Der Holländer (Mathijs Deen)

Es ist Jahre her. Da hat es mich gepackt. Das Watt. Es war ein stürmischer Urlaub an der Nordsee. Irgendwo hatte sich eine Bohrinsel losgerissen las man in den Nachrichten. Mit Gummistiefeln und einem Führer lief ich vor Cuxhaven, als der Wind sich gelegt hatte, zum ersten Mal über den Meeresgrund. Ich erinnere mich noch genau an das Gefühl, als ich die Stiefel auszog und mich an einem sonnigen Mittag allein hinaus wagte. Erst nur ein Stück, dann noch ein Stück, bis der Strand weit hinter mir lag. Was für ein Wunder es doch ist, wenn das Wasser sich so weit zurückzieht, dass man den Boden über den es sonst streicht, unter den eigenen nackten Füßen spüren kann. Der Wind, der immer Salz mitführt, stellte mir die Haare auf. Pustete mich durch und meine Gedanken, auch die mit den Widerhaken, lösten sich …

Der Holländer von Mathijs Deen

Heute ist Geeske Dobbengas letzte Fahrt als Grenzschützerin. Die Rente wartet. Sie wünschen ihr einen ruhigen Dienst, aber genau den wird sie nicht haben. Auf einer Sandbank voraus, nahe der Insel Borkum, entdeckt sie durch ihr Fernglas einen schwarzen Fleck, den sie zunächst für einen Seehund hält. Auf den zweiten Blick aber wird klar, dort liegt kein Tier und sie haben keine Zeit zu verlieren, denn die Flut steigt …

Liewe Cupido, sie nennen ihn den Holländer, ist ein Kollege der Bundespolizei See Cuxhaven. Man brauche ihm nix zu erklären, hört Geeske, er finde seinen Weg. Allein, und reden tue er auch nicht viel, helfen aber soll er ihr in diesem Fall, denn sehen, tue er besonders gut, nichts entgehe ihm. Das sagen sie. Über ihn.

Die Insel Borkum hatten sie erreichen wollen. Auf dem Wattweg. Die Grenzen des Möglichen verschieben. Den Mount Everest der Wattwanderer bezwingen. Der Tote, Peter und Aron. Drei Männer, ein Traum und ein Ziel, zu dem nur zwei von ihnen aufbrechen, als Tide und Wetter es nach Jahren endlich zulassen.

Tod durch Ertrinken. Daran könnte man glauben, wäre da nicht diese eine Stelle hinter dem Ohr des Toten. Eine Stelle, die nicht nur für den Gerichtsmediziner so aussieht, als sei sie nach einem harten Schlag entstanden.

Stromaufwärts kann man schwimmen, aber als Leichnam nicht treiben. Ausgeschlossen. Mit dem Wissen wächst der Zweifel, meinte schon Goethe und auch an mir beginnt er zu nagen, je weiter die Befragungen des Mannes voranschreiten, dem sein Partner bei steigender Flut von der Leine gegangen ist. 

Peter Lattewitz hat Angst. In der Dunkelheit. Allein in seinem Netz. Helen ist tot und doch sieht er sie. Das Watt macht das oft mit ihm und nicht zum ersten Mal. Ihn täuschen. Aufgehängt zwischen Stangen harrt er aus. Das machen sie so. Die Profis im Watt. Auf langen Strecken. Sie hängen sich auf, wenn das Meer sich anschleicht. Wenn es sich wie tausend kleine Tiere raschelnd nähert. Sie den Wettlauf gegen die Tide verlieren. Das Licht eines Leuchtturms huscht über den Schlick. Nicht mehr lange, dann wird er von Wasser bedeckt sein …

Mathijs Deen, geboren 1962 in Hengelo, niederländischer Journalist, Schriftsteller und Radioproduzent, der Mare Verlag veröffentlicht heute mit Der Holländer seinen dritten Roman. Zuletzt hatte mich noch seine Novelle Der Schiffskoch komplett begeistert, nicht nur aber auch, wegen der wunderbaren deutschen Übersetzung von Andreas Ecke, der auch diesmal mit am Start ist. Beide, Deen und er setzen dabei das endlose Spiel der Gezeiten mit Worten so großartig in Szene, als sprächen sie mit einer Stimme.

Es sind immer die Menschen die Deen im Blick hat. Ihre Schwächen, ihre Ängste, und das Meer prägt sie in seinen Geschichten mehr als sie wissen. Seine Wellen brechen sich in ihnen. Schlagen sich an Ufern wund, die steil und steinig sind. Unüberwindbar, wie die Gräben, die eine zerbrochene Freundschaft hinterlässt.

So wie hier. Zwischen Wäldern aus Winderrädern, verschwimmenden Staatsgrenzen, Ehrgeiz und Konkurenz. Wo man an Diesel und Krabben glaubt, betet wenn es stürmt. Wo Rechtsmediziner am Seziertisch Shakespeare zitieren und richtig liegen. Ignorante Polizeichefs hingegen liegen falsch, drehen durch, eskalieren und werden beurlaubt. Die Wogen glätten bevor es politisch wird. Soll Geeske Dobbenga und ihre Pensionierung wird erst einmal vertagt, da kann auch Neptun nix machen.

