist, sondern Protagonist und mich das Schicksalhafte, das sie aufzeigt, an dem was das Zusammenwirken von Naturgewalten und menschlichem Handeln auslöst fasziniert. Auch diesmal hat wunderbar und stimmig Kirsten Gleinig für sie ins Deutsche übersetzt und das gekonnt betont, worauf es bei Autissiers Zwischentönen ankommt. Ihr kennt das schon, wenn es Beiträge von mir zu Vorgängertiteln gibt, dann kommt an dieser Stelle eine Verlinkung. Hüpft drauf, wenn ihr mögt und entscheidet selbst welche dieser Geschichten Euch die liebste ist.
Lest in Acqua Alta von einem Ende, das so zwangsläufig wie unfassbar ist. Von einem, dass ein Anfang sein kann. Vielleicht. Wenn wir aufhören unbelehrbar, unverbesserlich zu sein. Weil wir genau das offenbar sind. In vielerei Hinsicht.
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