Der Abstinent (Ian McGuire)

Die letzte öffentliche Hinrichtung in England kostete Michael Barrett am 26. Mai 1868 vor rund 2.000 “begeisterten” Zuschauern in London das Leben. Barrett war als Tatverdächtiger eines Bombenanschlags zum Tode verurteilt worden. Mittels eines mit Schießpulver gefüllten Bierfasses wollte man im Gefängnis im Londoner Stadtteil Clerkenwell seinerzeit irische Inhaftierte frei sprengen. Eine Belastungsprobe für die englisch-irischen Beziehungen bei der 12 Menschen starben und 120 verletzt wurden. In dieses Jahr entführen uns dieser Kriminalroman und sein Autor, Ian McGuire, und auch seine Geschichte startet spektakulär auf einem Schafott. Hier stehen gleich drei Männer mit der Schlinge um den Hals und erwarten ihr Ende, und nicht wenige haben sich am Fuß dieser “Bühne” versammelt …

Der Abstinent

Manchester, England, 1867.

Dieser Henker ist ein Stümper. Soviel steht fest. Für alle Beteiligten. Drei irische Rebellen baumeln nebeneinander am Galgen, einer von ihnen noch immer röchelnd und zappelnd, die Menge der Schaulustigen stöhnt auf und hält hörbar die Luft an, als der Hilfshenker nochmals Hand anlegt.

Sie haben sie zu Märtyrern gemacht. Sein Einwand, seine Bemerkung, war ungehört verhallt wie in einem leeren Raum. Noch ist die Rache der Iren fern, rein räumlich betrachtet, aber schon auf dem Weg. Aus Amerika haben sie den “Fenian” Stephen Doyle geschickt. Er soll den Engländern zeigen wozu die Iren fähig sind. Zum Widerstand, zum Kampf bis aufs Blut. Noch ist er wackelig auf den Beinen nach der achttägigen Überfahrt, aber das wird sich ändern. Bald schon. Sehr bald. Ihm werden sie folgen. Er ist der geborene Anführer und er hat mehr als eine Rechnung in der alten Heimat offen …

Sie kamen aus dem Hinterhalt. Schlugen ihn im Hauseingang nieder. Polizisten mussten auf so etwas gefasst sein, er aber war es nicht. Sie trafen ihn hart und er kam erst einmal nicht mehr aus dem Bett. Die Spuren dieses Angriffs zeichneten sich noch Tage später auf James O’Connor ab. Aber er widerstand der Betäubung die aus der Flasche wieder laut nach ihm rief. Noch. Denn James O’Connor ist ein Trinker, aber abstinent. Sein Weg in die Abstinenz führte ihn von Dublin nach England, nach Manchester um genau zu sein, wo die englische Polizei, für die er jetzt arbeitet, kein gutes Haar an ihm lässt und die Iren, weil er für die Engländer arbeitet auch nicht …

Düster startet sie diese Geschichte von McGuire und finster sind ihre Szenen. Seine Charaktere geben sich geheimnisvoll, rau und kantig, er beschreibt sie in Bildern ausgesprochen griffig.

Wer die Serie Peaky Blinders kennt und mochte so wie ich, der wird auch diesen Roman mögen. Seine Schatten, seine atmosphärische Dichte. Das McGuire eine solche erzeugen kann, hat er schon sehr eindrucksvoll mit seinem Roman Nordwasser bewiesen. Auch in Der Abstinent glänzt er mit seinem diesbezüglichen Können.

Ian McGuire, geboren, 1964 in Hull/England, war mit Nordwasser für den Man Booker Prize nominiert. Die New York Times wählte ihn zu einem der zehn besten Bücher des Jahres 2016 und die BBC plant eine Verfilmung als Serie mit Colin Farrell in der Hauptrolle. Mehr Ritterschlag geht kaum und auch mich hatte diese Geschichte begeistert.

McGuires aktueller Roman, übersetzt aus dem Englischen von Jan Schönherr, der für mich mehr stimmungsvolles Sittengemälde als Krimi ist, hat mir ebenfalls gefallen, wenn er auch an Nordwasser für mich nicht ganz heran reicht. Der spielt für mich in einer ganz eigenen Liga. Läuft außer Konkurrenz, einfach seines Settings wegen.

