Kaum zu glauben aber wahr: Die Frage ob man seine Schuhe anbehalten darf oder eben nicht, kann einen Krieg auslösen. Im Birma des Jahres 1885 jedenfalls konnte sie das. Seit 1880 hatte der letzte birmanische König Thibaw Min nun versucht sich und sein Land den Franzosen anzunähern und war insoweit gescheitert, als dass die Briten das untere Birma erobert, annektiert und Mandalay zur Hauptstadt erklärt hatten. Wie der letzte Versuch sich zu behaupten muss da “The Great Shoe Question” gewirkt haben. Sie bezeichnet eine Verfügung des birmanischen Königs, wonach alle die seinen Palast betreten wollten, zuvor die Schuhe auszuziehen hatten. Die Briten dachten nicht nur nicht daran dem Folge zu leisten, als König Thibaw Min die seinen dann auch noch mobil machte um den birmanischen Süden von seinen Besatzern zu befreien, nahmen die Engländer das zum Anlass ihn als Tyrannen zu brandmarken und des Vertragsbruches zu beschuldigen. Die Folge war der Dritte Britisch-Birmanischen Krieg. Mit 11.000 Mann, leichten Booten, Elefanten und unter der Führung von General Harry Prendergast, rückten die Briten nach Oberbirma vor und zwangen König Min zur Abdankung, verbannten ihn mit seiner Frau nach Ceylon. 1886 wurde so das umkämpfte Birma komplett Teil von Britisch-Indien. 1887 lande ich hier, gemeinsam mit dem Klavierstimmer Edgar Drake und noch immer verteidigen die Briten ihre Vorherrschaft gegen nicht nur einen birmanischen Rebellen-Fürsten …
Der Klavierstimmer Ihrer Majestät von Daniel Mason
Es war nur ein ganz normaler Auftrag. So konnte man sich das auch schön reden. Denn die Anfrage des britischen Militärs, die sich an den Klavierstimmer und Èrard-Spezialisten Edgar Drake richtete und die mit einer Reise nach Birma verbunden war, war alles andere als das. Dort sollte Drake für den hochgeschätzten Stabsarzt Anthony Carrol, für dessen diplomatische Mission eigens ein kostbares Klavier herbeigeschafft worden war, dieses Instrument richten. Der tropischen Feuchtigkeit hatte es nicht lange standgehalten und nun waren es und der Doktor verstimmt.
Drakes Frau bangte schon vor seiner Abreise um ihn, wie recht sie damit hat, wird sich im Verlauf der Geschichte noch herausstellen, denn das Gebiet in das er reist ist noch immer umkämpft und jeder Dschungel birgt seine eigenen Gefahren. Das ihr Mann hier aber auch auf der Gefühlsebene auf Wege gelenkt wird, die eine Heimkehr zu Gewohntem unmöglich erscheinen lassen, ist zunächst auch für mich nur eine Vorahnung …
Wer immer schon mal ein Klavier stimmen wollte der kann es hier lernen. Genau gesagt geht es um eines das aus der Werkstatt von Sébastien Érard, dem Erfinder des Hammerklaviers, stammt. Die einzelnen Werkzeuge dafür hat unser Mister Drake dafür im Gepäck und die notwendigen Handgriffe erklärt er uns anschaulich.
Magisch. Endlich am Ziel angekommen ist das Aufwachen im Camp von Dr. Carrol ein Augenschmaus. Schmetterlinge tanzen über dem Grün des Dschungels, die Luft dampft und sie trägt Drake Kinderlachen hinterher auf seinem Weg in die Praxis des Arztes. Wo er rasch eingebunden wird ins Tagesgeschäft, das heute unter anderem darin bestand einem Kind drei Finger zu amputieren, damit es zumindest seinen Arm behalten konnte. Dabei muss man erwähnen dass der Äther gerade aus ist. Zimperlich geht es hier nicht zu, das kenne ich schon von Mason, der in seinem Roman “Der Wintersoldat” von 2018 einem jungen Medizinstudenten bereits das Amputieren beigebracht hat. Die Geschichte seines Klavierstimmers erschien bereits 2002 im englischen Original, seit dem Frühjahr 2020 ist sie in deutscher Übersetzung von Barbara Heller erhältlich.
Und auch hier geht es nicht ohne Krieg und ohne Patienten. Mit Tollwut und Cholera liegen sie dicht an dicht mit denen die an Malaria leiden in einem Dschungel-Lazarett. Die Verhältnisse hier sind ebenfalls alles andere als romantisch und ich beginne zu verstehen was Doktor Carrol hier mit Musik zu erreichen versucht, das Diplomatie ganz viele Gesichter haben kann.
