Die kleine Hand (Susan Hill)

Es wird früh dunkel jetzt und der Herbstwind heult wütend ums Haus. Klappert an den Läden. Drückt sich durch jede Ritze. Das Feuer im Kamin knistert und durch einen gelegentlichen Windstoß stieben Funken auf. Was war das? Ich horche auf …

Die kleine Hand von Susan Hill

Verfahren. Mit dem Auto. Nicht die Situation. Auf dem Heimweg. Von Surrey nach London. Adam Snow, Antiquar, war auf dem Rückweg von einem geschätzten, überaus wohlhabenden Kunden und offenbar an der entscheidenden Kreuzung falsch abgebogen. Auf einer schmalen Landstraße holperte sein Wagen jetzt vorbei an verblassten Wegweisern. Er musste wohl oder übel anhalten und nach dem Weg fragen wollen. Als er das in den Scharnieren quietschende Gartentor zur Seite schob, an dem ein altes Schild darauf hinwies, das der dahinterliegende Unkrautdschungel geschlossen war, ging ihm rasch auf, das er in dem verfallenen Haus am Ende dieses Gartens wohl niemanden zum Fragen mehr antreffen würde. Einige der Fenster waren eingeschlagen. Es roch nach Schimmel und Moder. Der Wind stieß hier die Türen auf, wirbelte den Staub auf hallte in den Ecken wider. Und trotzdem trieb ihn etwas vorwärts. Ließ ihn verweilen, auch dann noch, als er eine kleine, kühle Hand in der seinen spüren, aber niemanden an seiner Seite sehen konnte …

Das Wetter, es schlug rasch um hier in den Bergen und ehe er sich’s versah, umgab ihn auch schon krachend ein Gewitter. Der Regen fiel in Sturzbächen und zwang ihn zu einer langsamen Fahrt immer weiter die Serpentinen hinauf. Windböen schienen seinen Wagen anzuschieben und er hatte Mühe ihn auf der schmalen Straße zu halten. Als er den Jungen sah, war es schon zu spät. Er trat hart auf die Bremse, stieg aus, rang keuchend nach Atem, als eine kleine Hand nach seiner griff und ihn auf den Abgrund zuzog.

Susan Hill, geboren 5. Februar am 1942 in Scarborough, dies ist jetzt mein dritter Roman von ihr, Susanne Aeckerle hat ihn übersetzt, und ich habe immer noch nicht genug. Hill spielt wieder einmal mit mir, mit meinen Vorahnungen und mit ihrer Hauptfigur, Katz und Maus. Was ich schon bei Stummes Echo und Wie tief ist das Wasser mochte, treibt sie in dieser Gespenster-Geschichte auf die Spitze. Eine Geschichte, die einen Grusel hat und inhaltlich alles wofür mein Herz schlägt. Ein abgelegenes Kloster, magische Stille, alte Bücher, einen verwunschenen, verwilderten Garten, ein verlassenes, halb verfallenes Herrenhaus, seit Jahrzehnten unbewohnt und sie hat auch mein Erstaunen dafür, was man alles auf 174 Seiten erzählen und unterbringen kann.

“Von dort hatte ich die gesamte Bibliothek im Blick. Das Sonnenlicht zeichnete rautenförmige Muster auf den Holzboden. Hier roch es, wie immer an solchen Orten, nach Papier und Leder, Bohnerwachs, Alter und Weisheit – ein starkes Rauschmittel für jeden, der sein Leben den Büchern verschrieben hat wie ich seit vielen Jahren.”

Textzitat Susan Hill Die Kleine Hand

Stimmungsvoll wäre eine Untertreibung, Hill ist eine Meisterin der atmosphärischen Schilderung. Sie kann die Zeit anhalten und sie tut es. Für mich. Sie schafft es stets mit nur wenigen Sätzen eine Stimmung heraufzubeschwören, die mich ganz und gar einnimmt. Mal melancholisch, mal bedrohlich, streut sie Andeutungen in den Text und ich folge ihnen immer schnelleren Schrittes …

Hier in bester Schauermanier, und wie mit Händen zu greifen erzählt sie von klösterlicher Ruhe, von der Suche nach einer First Folio von William Shakespeare. Von einem buchverrückten Kunden, von einer Klosterbibliothek, die man, hat man sie sie erst einmal betreten, nicht mehr verlassen will. Von stillen Wassern, die tief gründen, von Urängsten.

