Zeit der Schuld (Deepti Kapoor)

Neu Delhi. Hauptstadt Indiens. Regierungssitz. Stadt mit der höchsten Feinstaubbelastung weltweit. Dicht gefolgt von Peking. Sommertemperaturen von über 45° sind keine Seltenheit mehr. Die schwerwiegende Veränderung des Klimas führt zu immer weiter fortschreitender Trinkwasserknappheit.

Straßenkinder leben zwischen Ratten und Lumpen, werden von Bettlersyndikaten rekrutiert. Man muss davon ausgehen, dass in ganz Indien mehr als 19 Millionen Kinder obdachlos sind. Als ärmste Stadt des Landes gilt Kolkata (ehm. Kalkutta) am Delta des Ganges. Hier hat man Mutter Teresa begraben.

Kaum zu glauben: Zählt man die Millardäre der Welt, rangiert Indien auf Platz drei, hinter China und den USA, und die Schere öffnet sich weiter.

Um diese Schere zwischen Reich und Arm, geht es auch in dem epischen, lesens- und hörenswerten Roman der indischen Journalistin Deepti Kapoor. Es geht um Macht, organisierte Kriminalität und Korruption. Aber ich greife vor …

Zeit der Schuld von Deepti Kapoor

Arm trotz Arbeit. So viel Hoffnung. So wenig davon erfüllt sich. An den Bordsteinen von Delhi. Hier schlafen sie nachts, Obdachlose, Heimatlose, Gelegenheitsarbeiter.

Februar 2004, Neu Delhi. Ein Mercedes ist in rasender Fahrt über den Bordstein gesprungen und hat sie getötet. Diejenigen, die an dieser Stelle schlafend die Nacht verbracht hatten. Fünf Menschen ohne Obdach, darunter eine schwangere 18-Jährige und ihren Mann, die erst gestern in der Stadt angekommen waren. Auf der Suche nach einem besseren Leben. Als Todesfahrer wird ein junger Mann angeklagt. Das Strafmaß soll zwei Jahre betragen, wegen fahrlässiger Tötung. Aber ist der Mann der hier im Gefängnis sitzt und auf sein Urteil wartet auch der Schuldige? 

Bereits beim Einstieg in den Roman von Deepti Kapoor wird deutlich um was es hier geht. Dies hier wird keine Wohlfühlgeschichte. Ich mag solche klaren Ansagen, solche Paukenschläge, eine kraftvolle Sprache, die ungeschönt und ungeschminkt von Wahrheiten erzählt, die wir, die wir im Wohlstand leben, nur allzu gerne ausblenden.

Cut und Schnitt nach 1991. Die Geschichte springt dreizehn Jahre zurück.

Keiner Kaste anzugehören, deshalb mit Füßen getreten werden, kein Recht auf Bildung zu haben, die Schule in die man gehen darf, wenn auch nicht lange, – ein Witz. Der Vater wird erschlagen, der Grund dafür lächerlich. Die Mutter macht Schulden, die ihr Jüngster abarbeiten muss. Sie verkauft ihn. Er wird abgeholt, abtransportiert, auf einem Lieferwagen mit Käfig auf der Ladefläche und ihre Tochter bezahlt des Rest mit ihrer Unschuld, die sie an die Mörder ihres Vaters verliert.

Brutal sind die Schilderungen dieses Lebens in bitterer Armut. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, wie kann man so grausam sein?

Herzen werden zu Stein. Schneebedeckte Berge, Gebetsfahnen und Nepal am östlichen Horizont. Glück im Unglück? An einem Ort der nie Heimat wird. Auch nach sieben Jahren nicht. So lange bleibt Ajay hier und er lernt. Kochen, zu dienen, zu schweigen und schießen. Vergisst wo er herkommt. Ist loyal bis zur Bedingungslosigkeit und zufrieden. Bis die Erinnerung zurückkommt.

Deepti Kapoor, geboren 1980 in Moradabad/ Uttar Pradesh, in dem nordindischen Bundesstaat an der Grenze zu Nepal, der das legendäre Taj Mahal beheimatet, hält mich in Atem und wühlt mich ganz schön auf mit ihren drastischen Schilderungen aus dem indischen Lebensalltag. Die studierte Journalistin schreibt bildhaft und mit Wucht, lässt die exotische Schönheit Indiens abseits von Slums und Ungerechtigkeit mehr als nur Kulisse sein. In ihrerem Geburts-Bundesstaat Uttar Pradesh startet auch ihre Geschichte, Ajay ist hier geboren.

Als Leser:in erlebt man ihr Geschehen, die Motivationen und Abhängigkeiten ihrer Figuren, aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Beginnt zu verstehen. Wie sich alles mit allem verbindet. Man hasst und liebt, urteilt und vergibt.

Fluchten. Nichtorte, Slums und Schwemmland. Zwangsräumungen, Umsiedlungen, ein Flussufer soll zum Fenster in die Welt werden. Wer stört muss weg. Ehrgeizige Bauprojekte stehen für ein Neu Delhi der Zukunft. Es klingt zu schön um wahr zu sein. Ist es auch. Denn Geld vergeht. Land bleibt.

