Grund (Sylvia Wage)

Wer einmal lügt dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht. Wenn das so ist, dann solltet ihr diesen Roman besser nicht lesen, denn er beginnt bereits im ersten Satz mit einer Lüge. Oder auch nicht. Es fällt mir schwer zu glauben was ich da lese. Bereits der erste Satz zündet wie eine Rakete und ich komme nicht mehr los von dieser Geschichte. Auch wenn es sich vielleicht nicht so zugetragen haben mag. Das was hier nach und nach, Schicht für Schicht ans Licht kommt …

“Wahre Macht ist die uneingeschränkte Loyalität deiner Opfer.”

Textzitat Sylvia Wage Grund

Grund von Sylvia Wage

Jetzt stehen sie da. Wiedervereint. Drei Schwestern und schauen auf den Vater. Der da im Loch liegt. Tot. Aus. Vorbei. Auf dem Grund liegt er und sie waren angekommen, Thea und Elli auf dem Boden der Tatsachen, auf dem ihre Schwester schon lange lebte. Eine Schwester, die den Vater auf den Grund eines Brunnens in ihrem eigenen Keller geworfen hatte. Den, also den Brunnen, das gesteht sie jetzt, sie mit elf Jahren eigenhändig und allein zu graben begonnen hatte.

Die Sache mit dem Bonbonglas, war da gerade passiert. Was folgte war eine Strafe getarnt als vermeintlicher Treppensturz. Das Jugendamt, also die kleine, schmale Frau vom Jugendamt war damals dagewesen. Hatte nichts geschnallt. Die Schuldigen nicht gesehen. Weil sie so gut lügen konnte. Sie, die mittlere Schwester. Es gab keinen Grund zu zweifeln. An diesen Eltern. An der Mutter, die vom Sekt auf Wodka und Korn umgestiegen war und die in den Nächten die Zimmertür ihrer schönsten Tochter bewachte. Es gab keinen Grund zu zweifeln. An dem attraktiven Mann, der ihr Vater war und so charmant sein konnte. Man fragte sich höchstens wie ausgerechnet diese Frau an ihn rangekommen war …

“Eine hoffnungslose Ausgangslage scheint ein guter Anfang für eine Geschichte, was mir recht ist, denn wenn ich mit einem dienen kann, dann mit Hoffnungslosigkeit.”

Textzitat Sylvia Wage Grund

Vor rund zwanzig Jahren war er dann verschwunden. Der Papa. Von jetzt auf gleich. Am Heiligabend. Und jetzt war er tot. So musste es für ihre beiden Schwestern aussehen und nicht anders. Als sie am Rand dieses Brunnens standen, der eigentlich keiner war, sondern ein Loch. Drei Meter tief. Gegraben von ihr. Ihrer mittleren Schwester. Eigenhändig. Ich wiederhole mich. Weil es ist und bleibt kurios. Sie schauten auf das was von ihm übrig war. Von ihrem Vater. Abgemagert und mit dem Daumen im Mund wie ein Kind lag er da. Es war schlicht und ergreifend nicht zu fassen, weswegen eine von ihnen jetzt auch genau die verlor. Die Fassung. Sie brauchte eine Ohrfeige. Ganz klar. Die bekam sie auch.

Sylvia Wage, geboren 1974 in Zwickau, lebt in Berlin, gewann mit diesem Roman den Blogbuster-Preis 2020 und ist Preisträgerin des Bonner Literaturpreises 2016. Tätig in der Öffentlichkeitsarbeit im Bereich Pharma und Biotech engagiert sie sich seit Jahren auch literarisch. Ich wünsche mir mehr von ihr, das so ist wie diese Geschichte!

