Sommer bei Nacht (Jan Costin Wagner)

*Rezensionsexemplar* 

Donnerstag, 27.02.2020

Es gibt Nächte, die entscheiden ein ganzes Leben. Sie zerschneiden es in ein Davor und in ein Danach. Weil in ihnen Ereignisse lauern, die unumkehrbar, unfassbar sind. Die sich schwer bis gar nicht aushalten lassen. Todesnachrichten verbergen sich gerne in den Schatten und wer immer etwas plant, das im Geheimen bleiben soll, der tut es meist bei Nacht. In lichten, milden Sommernächten hingegen, zögern wir das zu bett gehen hinaus, halten uns an dem voran gegangenen Tag fest. Was aber, wenn der Tag uns dann einholt, oder das was in ihm geschehen ist …

Sommer bei Nacht von Jan Costin Wagner

Der Junge blieb verschwunden. Jannis, fünf Jahre alt. Zusammen mit seiner Mama und seiner Schwester war er hergekommen. Es ist Sommer und eine Grundschule in Wiesbaden-Biebrich veranstaltet heute einen Flohmarkt. Bunte, Stände hat es, versprengt auf der großen Wiese vor der Schule. Ein Hausmeister in blauem Overall. Mütter, die zusammen stehen, sich besprechen in ihrer Ratlosigkeit. Zwei Ermittler betreten am Nachmittag diese Szenerie, Christian Sandner und Ben Neven. Ein Frage und Antwortspiel beginnt. Eine Stunde lang hatte man zuvor nach Jannis gesucht, dann die Polizei gerufen. Das war jetzt drei Stunden her. 

Ein großer grauer Teddy auf dem Rasen und ein Mitschüler, der einen Mann gesehen hatte, mit gleich zwei solcher Bären unter dem Arm. Kaum bis nichts haben die Ermittler in Händen, während die Sorge bei der Mutter, Schwester und dem Vater von Jannis wachsen …

Jan Costin Wagner, deutscher Schriftsteller, geboren am 13. Oktober 1972 in Lagen/Hessen, lebt in Frankfurt/Main und Finnland, der Heimat seiner Frau. Er ist der Poet unter den deutschen Krimi-Autoren. Mit dieser Meinung stehe ich nicht alleine da. Seine Romane um den finnischen Kommissar Kimmo Joentaa gehören zu meinen liebsten. 2017 war das, da habe ich mich ein bisschen in den wehmütigen Kimmo und auch in Sakari verliebt. Bis heute klingt diese Geschichte in mir nach. Auch, wegen der unglaublichen Hörbuch-Fassung und wegen des Vortrages von Matthias Brandt, den ich auf immer mit Joentaa verbinden werde.

Auch in seiner neuen Reihe ist Jan Costin Wagner eng bei seinen Figuren, leuchtet in ihr Innerstes. Das macht seine Kriminalromane immer zu mehr als nur einem Fall. So leicht kann man das, was in seinen Geschichten geschieht nicht zu den Akten legen, es fasst einen an, macht was mit einem, in Wiesbaden anders als Finnland.

Kapitelanfänge mit Hall aufgenommen. Diese Textschnipsel irritierten mich zunächst, ich kann sie nicht einordnen in den Gesamtkontext, sie wirken wie Fremdkörper. Dann erkenne ich es und ihn, den Zusammenhang, so wie Christian Sandner, der ermittelt …

Eine dem Augenschein nach intakte Familie, in die der Blitz eingeschlagen hat. Helikopter steigen auf, Wärmebildkameras kommen zum Einsatz, Überwachungskameras werden ausgewertet, Vertriebsspuren von Plüschtieren geprüft, Taucher gehen ins Wasser. Die Statistik sagt, das nur fünf Prozent der Kinder die vermisst werden auch verschwunden bleiben. Eine hohe Aufklärungsquote also, die die Tragik des Einzelfalls jedoch nicht im Geringsten zu mildern vermag.

Wagner beobachtet aufmerksam, er vermag es immer, uns hinter die Fassaden seiner Protagonisten blicken zu lassen, ihre Gedanken vor uns offen zu legen. Sein Ben Neven ist kein zweiter Kimmo Joentaa, sondern eine komplett eigenständige Figur. Ich muss leider sagen, mich hat er eher abgestoßen als angezogen. Mit den Dämonen, die ihn umtreiben kann und will ich nichts anfangen. Entscheidet selbst, wo ihr da steht …

Schon eher bin ich da bei Ludwig Landmann, den Mathematiker haben sie den Kommissar a. D. genannt. Unter diesem Namen war, ist er bekannter als unter seinem eigenen. Unzählige Fall-Gleichungen, meist mit mehreren Unbekannten, hat er gelöst. Er wird Ben zum Ratgeber und erkennt auch in ihm eine verborgene Dunkelheit.

