Wallfahrtsort, Universitätsstadt. Man kommt hier an und steht schon Schlange. Der Jakobsweg endet hier. In Santiago de Compostela und ob mit Bus oder zu Fuß, der Strom der Pilger versiegt offenbar nie. Staunend folgte ich seinerzeit unserem Führer, der uns bei einem Spaziergang kundig durch die Altstadt lotste, die zum UNESCO Weltkulturerbe gehört und wunderte mich, warum man meinte unbedingt im Schatten der Kathedrale Dudelsack spielen zu müssen, das es von den Wänden hallt. Das quäkende Instrument hatten die Kelten einst im Gepäck, erfahre ich und es ist geblieben. Gaita nennen sie es. Überhaupt scheint es hier überall zu lärmen und auch im Inneren der beeindruckenden Kathedrale von Santiago herrscht geschäftiges Treiben. Alles strebt hin zum Reliquienschrein, der die Gebeine des Apostels Jakobus enthalten soll. Wer sich hier zu finden hofft, hat das so hoffe ich, bereits unterwegs geschafft. Denn angesichts dieses Trubels fällt es mir schwer zu glauben, dass es hier gelingen kann. Wer auf der Flucht ist vor inneren und äußeren Dämonen, so wie die Heldin dieser Geschichte, die in Santiago de Compostela zu leben beschließt, findet allerdings in jedem Fall Gleichgesinnte …
“An manchen Orten fällt das Überleben besonders schwer – in der Wüste, auf einer unbewohnten Insel, auf einem Berggipfel, auf dem Mars, in einem Land, in dem Krieg herrscht, im Urwald. Oder in meiner Familie.”
Textzitat Claudia Piñeiro Kathedralen
Kathedralen von Claudia Piñeiro
Buenos Aires. Es kostet sie alles. Ihre Familie, ihren Halt, ihren Glauben und dennoch tut sie es. Sie verleugnet ihren Gott. Am Sarg ihrer jüngeren Schwester. Laut und deutlich. Ganze viermal. Aber man entsagt nicht, das muss sie hart lernen. In ihrer Familie zweifelt man auch nicht, selbst dann wenn es zum Verzeifeln ist. Besonders dann nicht.
Sie war erst siebzehn, ihre jüngere Schwester und wer sie, grausam und brutal, ermordet hat bleibt ungeklärt. Wie kann sie da glauben?
Galicien. Ausgerechnet Santiago de Compostela, tausende Kilometer und ein eisiges Schweigen zwischen sich, zwischen Mutter und Schwester, sucht Lía sich aus um ein neues Leben zu beginnen. Nach dem Tod der Schwester. Mehr als dreißig Jahre verharren sie so, nur zu ihrem Vater unterhält sie einen losen Briekontakt, verbunden sind sie noch durch das Versprechen nicht zu ruhen, bis die Wahrheit den Mord an ihrer Schwester betreffend, ans Licht gebracht ist.
Vielleicht gibt es keinen anderen Ort an dem der Glaubensrummel größer ist als hier am Ziel das Jakobsweges. Seine Kathedrale empfängt täglich tausende Pilger. Viele von ihnen tief gläubig, andere nicht. Sie kommen hierher, am Ende einer Suche, viele am Ende ihrer Kräfte und eines sich Beweisens. Durch körperliche Anstrengung hoffen sie Klarheit zu finden und zu sich selbst. Lías Schwester hatte immer genau hierher gewollt. Gemeinsam mit ihr, die jetzt allein hier gelandet, Arbeit in einer Buchhandlung findet. Die sie, als die Inhaber versterben, übernehmen kann. Sie ist gekommen um zu bleiben, wer hätte das gedacht. Was will sie jetzt hier, drei Jahrzehnte nach allem, ihre ältere, unfehlbare Schwester Carmen …
Wie gehässig kann man sein? Wie viele Tiefschläge verteilen und sich dann noch als gute Katholikin, gute Christin sehen?
Wer alle Verbindungen kappt, hat sein Recht auf Informationen verwirkt, erfährt eben auch nicht das der eigene Vater im Sterben liegt. So einfach ist das. Als wenn das einfach wäre.
Die Vergangenheit hat lange Arme, einen langen Atem und man gehört ihr nicht alleine.
Anterograde Amnesie nennen es die Ärzte. Marcella kann sich seit Anas Tod nichts Neues mehr merken. Steuert mit einem Notizbuch durch ihr Leben. In ihr verschlossen ein Wissen, das die Macht hat alles zu verändern, wäre da nicht ein Versprechen. Eines das sie der toten Freundin gegeben hat.
Sieben mal die Wahrheit. Sieben mal das Erleben des gleichen Geschehens. An dessen Verarbeitung eine Familie scheitert, auseinanderfällt. Wie schwer es oft fällt zu verzeihen, sich zu vergeben, zu vergessen Eine Narbe bleibt.
