Ich bleibe hier (Marco Balzano)

Gänsehaut. Auf meinen Armen. An einem sommerwarmen Tag. Daran erinnere ich mich noch gut. Wir hatten uns für unsere Reise nach Südtirol für die Strecke über den Reschenpass entschieden. In der Sonne glitzerte türkisfarben ein See, aus ihm heraus ragte ein Kirchturm und er trieb mich förmlich aus dem Auto. Was hatten sie hier mit Wasser beerdigt? Ausradiert, weggeschwemmt und warum ragte nach all den Jahren dieser Kirchturm noch immer unerschüttert und unversehrt, wie ein erhobener Zeigefinger aus den Fluten? Warum hatte bislang das Wasser seinen Fundamenten nichts anhaben können? Welche Mächte waren hier am Werk … ?

Ich bleibe hier von Marco Balzano

Zwei Carabinieri hatten ihnen die Tür eingetreten. Jetzt zertrümmerten sie die Schiefertafel. Der kleine Sepp, der einen von ihnen wütend auf Deutsch beschimpfte fing sich eine schallende Ohrfeige ein. Ihre Lehrerin nahmen sie mit. Setzten sie fest in einem kahlen Raum. An der Wand nur ein Bild von Mussolini. Namen wollten sie hören von ihr. Von den Eltern ihrer Schüler, von den anderen Lehrern. Als sie sie schließlich gehen ließen und ihr Vater kam, um sie abzuholen, rissen sie ihm seinen Schnurrbart aus. Das machten sie immer so. Mit den hiesigen. Den “Dableibern”

Kein umgänglicher Mensch. Im Dorf grüßte man sie auch heute noch mit “Frau Lehrerin”. “Das größte Wissen liegt im Wort”, besonders für eine Frau. Nach diesem Lebensmotto hatte sie steht gehandelt. Ein Vorrat an Wörtern konnte einen immer retten, wenn Situationen kompliziert wurden, davon war sie überzeugt. Die Wörter waren ihr auch lieber gewesen als die Männer, die hier in der Gegend zumeist nach Stall und Schweiß rochen. Eine Ausnahme vom Alleinsein hatte sie nur mit ihm gewagt, mit Erich …

Trina begegne ich in dieser Geschichte da ist sie siebzehn. Nein, eigentlich ist sie schon eine alte Frau und sie schaut zurück auf die Zeit, in der sie süße siebzehn war. 

Deutsch zu sprechen war damals im Tal verboten gewesen und Mussolini hatte immer Recht. Der Faschismus hatte seine Fahnen aufgezogen und war hier in ihre Berge einmarschiert. Alle Tiroler Angestellten, gleich ob im Postdienst oder im Rathaus waren fristlos entlassen worden. Der Wunsch sich Deutschland nicht Italien anzuschließen keimte auf. Wurde genährt.

In Katakomben-Schulen unterrichtete man jetzt heimlich Deutsch. Bloß nicht erwischen lassen! Trina wollte Erich imponieren und auch herausfinden, ob sie wirklich Lehrerin sein wollte und nahm dieses Wagnis auf sich. Nicht ohne jede Nacht Träume von Verfolgung träumen. Die in Schlaflosigkeit mündeten und die sie Monster unter dem Bett suchen ließen. Die Schmuggler die über die Berge kamen, brachten ihnen notwendiges Schulmaterial mit und die Pfarrer sorgten dafür, dass sie es auch bekamen. 

Marco Balzano, geboren am 6. Juni 1978 in Mailand, italienischer Autor und Literaturlehrer, gelingt es, die Stimmung im Südtirol jener Tage sehr anschaulich einzufangen. Sprachlich ist er dabei bisweilen etwas blumig unterwegs, was im Kontrast zum eher sachlichen Vortrag dieser Hörbuch-Fassung steht. Ein lohnendes Nachwort von Balzano ist angefügt, über seine Motivation, diesen Roman zu schreiben, über die Augenzeugenberichte die er in ihm, für mich gekonnt, mit Fiktion verwoben hat. Er ergänzt Fakten die betroffen machen: Vierunddreißig Quadratmeter wies man jeder Familie aus Grauen zu, gleich wie viele Personen sie bei der Umsiedlung umfasste. Man versprach ihnen ein Haus. Später. Mehr als ein Jahr dauerte es, bis das Wasser die gesprengten Fundamente der Häuser von Grauen bedeckt hatte.