Dem Sohn aus reichem Haus zu verfallen ist ein Klischee. Hier passt es, betont die in Indien vorherrschenden Machtstrukturen und die tiefe Kluft, die dort zwischen Arm und Reich immer tiefer wird. Betont die Dominanz einer Männerwelt, in der Kühe heilig sind, Frauen und Kinder aber offenbar keine Achtung verdienen.

Mein Gewissen, dein Gewissen, wer ist nutzbringend für wen und wann?

Lügen, Leerstellen, Verachtung und Schuldzuschreibungen. Wer ist der Mann der aus Ajay geworden ist? Ich sehe ihn aufwachsen, kämpfen mit seinen Erinnerungen, mit Heimweh und Vermissen. Sehe ihm dabei zu wie er zum ersten Mal tötet. Wer der Junge war weiß ich, aber wer ist dieser Mann? Sie haben ihn zu einem Mörder gemacht.

Launenhaftes Schicksal, Sündenböcke, Gangs, Übergriffe und ein Gefängnis voller Unschuldiger. So sagen sie. Da weiß sich einer zu wehren und das Blatt wendet sich. Das tut es hier oft und genau das hält mich an der Geschichte wie eine Klette. Es geht um Schuld und um die Frage wer schuldig ist, nicht im Sinne einer Anklage, sondern wahrhaftig.

Bilder entstehen in meinem Kopf. Pralle, bunte Bilder. Von Dekadenz und Reichtum. Von Armut, Elend und Scheiterhaufen. Von einem dienstbaren Geist, der es versteht sich unsichtbar zu machen. Einem machtvollen Name, der Türen öffnet. Von Macht und Unterwürfigkeit. Von Clan-Familien deren Arme weit reichen und die man besser nicht zum Feind hat.

Drei Figuren, drei Lebenswege eine Geschichte. Beschützer. Forderungen. Abhängigkeiten.

Sunny, von Beruf Sohn der Familie Wadia. Kaputt. Innerlich wie äußerlich. Ajay geboren in Armut, aufgestiegen durch Fleiß und Klugheit, loyal bis in die Haarspitzen und Neda, Journalistin auf der Suche nach der Wahrheit. Hat sich die Autorin mit ihr, so wie ein Hitchcock in die Geschichte hineingeschrieben? Immerhin trägt sie den gleichen Nachnamen. Kapoor, oder der ist in Indien das was bei uns die Müller, Meier oder Schulze ist. Ihr Zeit der Schuld zeigt ein Indien voller Gegensätze und legt die Verbindung ihrer drei Figuren wie in Ketten. Eine explosive Mischung und ein konstant ansteigender Ereignisbogen fesselten mich, Kapoor hat mich auf eine exotische Reise in das schlagende Herz einer Clan Familie, in ein sehr zeitgenössisches Indien mitgenommen. Eine Empfehlung für alle, die die autobiografische Geschichte Shantaram von Gregory Roberts mochten, einen kraftvollen, bildhaften Erzählstil mögen und die einmal ganz tief abtauchen wollen. Vielleicht auch hörend, die Hörbuchfassung des Romans ist bei Random House Audio erschienen, ich bedanke mich für ein Besprechungsexemplar.

Florian Schmidtke, geboren 1982 in Münster, Schauspieler für Theater und Fernsehen, Hörbuchsprecher, liest Zeit der Schuld ein und ich bin ihm satte 19 Stunden lang an den Lippen gehangen. Schmidtke beeindruckte mich insbesondere durch die kühle, erzählerische Distanz, die er in seine Stimme legt, die Figuren und ihre Schicksale rückten mir so noch näher. Was paradox klingt, wirkt wie eine wunderbare Symbiose zwischen Vortrag und Text. Für mich hat die Geschichte dadurch nochmals gewonnen, ihre Dramatik verstärkt. Was grandios ist. Aus diesem Grund höre ich Bücher! Dieses hier ist großes Kino für die Ohren und trifft einen mit voller Wucht. Mich würde nicht wundern wenn da Hollywood, oder mindestens ein namhafter Streamingdienst anklopft.

Um die geschickt verschachtelte Handlung mit bewegten Bildern einzufangen. Die Mörder, das Gold, die Dun Hills, die Tequila-Fluten, die Kokain-Lines, die beringte Hände und das Elend. 

MIt der passgenauen Übersetzung von Astrid Finke überraschte Kapoors Geschichte mich besonders durch ihren Aufbau, ihre Rückblicke, die unterschiedlichen Ebenen. Zu erleben wie der Kreis dieses epischen Reigens, den die Figuren durch ihr wechselseitiges Erzählen von Hand zu Hand geben, sich schließt hat mich beeindruckt und spannend unterhalten. Wehe denen, die in den Einflussbereich dieser Gangster hier geraten und ihren Interessen im Weg stehen. Gleiches gilt für diese strippenziehenden, toxischen Väter, deren Söhne sich verlieren, während sie nichts mehr wollen, als ihnen zu gefallen. Bevor die Bombe platzt, denn das tut sie. Immer. Ganz profan kann da ein Umschlag die Lunte sein. Eine Entführung alles verändern …

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