Zeit der Wildschweine (Kai Wieland)

Der frühe Morgen ist meine Zeit. Eine Nachteule bin ich nie gewesen. Wenn die Welt noch schläft und noch Stille über ihr liegt, wie eine Decke, dann atme ich durch. Mit einem ersten Kaffee im Freien, den Tau und den Tag begrüßen. Auf Reisen in einer fremden Stadt, oder auf dem Meer, liebe ich diese Zeit, wenn alle sich in ihren Betten noch einmal umdrehen am meisten.

Diese Zeit gehört mir allein. Noch ist der Takt des Tages der vor mir liegt, aus halben und ganzen Stunden, nicht zu spüren. Noch darf ich einfach hier stehen und darf vom Unterwegssein träumen. Davon meine Uhr abzulegen. Davon einen Tag ohne Termin verbringen zu dürfen …

In Gedanken reisen, das ist derzeit noch die sicherste Form des Unterwegsseins. Kai Wieland vertraue ich mich dafür blind an, mit ihm war schließlich schon in Amerika. Jetzt bin ich gespannt, und hoffe ich begegne keinem Wildschwein. So Auge in Auge – da hätte ich dann doch so meine Bedenken …

Zeit der Wildschweine von Kai Wieland

Erst trafen sich ihre Blicke im Spiegel. Dann trafen sich beide im Boxring und Leon wurde ziemlich verdroschen. Er war kein Boxer. Sein Gegner auch nicht. Janko war Fotograf, aber dafür wütend. Sehr und das tat weh. Einige Blutergüsse später, beim monologischen Bier, in der Kneipe im Tal, erfuhr Leon auch erst einmal nicht mehr über seinen Gegner, irgendwie kommen diese beiden da seltsam vor, sie stoßen sich ab und ziehen sich an, wie zwei Pole eines Magneten …

Sand knirscht zwischen meinen Zähnen, hier am Strand von Dünkirchen, wo ich auf der Suche bin nach dem Meer, das der Strom der Gezeiten gerade mitgenommen hat. Nachdenklich stapfe ich durch den knöcheltiefen Schlick. Hier weht ein Wind der mich zweifeln lässt und mir ist eiskalt.

Wie bin ich nur hier gelandet? Zwei junge Männer begleite ich auf auf ihrer Reise nach Frankreich. Beobachte sie bei ihrem Kräftemessen, das als ein körperliches, mit Fäusten, begonnen hat und das sich dann auf einer anderen Ebene abspielt. Leon scheint den Eindruck zu haben, Janko hat ihm etwas voraus, er will ihn unbedingt beeindrucken. Mit Worten. Mit seinen Worten. Mit den Worten, die er findet um auszudrücken was beide erleben.

Kai Wieland, geboren 1989 in Backnang, studierte Buchwissenschaft und arbeitet für ein Verlagsbüro in Stuttgart. Seine Sprache ist es, die mich auch dieses Mal vom ersten Satz an gekriegt hat. Wie schon in seinem Roman “Amerika”. Ich erwische mich immer öfter wie ich meine Augenbrauen hochziehe und beim selig grinse. So mag ich das!

Wie beiläufig, wie herrlich unverkrampft und wie er trotzdem auf den Punkt formuliert. Ich begrüße mich zurück in der Wieland-Welt und frage mich, nicht zum ersten und wahrscheinlich auch nicht zum letzten Mal, wo nimmt der Mann das nur her? Das ist doch unverschämt, wenn es einem so leicht fällt, über alltägliches wie z.B. über das Unkraut in Nachbars Garten so zu schreiben. Andere, also ich, sitzen da und formulieren, korrigieren und buchstabieren und er schüttelt seine Satzschätzchen aus dem Ärmel als wäre das nix. Ich bin da einerseits glühend neidisch und andererseits so dermaßen froh, das es mir vergönnt ist, ihm das quasi vom Füller weg lesen zu dürfen, dass ich alle Hüte davor ziehe, die ich mir aufsetzen kann.

So beginnt Wielands Geschichte dann auch nicht mit einem Paukenschlag, sie beginnt mit Faustschlägen, die aber haben auch ihre Tragweite und ihre Konsequenzen. Sind kurz hinter dem einleitenden Kapitel noch nicht absehbar. Noch nicht …

Schicksals- oder Zweckgemeinschaft? Fotograf und Reisejournalist. Zwei Kampfgesellen unterwegs …..

Wieland zieht für seine Figuren Parallelen mit David Finchers “Fight Club” und mit der Kultfigur Tyler Durden. Brad Pitt verführt im Film Edward Norton zum Kampf, lässt die Fäuste sprechen und zeigt ihm, als seine dunkle Seite, wie die Welt wirklich ist. Okay, denke ich bei mir. Wenn das so ist, dann wird das hier ein wilder Ritt. Habe ich mich getäuscht?

