Wie viele Wracks wohl auf dem Grund der Nordsee liegen mögen? Diese Frage hat mich sofort beschäftigt, da war ich in Mathijs Deens neuestem Roman noch nicht weit gekommen. Mit dieser Zahl hätte ich allerdings nicht gerechnet, auch wenn sie nur eine Schätzung ist und sein kann, die ein renommierter Wrackforscher des Archäoligschen Landesamtes Schleswig-Holstein formuliert hat. An die 10.000 verlorene Schiffe könnten es sein. Hölzerne Frachtsegler und Schiffe aus Eisen eingeschlossen. Ein Bermuda-Dreieck des Nordens sei das, lese ich über diese Welt aus Prielen, Strömungen, Sand und Seewind, das Schleswigholsteinische Wattenmeer. Manchmal gibt das Meer ein Wrack wieder frei und bei einer Wattwanderung lassen sich Entdeckungen machen, die sonst nur Tauchern vorbehalten sind. Gefährlich schön ist es hier …
Der Taucher von Mathijs Deen (übersetzt von Andreas Ecke)
Als die Polizei vor der Tür steht ist sie sich diesmal sicher. Er konnte es nicht gewesen sein. Ihr Sohn, siebzehn, war bei ihrem Exmann. Es war ihre gemeinsame Zeit. Sie wollten mit dem Boot raus. Wie gewohnt. Tauchen. Als der Junior plötzlich aufmüpfig hinter ihr im Türrahmen auftaucht und die Polizist:innen unwirsch angeht fährt sie herum. Nicht lange danach, wird ein gekentertes Boot in den Hafen geschleppt. Es ist das ihres Exmannes und der bleibt verschwunden.
Ihr Sohn wandert in den Knast. Zumindest für eine Nacht. Mauert im Verhör. Rotzfrech. Null Respekt. Wer hat ihm das beigebracht? “No face, no case”, höre ich ihn höhnen und die Ermittler stehen trotz Videoaufnahmen mit leeren Händen da. Wie passt das zusammen? Was haben ein Brandsatz und ein toter Taucher miteinander zu tun? Meine Neugier ist geweckt und ich steige ein in die Fragmetzentrifuge, den Personenreigen, der sich mir eröffnet.
Der niederländische Journalist und Schriftsteller Mathijs Deen ist ein Autor, bei dem ich mittlerweile blind zugreife. Seine kundige Art über Meeresdinge zu schreiben und die Figuren die er zeichnet, die von den Lebensströmungen mitgerissen, anlanden wie Treibholz, sind so griffig und nahbar, dass sie bei mir wie alte Bekannte ankommen. Ich mag den Humor, der zumeist trocken, zwischen seinen Sätzen steht, wie er mir zuzwinkert. Das Deen auch Spannung kann, hat er mit seinem Krimidebüt Der Holländer unlängst bewiesen, ich verlinke Euch hinter den Covern im Verlauf dieses Beitrages meine letzten Besprechungen zu seinen Romanen, alle sind im Mare Verlag erschienen, dem ich an der Stelle herzlich für dieses Besprechungsexemplar Danke sage.
In Der Taucher begegnen wir nicht nur Deens Übersetzer Andreas Ecke wieder, sondern auch seinem Kommissar Liewe Cupido. Dem Holländer. Der auf der Insel Texel geborene Ermittler war in seinem ersten Fall noch inoffiziell unterwegs war, kriegt hier richtig zu tun. Das Containerschiff <Medea> hat im Sturm Ladung verloren und das holländische Bergungsschiff Freyja ist auf der Suche nach einem verlorenen Seecontainer, findet stattdessen die <Hanne>. Voll beladen mit Kupfer. Gesunken in den 1950zigern. Hinter diesem Wrack ist so mancher Schatzsucher her, schätzt man den Gegenwert der versunkenen Ladung doch auf über eine Million Euro. Was für ein Glücksfall für Kapitän Sil van Hee und die Mannschaft der Freyja könnte man meinen, würde da nicht, mit Handschellen an die Reeling des Wracks festgekettet, ein toter Taucher baumeln.
Zuständig ist aufgrund des Grenzverlaufs die deutsche Küstenwache, die Mannschaft der Freyja samt ihrem Kapitän spricht allerdings kein Deutsch. Das ruft Liewe Cupido auf den Plan, der sich diesem Fall aber nur widerstrebend annimmt. Bei näherer Betrachtung wird klar warum. Er kennt die Freyja, hat sie verkauft. Es war das Schiff seines Vaters. Der war Fischer. Taucher. Kapitän. Ist ertrunken.
