Der Wintersoldat (Daniel Mason)

Als gegeben nehmen wir oft hin, was man uns schenkt. Nicht selten auch die Liebe eines Menschen. Sind uns nicht gewahr, wie zerbrechlich sie ist, wie sehr wir sie hüten, sie achten, sie schützen müssten. Das wir das besser hätten tun sollen, glauben wir erst wenn sie uns fehlt. Zu verlieren was wir lieben wirft uns aus der Bahn, wirft uns zurück, manchmal auf uns selbst, manchmal aus dem Leben …

Der Wintersoldat von Daniel Mason

Die Medizin und er liebten sich. Das merkte man auch daran, dass immer wenn Lucius von ihr sprach sein Stottern erstarb. Da konnte seine Mutter noch so sehr der Meinung sein, Arzt sei ein Beruf für Emporkömmlinge. Er mochte das Studieren an sich und jetzt mit zweiundzwanzig brannte er darauf sein Wissen auch praktisch anzuwenden. Der Krieg sollte ihm Gelegenheit dazu geben, ihm dem sechsten, dem ungewollten Kind in der Familie.

Groß von Statur, blass und ungelenk, mit einem blonden Schopf, der einem Isländer gehören könnte, sein Gesicht garniert mit buschigen Augenbrauen. Sein Äußeres mutete so an, als sei er einem anderen als dem Schoß seiner Familie entsprungen.

Ein Sturz auf dem Eis. Die Folge ein gebrochenes Handgelenk, die starken Hände eines Schmieds und eine Tasse Schnaps, das sollte ihm ermöglichen trotz seines offenen Bruchs die Reise an die Front als Sanitätsoffizier antreten zu können. Beinahe ohnmächtig vor Schmerz war Lucius geworden, bei der Prozedur des Knochenrichtens am Amboss, er war hinausgestolpert in die Dunkelheit und Eiseskälte der Nacht, nach Luft ringend. Dann sein Einbruch ins Medikamentendepot des Lazaretts und endlich – Morphium …

“Gott hat die Fliegen erschaffen, damit wir der Fäulnis gewahr werden, Herr Doktor”. (Textzitat)

Der Strom der Sanitätswagen versiegte nie. Die Tage die aufeinander folgten, glichen einander bald auf das Grausamste. Der Winter 1914 mit seinem strengen Frost hier in den Karpaten sorgte zwar dafür, das so manches zerfetzte Körperglied noch dort blieb wo es hin gehörte, verlangte aber selbst den körperlich Unversehrten alles ab.

Die Tinte und selbst die Suppe im Lazarett froren ein. Ein Sturm der meterhohe Schneewehen mit sich führte, der die Lazarettkirche zu ersticken drohte, zog auf, kurz nachdem der Wintersoldat, wie sie ihn nannten, eingeliefert worden war. Mit kältestarren Gliedern, leerem Blick und stumm, nur noch ein Körper in einer Schubkarre. Den Mantel ausgestopft mit kunstvollen Skizzen. Ein Nervenschock wurde ihm attestiert,  die Nahrungsaufnahme stellte er alsbald ein. Wie konnte man dieser Pein beikommen? Beständig nässte er sich ein, wimmerte die Nächte durch, mit rasendem Puls und Schaum vor dem Mund. Wir spüren und Lucius ahnt, das Schicksal verbarg sich in dieser Gestalt …

Daniel Mason, geboren 1976, unser Schriftsteller arbeitet als Assistenz-Professor für Psychatrie an der Universität Stanford, und da haben wir es schon. Was hier so fundiert an medizinischem beschrieben ist, kommt aus berufenem Mund. Jederzeit ist er ausgesprochen empathisch bei seinen Figuren, jedes einzelne Wort habe ich ihm geglaubt. Gleich ob er von Grottenolmen, Forschungen im Feld im Ersten Weltkrieg, Elektroschocktherapien, Muck-Kugeln (nie gehört!) oder Kanonenfutter erzählt.

Mitgefühl und Erinnerungen gestatten Mason und seine beiden Übersetzer Sky Nonhoff und Judith Schwaab ihren Helden. Sie schenken mir, uns, diese Geschichte aus dunklen Tagen im Deutschen, damit wir nicht vergessen, dass es immer auch Licht gibt, das wir alle ein Licht in uns tragen, auch wenn es manchmal nur noch glimmt. Das gelingt alle Beteiligten besonders in den Szenen, in denen sie engstirnige, nach Macht gierende, denen das Quälen von Menschen ein Bedürfnis ist, die Bühne betreten lassen.