Die Geschichte kippt. Ich bin zu Gast bei Vater und Sohn in den wohlgeordneten Verhältnissen eines Witwers. Haus mit Garten und so.

Dann eine Geisterstadt. In Frankreich, in der Nähe von Dünkirchen. Geschichten aus ihr herausschälen, die die Menschen berühren, so lautet Leons journalistischer Auftrag. Erst ein einziges Mal bin ich durch eine solche Geisterstadt gelaufen, das ganz buchstäblich, das war aber nicht im sonnigen Süden. Sondern in Spitzbergen, in einer verlassenen Bergbausiedlung, die einst zu Russland gehörte. Der marode Charme und die Unverfrorenheit einen Ort einfach so sich selbst zu überlassen, lösen in mir immer noch einen inneren Widerstreit aus. Ein faszinierender Nachmittag war das, als ich damals durch dunkle Flure stolperte und Scherben unter meinen Füßen knirschen hörte, derweil mir die arktische Kälte in die Knochen kroch. Mögt Ihr mal schauen? Dann kommt hier ein kurzes Foto-Intermezzo, der Stimmung wegen …

Ich bin mir nicht sicher, ob ich diesen Leon verstehe. Auch nicht ob ich ihn mag. Vielleicht liegt das daran, das sein Verhalten mich an das meine erinnert. Besonders wenn es um seine Beziehung zu seinen Eltern geht. In einen solchen Spiegel zu schauen ist nicht immer schön. Zeigt aber, wie gut es Wieland gelingt, Figuren zu erschaffen mit denen man sich identifizieren kann.

Ein paar Seiten weiter dann entscheide ich mich Leon zu mögen. Er weiß, was es bedeutet allein zu sein. Nicht nur, weil er nachts um die Maisfelder irrt, Selbstgespräche führend, in der Hoffnung in den Saugängen endlich einmal einem Wildschwein zu begegnen. Als wäre das, das verwegenste was einem passieren kann.

Wer hat die besseren Mittel um eine Geschichte zu erzählen? Der Fotograf oder der Schriftsteller? Ich bin geneigt zu sagen, mich selbst fassen besonders dann, wenn es um Kriegsberichte geht, Bilder mehr an. Bei der Lektüre von Wielands Roman fühlte ich mich auch zurück versetzt nach Amsterdam. Vor Jahren wollte ich dort die Oude Kerk, im Herzen der Altstadt besichtigen, weil man Mann und ich diese Kirche aus einem Roman von John Irving kannten. Ein kalter Novemberwind blies uns in ihr Schiff und als sich das Portal hinter uns geschlossen hatte, befanden wir uns inmitten einer Ausstellung prämierter Bilder von Kriegsfotografen. Ich wollte sie gar nicht schön finden, und doch tat ich es. In mir tobte es, weil man das wahrscheinlich nicht darf. Dieses verwirrende, dieses aufwühlende erreichen manchmal auch Worte, aber gerade für solche Szenen entfalten Bilder in mir eine andere Wucht.

Vielleicht konnte ich auch deshalb das intellektuelle Gerangel zwischen Janko und Leon in Wielands Roman so gut verstehen. Jeder versucht zu fassen, was er mit seinem inneren Auge sieht. Beeindruckend kleidet Wieland diese Auseinandersetzung in seine schönen Sätze. Nutzt Metaphern, die ihm vielleicht auf einem seiner zahlreichen Spaziergänge am Rande von schwäbischen Feldern eingefallen sind. Ich selbst wohne ja auch auf einem Dorf und da habe ich noch eine Parallele zu Wieland entdeckt. Auch ich spaziere meist, wenn es mir zuviel wird, wenn mein Schädel brummt, wenn ich blockiert bin, am Rand eines Feldes entlang. Auch wenn bei uns kein Mais wächst, liebe ich es wenn der Wind über die Halme streicht und die Fläche vor mich sich wiegt wie ein gräsernes Meer. Den Wald habe ich dabei immer in Griffweite und Wildschweine, ja die hat es hier bei uns auch. Reichlich sogar und manchmal, wenn der Wind günstig steht, kann ich sogar das Heulen der Wölfe aus dem nahen Wildfreigehege hören …

Wer jetzt unter Euch ist, der Kai Wieland noch nicht kennt, dem sage ich, wenn man im Schweinekontext bleiben will, sprachlich hat er für mich hier echt die Sau raus gelassen. Einfach saugut finde ich diesen, seinen zweiten Roman. Die szenischen Wechsel zwischen familiärem Rahmen und Reiseflucht, auf die er mich mitnimmt, haben mir ausgesprochen gut gefallen. Seine Texte, seine Metaphern, haben eine so sanfte Eindringlichkeit, seine Figuren eine Verletzlichkeit, die bei mir immer tief geht. Also, egal wo ihr Wieland begegnen wollt, ob in Frankreich oder in seinem Amerika. Lest ihn! 

Mein Dank geht an den Verlag Klett Cotta für dieses Rezensionsexemplar.

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