Ich erfahre von einem Garten, der einst so prachtvoll war, das ihn sogar die Queen samt Gefolge besucht hat. “Unsere Wildnis”, so hatten ihn die Kinder genannt, vor der großen Umgestaltung, als sie hierher gezogen waren, nach dem Tod des Vaters. Ich begebe mich auch auf eine Reise nach Frankreich, bin unterwegs in der ländlichen Schönheit Englands.

Kann man das tatsächlich alles in einer einzigen Geschichte erzählen? Frau kann, wenn sie Susan Hill heißt! Faszinierend und geheimnisvoll baut sie ihren Plot auf, verstrickt mich, zieht mich hinein in die Gedankenwelt ihrer Hauptfigur Adam Snow, der fürchtet den Verstand zu verlieren. Den Kopf hat er längst verloren und ich haste ihm durch die Seiten hinterher. Bin auf der Flucht vor diesem kalten Schauer. Vielleicht auch ein wenig auf der Flucht vor mir selbst …

Ein Schlüsselerlebnis. Ich taste mich vor, mit der sicheren Gewissheit, meinen Autoschlüssel in der Tasche zu haben und jederzeit gehen zu können …

Warum bleibt er, wenn er doch gehen müsste? Warum zögert er, wenn Zeit ist zu handeln? Was treibt ihn? Ruhelos? Was macht ihm Angst? “Kehr um” will ich ihm zurufen, als er auf Messers Schneide balanciert. Man(n) hat immer eine Wahl und er entscheidet sich, was wenn er fehl geht? Was … ?

Befallen wie von einer plötzlichen Krankheit, einem Fieber. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde die man mit dem Verstand nicht fassen kann, das weiß Susan Hill offenbar nur allzu gut und sie lässt mir mehr als nur einen Zweifel. Dafür verehre ich sie und für die Unaufgeregtheit mit der sie mich aufregt. Für die Ruhe mit der sie meinen Puls beschleunigt.

“Safe the best for last”! Das kann sie auch die Susan Hill. Oh, ja. Auf der letzten Seite, nach dem letzten Satz atme ich aus und bemerke, dass ich wohl schon länger die Luft angehalten habe, diese Auflösung hier ist nicht aus Pappe …

Dies ist eine Geschichte für eine schlaflose Nacht. Für einen Abend am Kamin. Kein Wort will ich mehr über sie verlieren. Denn es wäre ein Verrat an dieser wunderbar komponierten Geschichte und es würde Euch die Vorfreude nehmen, will ich doch genau sie schüren. Gebt aber bitte acht auf Euch und auch auf die, die nach Eurer Hand greifen …

Mein Dank geht an den Kampa Verlag für dieses wunderschöne Rezensionsexemplar aus der Gatsby-Reihe. Vielen Dank, dass ich in diesem Kreuzgang durchatmen durfte, für die Gänsehaut und die Einblicke in die alten ledergebundenen Schätze, die mich so an Der Name der Rose von Ecco erinnert haben. Ich freue mich schon jetzt auf die nächste Geschichte aus der Feder von Mrs. Hill.

Verfasst von:

2 Kommentare

  1. Petra
    18. Dezember 2020

    Liebe Anja, das freut mich sehr, dass Du hier etwas für Dich entdecken konntest. Susan Hills Geschichten sind so schön leise erzählt, ohne Effekthascherei. Dieses war meine erste Gespenstergeschichte von ihr. “Das Gemälde” habe ich mir als nächstes von ihr vorgenommen. Dir viel Freude beim Entdecken. LG von Petra

  2. Anja
    17. Dezember 2020

    Liebe Petra,

    das klingt ja ganz großartig. Ich bin so wenig auf FB unterwegs, dass ich leider viele Rezensionen verpasst habe. Heute stöbere ich ausgiebig bei Dir und das hier gefällt mir bisher am besten und ich glaube, das darf bei mir einziehen.

    LG Anja S

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