Eine Geschichte für alle Medizinfans, aber Vorsicht, zimperlich darf man nicht sein, der ein oder andere Eingriff ist hier so anschaulich geschildert, als würde man fernangeleitet ihn selbst auszuführen. Wir lernen über eingeklemmte Hirnnerven und Pupillenreflexe, über Fieber und Fäulnis. Beißen die Zähne zusammen und halten die Luft an. 

Unser Held erkennt dabei sehr schnell, dass es nicht immer die großen Eingriffe sind, die einem etwas zurück geben. Eine redselige, wissbegierige Krankenschwester, erfahren und beherzt, hat er als Frischling im Beruf zum Glück an seiner Seite. Sie führt ihn in das Lazarettleben, bar jeglicher Romantik ein. Ein Lazarett das eine zerschossene Kirche, mit Löchern im Dach ist. Ratten huschen um die Betten, Wölfe lauern vor dem Portal. Amputationen standen hier auf der Tagesordnung ganz oben. Vierzig an der Zahl, an dreiundzwanzig Männern, waren es in den letzten zwei Monaten gewesen. Die Überlebensrate war dabei gar nicht Mal schlecht, mit vierzehn von dreiundzwanzig.

Unerfahren und schon auch erschrocken vor der eigenen Courage, hatte sich unser Held den Alltag im Kriegstreiben ganz anders vorgestellt. Er, der in Wien schon als Student mit Marie Curie hatte fachsimpeln dürfen, sieht sich hier mit einem nie versiegenden Strom Versehrter, Verletzter konfrontiert. Diese Kämpfe sind sein Kampf, und ein schier unerschöpflicher Quell, der das medizinische Personal gefangen hält in einem ohnmächtigen Ringen mit Millionen von Läusen, die mehr Männer und Schwestern dahin rafften als jeder Schuss. Hygienische Unbillen und ein verzweifelter Kampf gegen Infektionen sind ihre unsichtbaren Feinde, bis die echten Feinde auch zu ihnen vordringen und ihr eigenes Leben in Gefahr gerät …

Abwechselnd lesen UND hören. Manchmal mache ich das mit einem Text, aber immer nur dann, wenn ein Sprecher ausgewählt wurde, der mich schon einmal zu begeistern wusste, der Spuren bei mir hinter lassen hat. In diesem Fall ist das Stefan Kaminski, ihn habe ich geliebt für seine Interpretation von T.C. Boyles Wassermusik, auch das ein historischer Stoff, der skurril und bunt bevölkert ist, in dem Kaminski mit seinem Spektrum brillieren kann. Zuletzt habe ich ihn in Alexander Osangs “Die Leben der Elena Silber” erleben dürfen. In Masons Geschichte nimmt er sich zurück, er lässt er der Geschichte Raum, den Raum den sie braucht um zu wirken.

Vor meinem inneren Auge läuft ein Film ab, was für ein Detailreichtum, solch eine Fülle an Eindrücken! Die Hörbuch-Fassung schlägt ungekürzt mit 13 Stunden 17 Minuten zu Buche, in der gebundenen Ausgabe warten 428 Seiten darauf erobert zu werden, auf einer Reise in die Vergangenheit, weit an Kilometern, weit zurück in der Zeit, auf der Suche nach Sühne, auf der Suche nach Vergebung.

Die Seiten, die Sätze, sie flogen für mich nur so dahin. Dies hier ist eine Geschichte, die einen sofort vereinnahmt. Man zappelt und windet sich, will nicht alles wissen und muss doch. All diese Schicksale, ihr Weg … Wir wissen ja, das dieser Krieg ein Ende nahm, aber bis dahin, bis dahin ist es so weit. Gierig frisst er alles was er bekommen kann. Manche mit Stümpfen und Stiel. Andere lässt er blutend am Weg liegen, mit zerütteten Nerven und angefüllt mit Dämonen und Gespenstern, gegen die kein Mittel wirken will.

Liebe in Zeiten des Krieges. Verirrt in einer nebligen Nacht. Schnaubende Braunbären, Husaren und Kosaken, Säbelrasseln und Schüsse, Mann gegen Mann. Die Front rückt heran.

In zertrümmerten Spiegeln sein eigenes Gesicht nicht mehr erkennen. Überrannt, evakuiert, getrennt. Die Hoffnung, als einziger Überlebensmotor. Zwischen Trümmern und Geschrei, dann Stille. Eine Stille, die wehtut in den Ohren und im Herzen …

“Er sah die Umrisse des Kraters im Boden. Das Dach, das sie repariert hatten, hielt immer noch, auch wenn an der Südwand eine Granate eingeschlagen war. Die Natur war ihr gefolgt, Farne und Gräser sprossen aus dem zerborstenen Holz.” (Textzitat)

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