*Rezensionsexemplar* @mare
Sonntag, 22.03.2020
Murmansk. Rund 300.000 Einwohner hat sie, die größte Stadt in der Arktis. Man nennt sie auch “Kapstadt des Nordens”, dies wegen ihrer Lage am Hang der Kola-Bucht. 1.500 Kilometer Luftlinie sind es von hier, an der Grenze zu Finnland und Norwegen, bis Moskau. In 28 Stunden erreicht man mit der Murmanskbahn St. Petersburg. Bis 1991 war der, dank des Golfstroms auch im Winter eisfreie Hafen von Murmansk militärisches Sperrgebiet, und gemeinsam mit Seweromorsk ist die Stadt noch immer der wichtigste Stützpunkt der russischen Nordflotte. Die Verbindung von Murmansk zur Barentsee abschneiden, das war das Ziel deutscher und finnischer Truppen im Frühsommer 1941. Mit der Unternehmung Silberfuchs wollte man diesen wichtigen Hafen erobern – und scheiterte.
Wir kennen den Namen dieser Stadt heute vielfach weil hier die russische Eisbrecherflotte Atomflot, die sowohl nuklear als auch konventionell betriebene Schiffe umfasst, vor Anker liegt. Militärisch, industriell geprägt, umkämpft, das sind Wörter die mir in den Kopf kommen, wenn ich Murmansk höre. An Einsamkeit und Kälte denke ich dann noch, aber an landschaftliche Schönheit und Vogelbeobachtung eher nicht und ich bin erstaunt, als ich eintauche in diese neue Geschichte der französischen Erfolgs-Autorin Isabelle Autissier, und mit ihr diese Stadt, ihre Umgebung und eine Zeit entdecke, die viel mehr als die Kulisse ihres Romans ist:
Klara vergessen
Murmansk im Juni 1950.
Sie waren gekommen. Gekommen um sie zu holen. Drei Männer, in langen schwarzen Mänteln. Sie standen in ihrer Wohnung und sie forderten seine Mutter auf, die schon im Nachthemd im Bett gelegen hatte, sich anzuziehen und mitzukommen. Rubin lugte durch den Vorhang, der sein Bett von dem der Eltern trennte. Seinen Vater sah er auch jetzt, heute noch vor sich, wie er ihn damals an sich gedrückt hatte, so fest, dass er kaum noch Luft bekam und sonst aber nichts getan hatte. Nichts getan, um seiner Mutter zu helfen. Nichts um zu verhindern, dass sie sie mitnahmen, fortschafften, auf Nimmerwiedersehen.
Nur kurz nach dieser Schicksalsnacht wurden er und sein Vater aus der Wohnung geworfen. Sie hatten kein Anrecht mehr darauf, sagten die, und sie schwiegen. Schwiegen über das was geschehen war. Gaben vor, die Mutter sei an einer Lungenentzündung gestorben. Aus Selbstschutz, aus Feigheit. Sie mussten vergessen, sie mussten Klara vergessen …
“Eine seltsame Scham überkam ihn, die Scham befreiter Sklaven und ihrer Nachfahren, die unerklärliche Scham von Opfern, als könne man dadurch Schuld auf sich laden, das man seinen Peinigern nicht entkommen ist.”
Textzitat Isabelle Autissier Klara vergessen
Isabelle Autissier, geboren 1956 in Paris. Den meisten von Euch und mir bekannt durch ihren Roman Herz auf Eis, schreibt seit den Neunziger Jahren, zuvor machte sie als Seglerin auf sich aufmerksam. Sie war die erste Frau, die im Rahmen einer Regatta, die Welt umsegelte.
Ist es wirklich schon fast zwei Jahre her, dass ich Herz auf Eis gelesen habe? (Ein Klick auf das Cover führt ihn meinen Beitrag). Mir kommt es wie gestern vor, so präsent habe ich die Geschichte noch. Beeindruckt hatte Autissier mich mit ihrer sprachlichen Klarheit und der Konsequenz mit der sie ihre Figuren agieren ließ. Auch diesmal transportiert Kirsten Gleinig ihren Text ins Deutsche für uns, und das ebenfalls mit glasklaren Sätzen, durch die man schimmern sieht, was sich hinter gut gehüteten Fassaden verbirgt. Diese Zwischentöne sind meisterhaft eingebunden von beiden Damen. Autissier und Gleinig darf ich so, zum zweiten Mal als eingespieltes, stimmiges Team erleben.