Fasziniert hat mich besonders der Aufbau ihrer Erzählung, ihr Ton, der so plaudernd wie er daher kommt, so unfassbar unter die Haut geht. Ihre Andeutungen und wie sie sie verpackt. Von Kapitel zu Kapitel neu. Immer mehr treibt das Geschehen mich voran, immer tiefer verstrickt sie mich, bis ich nicht mehr wegsehen kann und will. Stille Wasser gründen tief. Hier kann man nicht bis auf den Grund sehen und wie Sylvia Wage mit der Bedeutung dieses Wortes spielt, ist großartig. Wie sie mich immer tiefer in die Vergangenheit führt, während sie mir mit ihren Sätzen wie mit der Taschenlampe den Weg dahin ausleuchtet. Flackernd huscht das Licht über den Boden, die Spinnen, die der Wächter dieses Kellers sind, versuche ich auszublenden. Wort für Wort wird mir klarer was hier passiert sein muss. Dann wieder nicht. Wie sie mich wütend macht. Ich balle meine Fäuste. Kann nicht mehr umblättern.

Zweifel werden sichtbar. Meine Zweifel wachsen. Ich kenne ihn noch immer nicht, den Namen der Frau die mir diese Geschichte erzählt, auch die unbedeutende Kleinstadt, in der ihr zu Hause liegt hat keinen. Es tut auch nichts zur Sache, denn das Grauen im Alltag findet überall eine. Eine Heimat, wenn man es lässt. Mitten unter uns. Unbemerkt von Nachbarn und Verwandten.

An Weihnachten findet hier die Mutter dreier Mädels, plötzlich keinen Grund mehr zu trinken. Es ist das Weihnachten, an dem ihr Mann verschwindet. 

Bruchstückhaft, sprunghaft, garniert mit einem geschickten Frage-Antwort-Ping-Pong zwischen Therapeutin und Patientin schickt Sylvia Wage ihre Leser:innen auf diese Puzzle Tour. Mosaiksteinchen für Mosaiksteinchen glaubt man auf, man meint schon ein Bild zu erkennen, da zerstört sie die Gewissheit.

Überhaupt ist das mit dem Wissen so eine Sache. Findet unsere namenlose Erzählerin. Was weiß man schon was zwischen den Menschen ist? Zwischen Geschwistern, Eltern und ihren Kindern.

Der Grund ist. Ich kenne den Grund nicht. Kenne keinen der Gründe. Nicht das, was die Ursache ist. Von all dem was in dieser Familie geschah. Auch den tiefen Grund des Brunnens, im Keller dieses Elternhauses kenne ich nicht. Ich höre nur von ihm. Von der Erzählerin dieser Geschichte. Die ich zu ihrer Therapeutin begleite. Der sie irgendwie auf der Nase herumtanzt. Warum? Frage ich mich. Würde ich sie am liebsten fragen und es jagt mich durch die Seiten. Hin zu einer Antwort. Die mir die Autorin Sylvia Wage vorenthält. Ich sammle Krumen auf, die sie mir auf dem Weg zur Lösung hinstreut. Verirre mich. Verrenne mich in eine Idee. Liege falsch.

Die Wahrheit. Gibt es nicht. Die eine zumindest nicht. Nicht dass wir das nicht wüssten und doch sind wir permanent auf der Suche nach ihr. Nachdem was richtig ist, was sein darf. Aus unserer Sicht

“Denn darum geht es. Geht es immer. Man kann es nicht beschreiben und nicht benennen, und was man nicht beschreiben, nicht benennen kann, das kleidet man in Gründe, Gründe, die aussprechbar und logisch und nachvollziehbar sind.”

Textzitat Sylvia Wage Grund

Eine Mutter triftet ab. Mehr und mehr. Das Vergessen greift nach ihr. Macht sie rastlos. In allen Gliedern. Als wäre sie auf der Suche nach dem, an das sie sich nicht erinnert. Da hilft nur Spazierengehen. Weit und lange. Bis alle Glieder müde sind.

Diese Geschichte ist wie eine Beichte. Oder wie ein modernes Märchen. Denn, wenn sie nicht gestorben sind, leben sie weiter. Suchen weiter nach dem Grund. Schütten einen Abgrund zu. Kommen zu sich. Zur Ruhe. Vielleicht. Hoffentlich. Endlich.

Schwelgt so wie ich in einer grandiosen Ungewissheit in die Sylvia Wage uns hineinschubst. Es muss nicht immer alles klar sein, oder zu Ende erzählt. Ganz im Gegenteil! 

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