Die Bagage (Monika Helfer)

*Rezensionsexemplar*

Donnerstag, 19.03.2020

Mein Dialekt ist mir schon ein bisschen heilig, deshalb pflege ich ihn auch, versuche ihn auch zu sprechen, wann immer möglich. Ich mag es auch im Austausch mit Kollegen verwandte Worte in deren Dialekten zu entdecken, oder auch mir ganz und gar fremde Ausdrücke. Gemeinsam lachen, wenn man sich dann nicht versteht und es erst eine Übersetzung braucht, finde ich herrlich. Als ich den Titel dieses Roman gelesen habe, musste ich gleich schmunzeln, weil ich den Ausdruck “Die Bagage” auch aus meinem Dialekt kenne. Der Begriff wurde im 16. Jahrhundert aus dem Französischen übernommen und er bezeichnet entweder eine Menge von Gegenständen, die man unterwegs mit sich führt, oder eine Personengruppe, die nicht gerade zu den angesehensten zählt. Letztere Wortbedeutung kennt die Autorin Monika Helfer nur allzu gut, denn sie erzählt uns hier von “ihrer Bagage”, ihrer Familie …

“Du hast wahrscheinlich keine Chance nicht etwas besonderes zu sein.”

Textzitat Monika Helfer Die Bagage

Die Bagage von Monika Helfer

Im frühen September 1914. Josef und Maria lebten mit vier Kindern am Ende eines Bergtals unweit von Bregenz. 

Waren die beiden tatsächlich zufrieden, ja so glücklich wie das biblische, namensgleiche Paar? War die Anzahl ihrer Kinder, konnte diese Kinderschar das Zeugnis dafür sein? Im Dorf zerriss man sich darüber die Mäuler und nur allzu gerne spekulierte man, auch laut. Denn Maria war schön, zu schön und der Josef, wenn auch leicht zu erzürnen, nicht immer da um auf sie acht zu geben …

Alles begann mit dem Postboten und einem Brief, der Maria vor dem Haus beim Wäsche aufhängen erreichte. Ein Brief vom Staat, der einen abgetrennten Abschnitt und eine unterzeichnete Rücksendung desselben erforderte. Es war ein Stellungsbefehl. Ein Befehl des Kaisers für Josef. Der Krieg rief nach ihm, auch hier im Schatten unter dem Berg, und er kam um ihn zu holen.

Sie verabschiedeten ihn am Bahnhof, Lorenz, neun Jahre und Wolf der Hofhund, dieser winselnd. Die Mutter war nicht mitgekommen, der Vater mochte die Öffentlichkeit für Vertraulichkeiten nicht, nicht für eine Umarmung und für mehr schon gar nicht …

Lorenz war über den Schnee und die tief liegende hintere Hälfte des Daches hinaufgeklettert bis zur Dachluke, hatte sie freigeschaufelt und geöffnet, die Flinte angelegt, und er zielte auf den Mann, der bedrohlich nah an seine Mutter herangerückt war, ihr an die Bluse griff und er rief laut zu ihm herunter … 

Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald liest uns diese, ihre eigene Familiengeschichte auch selbst vor. Ungekürzt in 4 Stunden und 36 Minuten. Helfer hat bereits zahlreiche Romane veröffentlicht und ich gestehe, an mir ist sie bislang komplett vorbeigegangen, das obwohl sie 2017 mit ihrem letzten Roman “Schau mich an, wenn ich mit dir rede” für den Deutschen Buchpreis nominiert war.

Mit leicht heiserer, rauer Stimme, getragen und sanft liest sie. Mehr als gern habe ich ihr zugehört, denn es ist, als erzähle sie mir, einer Nachbarin oder Freundin ihre Geschichte. Es fühlt sich nie so an, als lese sie einen geschriebenen Text vor. Gut, sie weiß ja auch was da kommt, im Gegensatz zu mir, die ihrem leichten Dialekt lauscht, der ab und an durchblitzt, durch diese manchmal nur gehauchten Sätze. Die ihrer eigenen Melodie folgen, die mich ganz schnell und komplett vereinnahmt hat. So charmant klingt sie. 

Es braucht kein Vorgeplänkel und keine ausufernden Erklärungen, man ist sofort drin in dieser Geschichte. Atmet die Bergluft tief ein, schaut auf das Abendrot und fragt sich, was das wohl so für Geschäftchen sind, die der Josef da macht und der Bürgermeister auch. 

Zwei Kühe, eine Ziege und am Ende sieben Kinder, und die Armut die zu dieser Familie gehört. Wir begegnen einem stattlichen, gut aussehenden Mann und seiner attraktiven Frau, die die Großmutter der Autorin ist.