Zwei Männer die sich ähnlich sind, ähnlicher als beide vielleicht wahrhaben wollen, begegnen sich hier auf Augenhöhe. Gewürzt ist diese opulent ausgestattete Geschichte mit einer ordentlichen Prise Exotik und auch an Drama fehlt es ihr nicht. Denn am Ende kriegt sie sie alle, die Malaria, und Mason führt mich durch die Fieberträume seines Klavierstimmers, so dass mir Angst und Bange um ihn wird …
Daniel Mason, geboren 1976, us-amerikanischer Autor und Arzt, arbeitet als Assistenzprofessor für Psychartrie an der Universität von Standford. Er zeichnet auch hier, wie schon in seinem Roman “Der Wintersoldat” sehr eindrückliche Bilder, schreibt filmszenenreif. Wanderte ich zu Beginn der Geschichte noch durch die nächtliche Dunkelheit Londons, mangels Straßenbeleuchtung flankiert von zwei Fackelträgern, breche ich kurz darauf schon zu einer Reise von England nach Asien auf. Und die ist zu dieser Zeit nicht einfach mal so unternommen, oder hat auch nur einen Bruchteil des Komforts den wir heute beim Reisen gewohnt sind. Von dem Kulturschock, der da im Dschungel auf mich und unseren Klavierstimmer wartet will ich gar nicht erst reden, auch ihn erfasst Mason herrlich bildhaft.
In diese Geschichte kann man ganz wunderbar den Kopf stecken. Wie in eine Wolke, sie konnte mich ein wenig abschirmen von der Hektik meines Alltages und hat mich eintauchen lassen in eine Welt, die auf einen anderen Takt hört.
Sie ließ mich Begegnungen erleben unterwegs von Kalkutta nach Rangoon und anderen Ortes. Mit einem alten Mann und seiner Geschichte, die von Matrosen und fernen Häfen erzählt. Ich konnte Tränke kosten, die mich in die Zukunft sehen ließen, habe eine letzte Dreitages-Etappe überstanden, Menschenmassen und eine nicht enden wollende Zugfahrt, Stimmengewirr und immer mehr Städte mit exotischen Namen bis ich endlich am Ziel mit Mr. Drake ankomme.
Ich lerne viel über den Krieg und auch klangvolle birmanische Namen. Erlebe Musik und Gefühl als untrennbare Einheiten. Den Suezkanal und wieder ein anderes Meer.
Einige Seitenerzählstränge führen ins Leere, stützen lediglich die Opulenz dieser Geschichte. Hätte man weglassen können, ich mochte diese Exkursionen, die sich durch Begegnungen quasi am Wegesrand ergeben. So vervollständigen für mich auch der geschilderte Duft der Garküchen, das heillose Durcheinander auf niedrigen Tischen, Frauengesichter, die mit einer weißen Paste aus Sandelholz verziert vor mir aufleuchten, dieses exotische Bild.
Eine Tigerjagd im Lianendickicht fehlt auch nicht. Achtung und Vorsicht! Bevor man hier einen Stock aufhebt, sollte man sich besser vergewissern, das er keine Giftzähne hat. Stechmücken, Schwärme davon, größer als die, die man in Europa kennt, und sie haben getigerte Beine. Ein Zwischenfall, ein verhängnisvoller, den das Jagdfieber auf die Spitze treibt. So benehmen sich Kolonialherren. Ich habe nichts anderes erwartet.
Der Weg ist das Ziel? Wohl eher nicht, auch wenn ich das Unterwegssein hier sehr genieße. Aus sicherer Entfernung versteht sich und bequem vom Sofa aus. Ohne Angst vor einem Angriff aus dem Hinterhalt wie ihn Edgar Drake samt Eskorte fürchten muss.
Eine Geschichte wie ein ruhiger Fluss, die in Stromschnellen mündet. Nach einem Angriff und “Mann” hat keine Wahl, dabei hat Mann seine Wahl doch schon längst getroffen? Eher leise und ruhig erzählt, aber mit reichlich Fakten unterfüttert, versteht Mason es mich zeitlich und räumlich zu entführen. Er ermöglicht mir auch einen Ausflug in die Völkerkunde dieser Region. Gewährt mir Einblicke in Sitten und Gebräuche, Aberglauben, religiöse Sichten und Riten.
Bambus Häuser auf zwei Etagen, ein vom Regen angeschwollener Fluss, von einem Seil verbrannte Hände, eine Floßfahrt mit Klavier, nach einem überhasteten Aufbruch. Langsam, ganz langsam geht Edgar Drake auf was Anthony Carrol hier wirklich für eine Macht hat und wie er sie auch einzusetzen gedenkt. Auch das er, Drake schon lange kein Außenstehender mir ist, und dass das Empire nichts weiß und auch nichts wissen darf von dem was hier vorgeht. Besser spät als nie? Ich würde eher sagen, es ist zu spät …
Stefan Merki, geboren am 5. Januar 1963 in Baden AG, im Kanton Aargau ist schweizer Schauspieler, er ist für das Theater und Fernsehen tätig. Im Hörbuch ist er für mich ein Erstkontakt und ich finde er kämpft zwar hier bisweilen ein wenig mit den exotischen Namen, die so vorgelesen manchmal etwas putzig klingen, dafür mochte ich es sehr wie er die Society Damen gibt, denen Mr. Drake bei seiner Ankunft in Birma angemessen vorgestellt wird. Very british! Wunderbar hochtrabend macht Merki das. Köstlich! Auch im weiteren Verlauf der Geschichte versteht er es mich wieder abzuholen, denn streiten kann er und den militärischen Befehlsjargon hat er ebenfalls drauf, Hacken knallen inklusive. Sehr gerne habe ich mich zurückgelehnt und ihm zugehört.
Mein Dank geht an den Bonnevoice Hörverlag für dieses Besprechungsexemplar.
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