Krimi oder doch mehr Roman? Im Grunde ist diese Einordnung gleich, denn diese Geschichte braucht kein Etikett, ich bin ihr längst ins Netz gegangen. Spannend verstrickt sie ihre Helden in Widersprüche, aber der Holländer geht ihrem Seemannsgarn nicht auf den Leim. Er kann zuhören und er versteht. Auch das, was sie ihm NICHT erzählen, selbst wenn sie lügen, routet ihn sein inneres Echolot verlässlich. Forensisch assistieren ihm fünfzehn Sandkörner, die in der Außenems nicht zu Hause sind. Unglaublich, was ich hier nebenbei lerne!

“Er ist von einer Wolke aus Schweigen umgeben, was an seinen regelmäßigen Begegnungen mit dem Tod liegen mag. Menschen gehen zur Seite, wenn er sich nähert, er hat immer Platz, ohne etwas dafür tun zu müssen.”

Zitat Mathijs Deen aus Der Holländer

Da ist sie wieder: Die Art wie Mathijs Deen seine Figuren zeichnet. Ohne großes Tamtam und doch so intensiv das sie sofort Kontur gewinnen. Wie das Land so seine Sprache. Friesisch herb, und ich höre die Möwen über mir, da bin ich noch nicht einmal am Ende der ersten Seite angekommen. Der Wind bläst mir aber alsbald schon von vorne in Gesicht und zwar heftig. Immer mehr verlieren die, die ich unschuldig geglaubt habe ihre Unschuld. Die Schuldfrage, um sie geht es hier also. Um alte, für andere nicht abgetragene Schuld, um neue die man sich aufgeladen hat …

Mit Genuss habe ich Deens neuen Roman gelesen und langsam, damit ich möglichst lange an ihm habe. An der Stimmung die er erzeugt. Die so wunderbar reduziert ist. An seiner Sprache, die so sparsam und so klar ist wie Glas, das man in der Hand zerdrücken könnte vor unterdrückter Wut. Von ihr scheint es hier reichlich zu gegeben. Wie Deen es schafft, die unter dem Deckel zu halten und das man trotzdem als Leser:in das Gefühl hat, gleicht knallt’s, mochte ich sehr.

Auch diese Einwürfe, mal sind es Twitternachrichten, mal Zeitungsartikel, dann wieder ein E-Mail-Wechsel. Überhaupt scheint die Presse den Ermittelnden immer einen Schritt voraus zu sein. Wie könnte es auch anders sein, streiten die sich doch recht lange über die reine Frage der Zuständigkeit im Ems-Dollart-Gebiet. 

Grenzfragen von 1977 werden aufgeworfen, Kanonenboote zerdeppert und Schleusen geöffnet. Auf Seedeichen wird gelauert, Seile werden zerschlissen, Regenjacken übergezogen und Koordinaten durchgegeben.

Täter oder Opfer? Auf den letzten Seiten folge ich Liewe Cupido bei Nacht und der Flut entgegen ins Watt. Atemlos spannend und mit dem was passiert ist bis zum Schluss hinterm Deich halten, kann Mathijs Deen nämlich auch …

“Verwechsle nie Klarheit mit Wahrheit”, rät eine kluge Frau. Ein Lesefehler macht einen himmelweiten Unterschied, offenbar ist auch das was man mit eigenen Augen sieht nicht immer wahr …

“wie jedes Foto, und sei es auch noch so scharf, nur einen Ausschnitt des Sichtbaren zeigt, weshalb es denkbar ist, dass gerade jemand aus dem Bild gelaufen ist oder dass schon ein paar Schritte hinter dem Fotografen etwas völlig anderes anfängt, das durch die Auswahl des Motivs sichtbar bleibt.”

Zitat Mathijs Deen aus Der Holländer

Der Holländer ist anders als Der Schiffskoch und doch auch wieder nicht. Gemeinsam haben beide Geschichten die richtige Portion Dramatik und eine leicht melancholische Grundnote. Deen ist ein Meister der Inszenierung und seine Protagonisten haben auch diesmal wieder reichlich Ecken und Kanten, sie reiben sich, sind liebenswert kautzig angelegt, hier wie da. Im Holländer dürfen wir länger auskosten, auf mehr Seiten bei seinem Personal verweilen und auch die Spannungsschraube zieht er ein paar Umdrehungen an. Greift hinter sich in die Vergangenheit und holt einen Unfall ans Licht.

Anders und neu für mich ist die Nüchternheit mit der Deen von seinem Holländer erzählt. Er hält mich als Leserin dabei kühl auf Distanz, sowie seine Hauptfigur das in ihrer Wortkargheit mit ihrem Umfeld tut. Ein Kunstgriff, der seiner Geschichte einen ganz eigenen, sehr coolen Sound gibt. Für mich ist das erzählerisches Können, das in seiner Schlichtheit, der Schönheit des Wattenmeeres in nichts nachsteht. Zu recht hat dieser Roman im Mare Verlag ein zu Hause gefunden hat. Wo, wenn nicht hierher gehört er?!

Mein Dank geht an den Mare Verlag für das Besprechungsexemplar.

Verfasst von:

Schreibe den ersten Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert