Insel (Ragnar Jónasson)

Das Wasser tief blau und glatt wie ein Spiegel. Die Ufer pechschwarz, teils zerklüftet, teils rund und weich, erschaffen aus erkalteten Wellen glühender Lava. Zwei Kontinentalplatten treffen sich hier, driften auseinander und verbreitern täglich einen Spalt durch den man heute und hier durchlaufen kann. Kaum ein Strauch, kein Baum hält meinen Blick auf, der Halt sucht, während ich meine Augen beschatte, die grandiose Schönheit dieser Landschaft in mich aufzunehmen versuche. Steht etwa da ein Haus auf dieser kleinen Insel? Wo legt hier bitte das nächste Boot ab?

Insel von Ragnar Jónasson

1987 und ein Abenteuer im Nirgendwo, genauer gesagt in einem Sommerhaus auf den isländischen Westfjorden. Eine Vollmondnacht und eine heiße Quelle fernab einer Hütte, die Platz hat für zwei. Verliebt wie Benedikt war folgte er seiner wagemutigen, ortskundigen Freundin blind, auch über rutschige Steine und einen reißenden Fluss. Vollkommen alleine, auf einem zum Schlafloft ausgebauten Dachboden bei Kerzenlicht. Wenn es nur nicht so verdammt kalt wäre. Dazu eine Spukgeschichte. Von einem Urahn, einem Hexer, der auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war. 

Die Kerze erlischt. Fraglos weht Geist durch das Haus. Sein Geist? Ein markerschütternder Schrei und eine katatonisch in der Ecke sitzende Gestalt. Sie hätten vielleicht doch nicht alleine herkommen sollen …

Ragnar Jónasson, geboren 1976, isländischer Erfolgsautor, sein Kniff bei dieser Trilogie ist ja schon wie in meiner Besprechung zu Dunkel (Teil eins) erwähnt, das man sich in der Zeit mit seiner Hauptfigur Hulda rückwärts bewegt. Teil 1 startet mit ihr in der Gegenwart. Teil 2 führt uns in die erste Etappe ihrer Vergangenheit. Jónasson nimmt in seinem ersten Band schon einiges vorweg. Während in den üblichen Krimis der Showdown am Ende einer Reihe auf seine Leser wartet, platzt der Autor hier schon gleich zu Beginn damit heraus. Was soll da noch kommen, fragt man sich und dann lässt sich Jónasson auch noch Zeit beim Weitererzählen. Viel Zeit mit seiner Figurenzeichnung. Er nimmt sich Zeit für Randfiguren, Zeit für die Fälle die es für Hulda Hermansdóttir im Laufe ihres Berufslebens zu lösen gilt. Zeit beim Aufdecken der Tiefschläge, die sie als Mensch wegzustecken hat. Als Figur hat sie dabei die Fäuste immer oben. Sie arbeitet immer an ihrer Deckung. Dafür hat sie meinen Respekt. Dafür mochte ich sie. 

Dafür wie sie mit Verdächtigen umgeht, wie sie Befragungen steuert auch. Ein wenig erinnert sie mich dabei an die Fernsehkommissarin Bella Block, die ich verkörpert von Hannelore Hoger auch sehr gerne mag. Weil auch Hulda sich bei aller Abgeklärtheit, bei aller Abgrenzung die ihr Beruf erfordert, immer treu bleibt und wie sie sich das notwendige Mitgefühl erhält, das es braucht um mit Menschen wie mit Menschen umzugehen, das ist schon eine Hausnummer.

Wer sich Jónassons Hulda-Trilogie annimmt, sollte also nicht in die Thriller-Falle tappen. Äußerlich und von der Cover-Anmutung her meint man nämlich einen klassischen nordischen Krimi in der Hand zu halten. Nordisch stimmt, klassisch nicht, auch wenn schön ordentlich ermittelt wird. In diesem seinem Mittelteil setzt Jónasson nicht auf Spannung zum Nägelkauen. Er erzählt ruhig und getragen von Täuschung und von Fassaden, die es aufrecht zu erhalten gilt. Um jeden Preis.

Man muss sich einlassen auf das Ruhige, auf diesen eher gemächlichen Erzählfluss, auf die eher romanhafte Fallgestaltung, die nicht reißerisch oder blutgetränkt ist. Dann wird man sie mögen diese Reihe und wer weiß, wie sehr die Isländer an Gestalten glauben, die in Zwischenwelten herrschen, der wird auch verstehen. In mir vibriert da etwas, weil es Orte gibt, die mystisch sind. Orte an denen etwas in der Luft zu liegen scheint, das man mit dem Verstand allein nicht fassen kann. Solche Orte gibt es auf Island und nicht nur deshalb will mein Herz wieder dorthin zurück. So gerne.

Zeit lässt sich Jónasson eben auch für seine Landschaftsbeschreibungen, die mich ins Schwelgen geraten lassen, die machen, das ich mich erinnere an die bizarre Schönheit Islands. So viele meiner inneren Bilder hat er mit seinen Beschreibungen wieder geweckt. An einen Nachmittag, den ich auf dem Pingvellirfeld oder zwischen zu Stein erstarrten Trollen und Feenwesen, im Lavafeld Dimmuborgir unweit des Myvatn Sees verbringen durfte. Wer Lust hat, findet meine Reise-Logbücher hierzu übrigens, inklusive Fotostrecke, ebenfalls auf dem Blog, klickt auf die nachfolgenden Collagen und sie führen Euch zu zwei von insgesamt sechs Beiträgen.

Kommando zurück, ist ja gut, ich reiß’ mich zusammen, zurück zu Jónasson und Hulda. Auch in “Insel” ist man wie bei “Dunkel” auf zwei Zeitebenen unterwegs. Ich begegne einer jüngeren Hulda, die mit fünfzig Jahren, aber noch immer versucht ihre Karriere in Schwung zu bringen. Die auf dem Drahtseil zwischen Job und Familie balanciert, und die als Frau versucht ihren Mann zu stehen. Ich sitze mit ihr in ihrem ersten eigenen Auto und genieße dieses Stück neu gewonnener Freiheit. Suche mit ihr nach ihrem Vater, reise mit ihr in die USA. 

Mit dem Trinken zum Trost oder aus Gewohnheit fängt man besser gar nicht erst an. Viel zu leicht kommt man nicht mehr davon los. Viel zu schnell ist das dann der Grund dafür, dass aus einem Familiengefüge der Kitt herausfällt, wie aus einem alten Fenster.

Ich erlebe eine Verhaftung am frühen Morgen. Hege einen Verdacht, der für mich noch nicht zu fassen ist. Ein Familienvater wird vor den Nachbarn und seinem wütend schreienden Sohn noch im Schlafanzug abgeführt. 

Zeugenmanipulation, da kann man schon mal die kalte Wut kriegen, wenn bei Ermittlungen passend gemacht wird, was passen soll. Oder nicht?

Eine Entscheidung über Leben und Tod. Schlusspunkte wie Paukenschläge setzen. Das kann er auch der Ragnar Jónasson. Seine Abgründe sind stets hier am tiefsten und dabei meine ich nicht den, den man sehen kann während man bäuchlings auf einem Felsvorsprung liegt …

Ein zehnter Todestag führt alte Freunde zusammen. Geistererscheinungen, unheimliche Stimmen und die Zeit steht still. So wie eine Lüge, die zwischen den Freunden ausgeharrt hat, stumm, all die Jahre. Der Kreis der Verdächtigen scheint klein und der Apfel fällt ja bekanntlich nicht weit vom Stamm. Aber gilt das auch für einen Mörder? Die Unschuldsvermutung gilt doch so lange bis eine Schuld zweifelsfrei bewiesen ist? Oder doch eher nur solange, bis man einem Unschuldigen die Schuld in die Schuhe geschoben hat?

Es geht um ungesühntes Unrecht. Es geht um einen alten Fall, der auch das Sprungbrett war für einen Kollegen der Hulda mittlerweile auf der Karriereleiter überholt hat.

Es wird Zeit. Es ist Zeit. Zeit, um aus dem Schatten zu treten …

Katja Bürkle, geboren 1978, deutsche Schauspielerin, über sie habe ich schon in Teil eins geschrieben, das sie der Grund ist, weshalb ich auch weiterhin dieser Geschichte hörend folgen will. Es war schön, so nahtlos mit ihr wieder anknüpfen zu können. Mich fallen lassen zu können, auf den weichen Teppich ihrer Stimme. Mich von ihrer Melancholie wieder einfangen zu lassen. Frau Bürkle und Hulda, bald ist es soweit, dann hören wir uns wieder. Ich freue mich auch darauf Island dann wieder in Gedankenbildern bereisen zu dürfen und ich bin gespannt wohin es mich dann verschlagen wird. Werden es wieder die Westfjorde sein? Oder werde ich dann unterwegs sein in Reykjaviks Straßen? Gegen Akureyri hätte ich auch nichts einzuwenden, vielleicht erhasche ich diesmal ja einen Blick auf einen Wal im Fjord, zu dieser Jahreszeit sollen sie dort doch zahlreich sein …

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