Sie entführen mich ins Russland der Fünfziger Jahre, hier blühte die Zwangsarbeit. Die Gulags. die Arbeitslager wurden beständig aufgefüllt mit armen Seelen. Mit denen, die zum falschen Zeitpunkt Ja oder Nein, oder gar nichts gesagt hatten. Mit denen, die zu spät zur Arbeit gekommen waren und denen man deshalb Sabotage unterstellte. Hunderte Lager und mindestens zweieinhalb Millionen Gefangene gab es zu der Zeit, in der Klara im Buch deportiert wird. Man brauchte Arbeitskräfte, jede Menge, es galt schließlich sich an die Spitze des Wettrüstens zu setzen, die Atomenergie beherrschbar zu machen, oder wenigstens als Erster im Weltraum zu sein.
Autissier beschreibt diese Zeit und die Machenschaften der Herrschenden in ihr und sie bringt uns auf Stand. Damit wir begreifen. In der Rückschau lässt sie uns eine Geschichte von Vater und Sohn erleben. Setzt ihre Protagonisten Juri, den Enkel von Klara Sergejewna Bondarew, der nach Amerika ausgewandert ist und seinen Vater Rubin als zentrale Erzählfiguren ein.
Vor vielen Jahren schon, hatte Juri alle Brücken hinter sich abgebrochen, mit dem Vater gebrochen, oder auch der Vater mit ihm. Autissier schickt ihn, den mittlerweile erfolgreichen Wissenschaftler, auf eine Reise zurück nach Russland und in die Vergangenheit, lässt ihn Informationen sammeln über seine Großmutter, die einst brilliante Geologin, die als hochgeachtete Wissenschaftlerin mit ihrer kleinen Familie nach Murmansk gekommen war, einer Anstellung wegen, hier ein gutes Leben hatte mit einem Hofstaat an Freunden. Dann verschleppt worden war. Was hatte sie getan? Wie konnte sie stürzen und so tief fallen? War sie eine Idiotin oder eine Heldin im Widerstand gewesen?
Schon als Junge entdecke ich mit Juri seine Leidenschaft für die Vögel, ihre Artenvielfalt, für die Schönheit seines Landes und für stille Beobachtungen. So ganz anders ist er als sein rauer, harter Vater und für das, was er erdulden muss bange ich mit ihm.
“Die Tundra gehörte ihm. Zwischen Zwergweiden, – birken und -espen, die oft mehr Wurzeln als Äste hatten, hätte Juri gerne halt gemacht, um jeden Baum vor Wind und Kälte zu schützen.“
Textzitat Isabelle Autissier Klara vergessen
Es ist schön hier inmitten des Arktischen Mohns mit seinem leuchtenden Gelb, inmitten des Fuchsienrotes von Steinbrech, zwischen den zarten Wollgräsern und wie man einsinken kann, auf diesem dicken, leuchtend grünen Moosteppich. Herrlich, wie Autissier diese Landschaft beschreibt, man schließt die Augen und kaut mit Juri Wacholderbeeren, hat ihren bitteren Geschmack im Mund, läuft und streift vorbei an Lagunen, gesäumt von groben Kiesstränden, spürt eine salzige Brise im Gesicht, die vom Meer heranweht …
Das hier gezeichnete Vater-Sohn-Verhältnis machte mir zu schaffen. Rubin, Klaras Sohn, ist mehr als ein Schuft. Er verhöhnt und quält seinen Juri als Kind, missachtet dessen Mutter, die mehr und mehr in Gleichgültigkeit versinkt, ihren Sohn übersieht. Wie viel Überwindung es Juri gekostet haben muss, nach Jahren an das Sterbebett des Vaters zurückzukehren. Ihm einen letzten Wunsch zu erfüllen, den dieser noch dazu nicht einmal freundlich äußert. Und wie ähnlich er seinem Vater im Kern ist, welche Schuld beide auf sich geladen haben. Beide Männer sind der Natur sehr viel näher als den Menschen. Was für den einen die Tundra, ist für den anderen das Meer.
So übernimmt dann auch das Meer hier mehr als nur eine Nebenrolle. Wütend und brüllend brechen hier Wellen über einen Fischtrawler herein, zeigen den Menschlein darauf ganz klar wer hier der Herr im Haus ist. Ein uraltes Kräftemessen beginnt. Diese Wildheit, diesen Kampf zwischen Mann und Meer hat Autissier fabelhaft eingefangen. Die Natur und ihre Gewalten ist nicht nur Kulisse für sie, als Akteure der ganz besonderen Art bindet sie diese ein.