Helfer lässt die Geschichte dort beginnen, wo man von ihrer Mutter noch nichts ahnte und die Männer Maria, ihrer Großmutter nachstellten. Verheiratet hin oder her, sie konnten die Augen nicht von ihr lassen und einer, nein zwei, auch nicht ihre Hände. Der Georg aus Hannover zum Beispiel, den die Maria auf dem Markt kennen lernt und der Bürgermeister Fink, der auch. Dieser Bürgermeister, den der Josef anheuert um auf seine Frau aufzupassen, während er im Krieg ist, ist (Verzeihung) eine rechte Drecksau! Er hat sie in der Hand, das denkt er wohl und Maria fürchtet, es könne tatsächlich zu sein. Denn in die Hand gebissen hatte sie ihn, den Fremden, bis das Blut heraus geronnen war, als er hatte gehen wollen, ihre kleine Tochter, hatte den Kuss gesehen, der sich daran angeschlossen hatte und der Bürgermeister hatte ihn früh am morgen aus ihrem Haus kommen sehen …

An Vorurteilen mangelt es eh hier nicht, in diesem Dorf, unter diesen Leuten, in dieser Geschichte. Tragische Todesfälle hat es auch nicht nur einen in dieser Familie, immer wieder unterbrechen Gedankenfetzen Helfers Erzählung, und sie springt mit uns in der Zeit vor und zurück.

Erzählt uns von einem Büchsenmacher, einem bestimmten Gewehr, von Neid und Eifersucht, von Buhlerei und Nebenbuhlern, von der Bagage halt. 

Von Wilderei, einem Alibi, einer verbotenen Liebe, dem Krieg und von Geschäftchen, von kleinen und großen Dramen. Von Eisblumen, die man erst vom Fenster kratzen muss, will man in die Welt hinaus schauen. Will man sehen, er da herauf kommen will, auf den Berg. Rechtzeitig, in einem Winter der eisig war, mit Eiszapfen so lang wie Schwerter und in dem Pferdeschlitten die alten Männer trugen, die der Krieg nicht hatte haben wollen. 

Diese Bagage hatte ihren Platz in der Kirche auf der Frauenseite, in der letzten Bank, getrennt durch zwei freie Bankreihen, getrennt von allen anderen. Es wispert und flüstert hinter ihrem Rücken: Warum versorgte der Bürgermeister mit dem was er vom eigenen Tisch absparte dieses  Weib mit ihren Bälgern? Was hatte er davon? Und das dieser Lorenz so schlau war, das war nun wirklich nicht normal, da musste doch der Teufel im Bunde sein …

Die Bagage, das waren Lorenz, neun Jahre als der Vater in den Krieg zog, der jetzt schon wusste, dass er auf keinen Fall Bauer werden wollte, und Hermann, elf Jahre, der seiner Mutter am meisten half und unbedingt Bauer werden wollte. Was der eine zuviel hatte, hatte der andere zuwenig. Lorenz war halt ein Zahlengenie, rechnete besser und schneller als der Dorfschullehrer und der Hermann sollte noch bis an das Ende seiner Tage, die Finger dafür zur Hilfe nehmen.

Katharina, etwas mehr als elf Jahre, half der Mutter im Haushalt und Walter, fünf Jahre, war noch so klein, dass er noch zu nichts zu gebrauchen war. Drei weitere Kinder, Grete, Irma und Sepp sollten in den Jahren nach 1914 noch dazukommen.

Helfer formuliert wunderbar, leicht und doch mit Anspruch. Akzentuiert und sie lässt ihre Sätze am Ende auch mal ruhen, damit sie ausreichend Wirkung entfalten können. Manchmal klingt sie beinahe atemlos, als wolle sie alles schnell und unbedingt loswerden, was sie zu erzählen hat, als dränge es förmlich aus ihr heraus. 

Kein Wunder das, denn gleich ein ganzer Ort agierte hier als moralische Instanz, als wäre nicht der Dorfpfarrer allein schon genug – und eine Lüge, so gewaltig, dass sie dem Lügner nur von Luzifer persönlich, direkt und spontan eingegeben worden sein konnte, so Helfer, macht mich sprachlos …

Wer Robert Seethalers Ein ganzes Leben mochte, der wird auch Die Bagage mögen. Mir ist es jedenfalls so ergangen. Seethalers schmaler Roman gehört zu den absoluten Lieblingen meiner letzten Lesejahren und Helfer versteht es daran anzuschließen.

Mehr als unterhaltsam und packend ist diese Geschichte, die förmlich glüht vor falscher Nachrede. Was diese Kinder zu leiden hatten. Der Pfarrer wettert von der Kanzel über die fehlende Moral ihrer Mutter, der Lehrer nennt sie gar vor allen anderen eine Hure. Es fehlt jeglicher Beweis, aber das spielt keine Rolle. Ich bin zornig und ich bange mit diesen Kindern, bin auf der Seite von Maria und ich verstehe auch den Josef. Diese Geschichte wäre eine Verfilmung wert und wir würden alle an den Fernsehschirmen kleben. Getragen von Monika Helfer Stimme, die zeitweise so verletzt klingt, wie sich ihre Großmutter gefühlt haben muss, ist sie in mir bereits wie ein Film abgelaufen. Großes Ohrenkino ist das!

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