Nordwasser hatte ich seinerzeit ebenfalls in der Hörbuch-Fassung genossen, großartig ist sie eingelesen von Wolfram Koch. Meine Besprechung dazu findet wer mag hier, klickt auf das Cover für einen Absprung:

                     

Trauerzüge im Nieselregen. In rumschwangerer Luft werden Pläne geschmiedet. Pferdewagen holpern über nasses Pflaster, Gaslaternen beleuchten die nächtlichen Straßen. Es gibt Hundekämpfe und jede Menge tote Ratten. Wetten und Alkohol satt. Man darf nicht zimperlich sein, will man hier bestehen.

Ein toter Polizist will gerächt sein, was in diesem Fall nicht gerecht ist, nicht gelingt.
Männer wie O’Connor tragen hier Melone, andere haben Spielschulden und finden Arbeit in einer Gerberei, die zum Himmel stinkt. Als Spion muss man sich eben auch die Hände dreckig machen. Können. Spione hingegen werden geächtet und erwischt man sie, bespuckt man auch ihre Familien. Da ist die irisch-katholische Gemeinschaft gnadenlos.

Bierfeuchte Lippen und nein, hier hat keiner etwas gehört. Sie tun ihm Unrecht. Verschwören sich gegen ihn. Täuschen und quälen. Der Alkohol, winkt ihn wie ein Retter zu sich herüber. Aber er ist ihm kein Freund, er ist tückisch und das hätte er wissen müssen. Kennt er ihn doch gut genug und lange …

Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen, mit Wilderei kommt man nicht einfach so davon. Hier nicht. Auch dann nicht, wenn es nur ein Fisch ist und man einfach nur Hunger hatte. Ein Deal, um der Strafe zu entgehen. Eine Mine, gefördert wird hier Eisenerz, Lore für Lore in der Dunkelheit.

Ian McGuire, schont seine Figuren nicht. Wechselvoll ist die Geschichte die er ihnen anhängt. Die Sache, die Bruderschaft, dafür lässt er sie alles geben, auch ihr Leben.

Showdown. Im Angesicht des Todes. Rache ist Blutwurst. Vielleicht aber auch nicht …

Bei Ian McGuire hat der Himmel die Farbe von Staub und Asche, bellen Vorgesetzte Befehle, die das Offensichtliche nicht einsehen wollen. Wird verraten und verkauft, geliebt, gelitten und gestritten. Mit ihm geht man auf Zeitreise, in der ungekürzten Hörbuch-Fassung 538 satte Minuten lang und er ist unser Zeitreiseführer:

Tobias Kluckert, geboren 19. September 1972 in Ost-Berlin. Als Profi im Hörbuch-Geschäft ist er mit historischen Stoffen bestens vertraut. Fans des Genres werden ihn aus den Hörbüchern der Ken Follet Romane kennen. Filmfans als deutsche Synchronstimme von u.a. Bradley Cooper, Joaquin Phoenix oder Gerard Butler. Kluckert fängt einen sofort ein. Sowohl seine Stimme, seine Tonlage, als auch sein Vortrag passen exzellent zu dieser Szenerie. Abwechselnd gelesen und gehört, bin ich immer wieder und immer gerne zum Hörbuch zurückgekehrt. Wollte in der Garage angekommen nicht aus dem Auto aussteigen, weil ich an ihm hing wie eine Klette. Tobias Kluckert liest diesen Stoff schlicht und ergreifend genial vor. Durch ihn wird jeder Interessenkonflikt spannend, innere Kämpfe werden vor meinen Ohren austragen, mit offenem Visier. Durch Kluckerts Stimme hindurch kann ich in McGuires Figuren hineinsehen. Bei jedem Streit, jedem Verdachtsmoment, bei jeder Verleumdung. Er verstrickt mich, ich bin mittendrin, nicht nur dabei. Zerrissen, kampfbereit und integer bis zum bitteren Ende, stehe ich ihm im Rücken. Grandios!

Mein Dank geht an Hörbuch Hamburg für dieses Besprechungsexemplar.

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