Lía, die mittlere Schwester, Carmen, die Unbarmherzige große Schwester. Matteo, ihr Sohn. Julián, sein Vater. Marcela die Freundin der Toten. Elmer, einer der Ermittler. Alfredo, Großvater und der Kitt im familiären Gefüge. Sie alle schildern ihr Erleben im Zusammenhang mit Anas Tod.
Mit jeder Sicht, erfährt man mehr. Liegen zu Beginn noch alle Puzzleteil wild durcheinander auf dem Tisch, fügt sich nach und nach ein Teil an das andere und ein Bild entsteht. Das Bild einer grausamen Tat. Ein Bild emotionaler Abhängigkeit. Ein Bild von Scham, Schändung und Vertuschung. Von Verblendung. Tiefer Verzweiflung. Das Bild einer bedingungslosen Freundschaft, das Bild dreier unterschiedlicher Schwestern, das eines Vaters der versucht alles zusammenzuhalten. Das Bild einer Mutter, die an ihrem Glauben klebend, vor allem die Augen verschließt.
Wie in eine Sanduhr geschüttet verrinnt die Zeit, Brücken werden abgebrochen, Gelegenheiten verpaßt. Bis Jahrzehnte danach die Erkenntnis einschlägt wie eine Granate.
Was für eine Geschichte und wie sie erzählt ist!
Klug hinterfragt erzählt Claudia Piñeiro von Glauben und Zweifeln. Religiösem Fanatismus und der Macht der Kirche in unserer heutigen Zeit. Meisterlich schafft sie es die Geschichte durch die ungewöhnlichen Blickwechsel spannend zu halten und dabei gleichzeitig jede Menge Fragen aufzuwerfen. Wie wichtig der Zweifel doch für alles ist an das wir glauben. Wohin die Reise gehen kann, wenn er fehlt. Wie groß die Sehnsucht nach ihm sein kann. Wie klar der Wunsch zu glauben. Besonders im Angesicht des Todes. So deutlich hatte ich das selten vor Augen.
Kathedralen erschien im Original 2020 in Buenos Aires. 2022 gehörte die 1960 geborene argentinische Autorin und Journalistin Claudia Piñeiro mit ihrem Roman “Elena weiß Bescheid” zu den Shortlist-Nominierten des International Booker Prize. Erwarten dürft ihr jetzt ein Familiendrama, das atmosphärisch dicht und spannend wie ein Krimi erzählt ist. Von dieser Autorin will ich gerne mehr, im Unionsverlag, dem ich für das Besprechungsexemplar herzlich Danke sage, gibt es zum Glück Nachschlag.
Aber bleiben wir noch etwas bei dieser Geschichte, die ich kaum aus der Hand legen konnte, die ich einmal angefangen, nicht mehr aus der Hand legen wollte. So clever ist sie kontruiert, ihre Vielstimmigkeit so wunderbar abgestimmt. Die Übersetzung von Catedrales aus dem Spanischen von Peter Kultzen, freier Lektor und Übersetzer aus Berlin, sitzt passgenau wie ein maßgeschneiderter Schuh und unterstreicht jede dieser Stimmen perfekt. Wie die Tonalität jeweils wechselt wenn ein neuer Erzählender die Bühne betritt ist ungemein stimmig und dann dieser wunderschön fotografierte Schutzumschlag dazu, wieder eine echte Perle. Der ruft eigentlich schon laut “bitte lies mich“, da braucht es meine Bekräftigung im Grunde nicht.
Literarisch schickte mich diese Geschichte um die Welt, auf eine Tournee um die beeindruckendsten Kathedralen zu entdecken, die von Menschenhand gebaut wurden um festzustellen, wie klein wir darin sind. Sie führte mich in das Innere eines Familiengefüges, wie auf eine Reise zum Erdkern. Je näher ich diesem komme, desto heißer wird es. Desto schwerer wiegt die Schuld.
<Es gibt im Glauben einen Vorrang des Wortes vor dem Gedanken> lese ich und es wird mit diesen Worten Joseph Ratzingers deutlich, dass der Glaube von außen an Menschen herantritt, das Gesagtes, nicht selbst Erdachtes Priester in die Verpflichtung nimmt.
<Ich glaube an Gott. Aus tiefster Seele, leidenschaftlich mit jeder Faser. Radikal, falls nötig> lese ich und bin erschrocken darüber welche Rechtfertigungen hier gesucht und gefunden werden, um sich selbst ein Handeln zu erklären, das nicht zu entschuldigen ist. Schon gar nicht durch den Glauben. Den Frau in diesem Fall christlich nennt. Wie kann man eine solche Schuld nicht spüren?
Düster. Schwarze Seele. Kalt wie Eis. Manipulativ, sich hinter Argumenten versteckend, die keine sind, wie konnte es nur soweit kommen? Ich eile der Auflösung entgegen, fiebere förmlich und dann … Mit dem Brief eines sterbenden Vaters mündet der Roman in seinen Epilog. Was für ein Herzschlag-Finale! Niemand kennt sie je wirklich. Die ganze Wahrheit. Und die stillen Wasser sind es. Immer.
Schreibe den ersten Kommentar