Wir gegen sie, die Arroganz plötzlich gewonnener Macht, schreibt Balzano, trifft auf Tradition, Wurzel und hoch aufragende Berghänge. Als die ersten Bautrupps anrückten und das Gerücht die Runde machte, man wolle ein altes Staudammprojekt wieder aufgreifen, regt sich unter den Bewohnern des Tals erster Widerstand. 1911 war der Plan hier einen Damm zu errichten zum ersten Mal laut geworden. Pläne die zunächst nicht umgesetzt worden waren, weil der Untergrund nicht stabil genug zu sein schien.  Zu viel Geröll, zu viel Schlamm. Das wurde jetzt erneut geprüft, denn schnell wachsende Städte wie Mailand und Bozen brauchten Energie und das Wasser, so waren sich die italienischen Ingenieure sicher, war das Gold Südtirols.

Erich Augen funkeln. Die Orte Reschen und Grauen sollten enteignet werden um den aufgestauten Fluss hier zur Energiegewinnung zu nutzen. Ein Wassergrab würde alles beerdigen was sie waren, was sie besaßen …

Übersetzt von Maja Pflug hat mich Marco Balzanos Geschichte nachdenklich gemacht. Ein Roman, der wie ein Spotlight eine Zeit und eine Gegend ausleuchtet, der mir deren tragische Entwicklung empathisch näher bringt. 

Die Erleichterung davon gekommen zu sein, auch das muss man aushalten können und Trina tut es. Ich bewundere sie dafür und bange auch mit ihr, wie sie darum kämpft ihre Identität nicht zu verlieren. Dagegen sich vereinnahmen zu lassen, sich zu verleugnen, seine Wurzeln zu kappen.

Zerstörte Sakristeien und Verbannung. Die Freundin zerren sie fort. Ausgerechnet Barbara, die ängstlichste von ihnen und dann schlagen sie Erich nieder, mit einem Stock. Er sieht aus, als haben sie seinen Kopf spalten wollen und die “Dableiber” schauen denen hinterher die fortgehen. Nach Deutschland, wo Hitler zu einem neuen Hoffnungsträger geworden war. Für sie. Er würde ihnen Höfe geben und Land. Glaubten sie.

Briefe an eine Tochter. Briefe aus Grauen. Briefe davon wie man überlebt. Briefe davon, was gesehen ist. Nie abgeschickt. Aufgeschrieben in einem Schulheft. Das man hinter den Socken versteckt. Das man, als es gefüllt ist, flackernd im Kamin verbrennt. Briefe von der Front, geschwärzt bis auf die Schlussformel …

Eine Weltsicht trennt Vater und Sohn. Die Totenglocken im Ort läuteten bis zum Abend. Die Todesnachrichten waren heute gebündelt angekommen. An so vielen Fronten waren sie gefallen.

Operationszone Alpenvorland. Jetzt verbietet man Italienisch in allen öffentlichen Ämtern und die zuvor eingesetzten Italiener werden wieder von ihren Arbeitsplätzen vertrieben. Die Südtiroler sollen wieder ran. Die Nationalsozialisten legen die Baustelle des Staudamms erst einmal still, auf’s Korn nahmen sie jetzt erst einmal die, die 1939 beschlossen hatten hierzubleiben und nicht nach Deutschland überzusiedeln. Zweifach besiegt heißt doppelt gelitten. In welches Dilemma die politischen Lager damals Familien gebracht haben muss, sie auseinander gerissen hat, zeichnet Balzano trefflich nach, auch den Zwist als der Dammbau plötzlich doch Fahrt aufnahm …

“In diesen Tagen schien es, als könnten Wörter Berge versetzen. Als sei der größte Fehler der gewesen, diese Möglichkeit nicht in Betracht zu ziehen. Sie nicht früher sprechen zu lassen. Die Wörter.”

Textzitat Marco Balzano Ich bleibe hier

Barackensiedlungen, tausende von Arbeitern mit rußgeschwärzten und blau angelaufenen Gesichtern. Wie in der ägyptischen Sklaverei malochten sie an diesem Damm. Ließen ihre Gesundheit für ihn. Ließen ihr Leben, zerquetscht von Zementrohren.

Lange wähnten sich die Bewohner in Sicherheit. Die Wasserhöhe des geplanten Staudamms würde ihre Dörfer nicht fluten. Nur an fünf, vielleicht zehn Meter Wasserstand denke man. Ein Mann mit Hut, der das Projekt leitete, verkündete schließlich man habe entschieden: Der Wasserstand solle auf fünfzehn Meter ansteigen. Der Ort engagiert einen Anwalt, der Bischoff wird involviert.

Und dann ist es sicher, einundzwanzig Meter Wasserstand werden es am Ende sein. Damit wären beide Orte geflutet. Der Papst wird angerufen. Aber wir wissen es schon, nichts und niemand hält am Ende das Wasser auf …

Wie Verurteilte verlassen durch ein Spalier von Carabinieri die Bewohner von Reschen ihren Heimatort. Das sind Bilder die bedrücken und wenn man sie sich vor Augen führt, steht man heute am Ufer dieses Stausees, wie soll man da bitte keine Gänsehaut haben? Aber lest oder hört selbst, besonders diese letzten Kapitel, diese letzten Minuten im Hörbuch, haben mich extrem aufgebracht.

Dominique Lüdi, Schauspielerin, wohnhaft in Basel, liest mir/ uns diese Geschichte von Mut, Wagnis und Widerstand, von Krieg, Flucht und Leid, von Hunger und Kälte vor. Eine besondere Spannung, nein Anspannung ist ihr eigen. Die Angst sitzt auch mir im Nacken, besonders bei den Schulstunden im Verborgenen. Trina gibt sie mit ihrer Stimme eine Gestalt, lässt sie anrennen gegen eine aufkeimende Macht, lässt sie im Verborgenen wirken in diesen rund 6 Stunden Hörzeit (ungekürzt). Seltsam distanziert legt sie dabei für mich ihren Vortrag an. Was mich sonst stört passt hier. Pragmatisch und kämpferisch legt Lüdi ihre Trina an und sehr gerne bin ich ihr durch die Handlung, durch alle Höhen und Tiefen gefolgt.

Diese Fassung ist im Download des Diogenes Verlages erhältlich, dem ich für dieses Besprechungsexemplar Danke sage. 

Verfasst von:

2 Kommentare

  1. Petra
    28. November 2020

    Liebe Kerstin, vielen herzlichen Dank. Ich hab’ schon wieder Gänsehaut, diesmal wegen Deiner Rückmeldung! Wow! Es freut mich ganz ungemein, wenn ich so “anfixen” kann für eine Geschichte und ich hoffe jetzt sehr, dass Sie Dich auch abholen kann. Lass ganz unbedingt von Dir hören, wie es Dir in Grauen ergangen ist. LG von Petra und beste Unterhaltung!

  2. Kerstin von KeJasWortrausch
    27. November 2020

    Hallo liebe Petra, uff…..ich bin sprachlos, was für eine Rezension, jetzt habe ich Gänsehaut.
    Der Blick auf das Cover und dieses Hintergrundbild macht mich auch sofort neugierig und ich will, nein muss wissen, was es damit auf sich hat.
    Habe das Hörbuch direkt gespeichert, also heißt es warten bis Ende Dezember, ach was soll’s, die Zeit vergeht eh gerade sehr schnell.
    Ich bin so gespannt auf Trinas Geschichte und die des Dorfes und der Menschen. Von der Zeit her genau mein Genre, Geschichte in Geschichten, so etwas liebe ich sehr, auch wenn es piekst und sticht.

    Du hast mich sowas von erreicht und ich habe ungemeine Vorfreude auf dieses Hörbuch. Hab lieben Dank dafür, herzliche Grüße
    Kerstin

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