Väter und Söhne. Söhne und Väter. Wer schützt wen und wovor genau?
Liewe taucht. Seit er acht Jahre alt ist. Sein Vater hatte es ihm beigebracht. Geduldig. Dreißig Jahre sind seither vergangen. Dreißig Jahre, in denen er, nachdem der Vater auf See geblieben ist, keinen Taucheranzug mehr anhatte. Heute brauchte er ihn um den Toten und den Tatort in Augenschein zu nehmen. Das macht er selbst. Finde ich großartig. Ich tauche mit ihm ab.
Erinnerungen flackern auf. Melancholie liegt auf den Sätzen und ich lerne Liewe Cupido neu kennen. Mag ihn nochmal mehr, während Mathijs Deen Worte für Schiffsbewegungen, das Meer, das Wetter findet und einsetzt die mich seufzen lassen. Diese Stimmung, diese Szenerien sind es, die mich für seine Krimis einnehmen. Für Deen ist die Natur, die Landschaft nie nur Kulisse, wie eigenwillige Akteure agieren sie in seinen Geschichten. Beeinflussen Geschicke und Lebenswege. Wo im Holländer das Wattenmeer und Extremsportrekorde lockten, ruft hier die Tiefsee mit allerlei Versunkenem Schatzsucher auf ihren Grund.
Die Zerrissenheit seiner Hauptfigur fängt Deen dabei so gekonnt ein, dass ich das Gefühl habe, ich müsse ihn auffangen. Ihm eine Freundin sein. Die zuhört. Falls er denn reden kann. Das Meiste scheint er mir mit seiner Hündin zu teilen. Die ist im zugelaufen und stellt wenigstens keine Fragen, auf die er keine Antwort hat.
Wieder komme ich zu dem Schluß, dass sich das Genre Krimi neu erfunden hat. Vorausgesetzt man fischt nach den Perlen. Eine davon ist Deen für mich. Er steht in dieser Welt für eine konturierte Charakterzeichnung, für Authentizität und für Schauplätze, die für mich schon spannend sind, da ist noch nichts passiert. Was dann geschieht ist so clever konstruiert und eingebettet, das es mir wieder eine Freude war mit zu rätseln. Abgründe auszuleuchten, die Falschen zu verdächtigen, am Ende zu konstatieren, es kommt immer wie es kommen muss. Nichts ist nie nur schwarzweiß.
Auch diesmal hat es visualisiernd wieder eine Landkarte im Schutzumschlag, in die die Schauplätze eingetragen sind und mir hat dieses Setting sogar noch etwas besser gefallen als das des Holländers. Was vielleicht an der Meerestiefe lag und an alldem was sich dort verbirgt. Ist uns Menschlein das Wattenmeer wenigstens in Teilen und ohne Hilfsmittel zugänglich, sieht das mit der Tiefsee ganz anders aus. Beide Fälle sind zudem völlig unterschiedlich und auch unabhängig von einander lesbar. Was sie zu einer wohltuenden Ausnahme im Reich der Krimiserien macht. Eher romanhaft angelegt, ist es die Entwicklung die seine Hauptfigur nimmt, die neben dem, was Menschen tun lässt was sie tun, überaus gelungen ist.
Zuviel Risiko. Blind vor Gier. Mag sein. Hafenmeister schweigen in Freundschaft verpflichtet. Oder guter Geschäfte wegen. Lügen möglicherweise auch. Rache. Wut. So viel Hass. Wo kommt der her? Salz liegt in der Luft. Ich kann es bis hierher riechen. Regen und Wind treiben auf die Küste zu. Es will heute nicht hell werden.
Den Holländer, nennen sie den, der Deutscher ist, nur in den Niederlanden aufgewachsen, Ermittler der Bundespolizei und zuständig wenn Verbrechen Grenzen überschreiten. Dieser Held hat das Potential Kult zu werden und ich wünsche es ihm. Nicht zuletzt auch weil hier so filmreif abgeliefert wird, das die Streamingdienste schon längst Schlange stehen müssten.
Ich eile durch die Seiten. Wer hat den Taucher da hingehängt? Mir wird die Luft knapp. Allein in der Tiefe. Meine Sicht ist eingetrübt. Deen lässt mich aber erst einmal noch im Ungewissen. Das kann er gut. Sich Zeit lassen. Ausholen. Um zu zeigen mit wem man es hier zu tun hat. Schweigen hüllt mich ein. So geht das. Wenn man Leser:innen fesseln will! Echt Klasse! Schon wieder.
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