Das Buch selbst, sein Schutzumschlag, eisblau schimmernd, der Einband tief blau, so blau wie die Barentsee bei klarem Wetter. Die nach innen umgeschlagenen Seiten blutrot, wie bei einem schlagenden Herzen, das Herz der See. Das Herzklopfen von Juri als Junge meine ich tatsächlich auch zu spüren, durch die Schinderei und die Demütigung hindurch. Den pochenden Puls von Juri, fest und hart …
Wer hier eine einfache, nach rückwärts aufgerollte Familiengeschichte erwartet, der wird staunen …
“Rund um das Schiff legte der ruhige, geräuschlose Nebel seine Schleppe aus gedämpften Farben aus. Da war nur Leere und unermessliche Weite. An Bord schrien die Männer, wimmelten die Fische, kreischten die Vögel. Es war eine Atmosphäre wie auf einem Schlachtfeld.”
Textzitat Isabelle Autissier Klara vergessen
Es ist hässlich hier, brutal und kalt. Männer in gelbem Ölzeug stehen in einem Meer aus sich windenden, glänzenden Fischleibern, auf einem verrosteten Deck, Messerklingen blitzen auf, und der Tod flutet die Planken.
“Das Schiff war verloren, auf sich gestellt, eingesperrt in seinem Kokon, auf dem Weg zu einem Ziel, das niemand kannte. Die Neuen fühlten sich wie in einem Gefängnis ohne Mauern und Gitter, das sich bis ans Ende der Welt erstreckte.”
Textzitat Isabelle Autissier Klara vergessen
Schlußendlich lässt uns Autissier dann auch zu Klara und sie kommt selbst zu Wort. Uran heißt der Stoff, der offenbar ihr Schicksal besiegelt hat, und aus Treue besteht der Strick, den sie ihr drehten. Dieses kostbare Erz, die sibirische Arktis und eine abgelegene Insel, das Spannungsthermometer steigt, ich hoffe bange und ergebe mich …
Denn nicht nur ein Geheimnis verbirgt diese Geschichte, und nicht immer ist das Offensichtliche auch das Wahre und Richtige. Ihr werdet schon sehen …
Liebe Julia, wie schön, dass Dir dieses Buch so viel geben konnte. Genau deshalb lesen wir. So gerne. So soll es bleiben! LG von Petra
Liebe Petra,
ein hartes Buch, finde ich. Heute habe ich das Buch zu Ende gelesen. Ich wusste nicht viel über die innenpolitischen Zusammenhänge der früheren UDSSR und des heutigen Russlands. Erschüttert hat mich die Geschichte sehr, obwohl ich ungefähr wusste, auf was für einen emotionalen Horrortripp ich mich höchstwahrscheinlich einlassen würde. Trotzdem hat mir das Buch gefallen. In dieser Weise aufgearbeit, verknüpft mit großer Dramatik und einer schonungslosen Weise, lese ich gerne historische Bücher mit politischem Anklang. Die Autorin beschönigt nichts, stürzt uns hinein in Stalins Zeit, zeigt uns den Umgang mit den Menschen, die es gewagt haben zuviel zu sagen, sich gegen einen brutalen Regierungsapparat gewehrt haben. Gulags, Arbeitslager haben Familien entzwei gerissen – für immer. Menschen wurden so lange befragt, bis sie nach wochenlangen gleichen Fragen nachgaben und Dinge zugaben, die nicht stimmten. Diese Brutalität muss sich doch in den Menschen festsetzen und wie Wurzeln in eine Familie hineindrängen. Kein Wunder, dass da wenig Liebe übrig bleibt…..ein hartes Buch, dass uns eine frühere Zeit nahe bringt und gleichzeitig auch warnt. In der Gegenwart gibt es genug Beispiele, die ähnlich sind und ablaufen. Wie gut es uns doch hier geht.
Liebe Julia, da freu ich mich! Wenn ich anstecken kann mit Lesefreude für Titel, die mir am Herzen liegen. Beide Geschichten von Autissier mochte ich. Man spürt bei ihr die Liebe zum Meer, ihre Landschaftsbeschreibungen finde ich großartig. Dazwischen der Mensch, mit seinem Zaudern, Zagen und wie winzig er doch ist, angesichts der Urgewalten. Viel Freude beim Entdecken und melde ich unbedingt, wie es Dir damit ergangen ist. LG von Petra
Hallo Petra. Habe beide Bücher von ihr da und noch nicht gelesen. Du animierst mich immer zum kaufen und lesen….das ist so eine tolle Homepage von dir. Durch dich habe ich viele Bücher kennen gelernt und war sehr begeistert. Schön, dass wir ähnlich lesen.
Find ich auch!
Oh super…etwas Neues von dieser Autorin…