Eine solche Dunkelheit liegt über der ganzen Geschichte, die nichts mit der aus schlaflosen Nächten zu tun hat, etwas Böses lauert in ihr, das sein Gesicht gut zu verbergen versteht. Ein Text, wie eine unausgesprochene, schwelende Drohung, ich habe das Gefühl, ich bin auf der Suche nach einem Monster, bin unruhig. Eine Spur führt zu einem Cold Case, auch in diesem Fall, von vor einem Jahr war ein Teddy zurück geblieben und ein Junge verschwunden …

Wie Wagner hier einzelne Wörter aus den Sätzen in den nachfolgenden wieder aufgreift, den kommenden Gedanken daran entlang spinnt, mochte ich sehr. Da ist sie wieder, diese melancholische Nachdenklichkeit, die zwischen Wagners Sätzen steht. Seine Handschrift – unverkennbar. Wechselnde Perspektiven sorgen für tiefer gehende Einblicke. Die deutlichsten aber bleiben die der Polizisten, die Sicht der Eltern und des Geschwisters sind auf wenige Sequenzen reduziert. Auch lässt Wagner die Tätersicht und Motivation im Dunkeln. Er entschuldigt nicht, er lässt weder Verständnis zu, für die, die hier fehlgeschaltet sind, noch gibt er mir Gelegenheit Hass zu entwickeln. Ich bleibe bei denen zurück, die verständnislos den Kopf schütteln. Bei denen, die sich fragen, wie Schutz vor solchen Übergriffen überhaupt aussehen kann.

Wer im Glashaus sitzt sollte nicht mit Steinen werfen? Zweifel sind gesät. Was hatte man übersehen? Was versäumt? Ein Müdigkeit, die man tief in den Knochen spürt, weil die Nächte einem keine Ruhe mehr lassen. Akribisch arbeiten die Beamten gegen die Uhr. Jeder Tag der verstreicht, jede Stunde, die vergeht ist gegen sie. 

Die Presse meldet sich zu Wort. Gewalt gegen Kinder, ein mediales Theater, mit den politisch Verantwortlichen wird inszeniert. Rechtfertigungen und Erklärungsversuche für das Unerklärbare sind die Folge. Ein Leben zu beenden, oder eines zu traumatisieren, noch bevor es richtig begonnen hat, hat eine Grausamkeit, die sich schwer in Worte fassen lässt. 

Man spürt, das hier eine neue Reihe startet, Wagner nimmt sich Zeit für seine Hauptfiguren, und gibt ihnen allen reichlich Gepäck mit. Drei Kollegen, drei Tragödien. Neigungen von denen niemand wissen darf. Flashbacks der Figuren führen mich immer wieder zurück.

Wie eine innere Gegenüberstellung für die Betroffenen fühlt sich das an, und bei aller Verehrung für Wagner und seinen Stil, um ein Haar hätte er seinen Plot darunter begraben. Dies hier ist kein Wohlfühl-Roman, er lotet finstere Abgründe aus, so kann Wagner seine Stärke ausspielen und das tut er gekonnt. Er erzählt nie einfach nur vorwärts, taucht immer tief und sprachlich hat er mich bislang nie enttäuscht. Auch diesmal ist er poetisch, sanft und eindringlich zu zugleich. Formuliert mit einer Behutsamkeit und Präzision vor der ich den Hut ziehe.

Er führt uns in den Wald, ins Dickicht und zu einer Lichtung, wo alles beginnt und alles endet. Vermischt Wut mit Traurigkeit, führt an Grenzen und darüber hinaus, schafft Verbindungen, die mich aufhorchen lassen. “Das ist der Ort, an dem ich kaputt gemacht wurde”. Ein einziger Satz zerreißt den Schleicher, der bislang über dem Fall lag. Öffnet Augen, auch die meinen …

Dieser Kriminalroman ist ein Bruch zu Wagners Kimmo Joentaa Reihe, neue Ermittler, ein neuer Schauplatz. Wenn man mich vor die Wahl stellt, ob ich dem Duo Neven/Sandner erneut folgen will, oder lieber bei Kimmo in Finnland bleibe, dann gehöre ich eindeutig zu Team Joentaa. Denn in Summe hat mich sein “Sommer bei Nacht” nicht so recht abholen können. Vielleicht standen mir meine hohen Erwartungen auch im Weg.

Konsequent hingegen finde ich es, neuen Sprecher für die Hörbuch-Fassung einzusetzen und die Wahl ist auf ihn gefallen:

Torben Kessler, geboren 1975 in Bielefeld, Schauspieler, ist ein Profi im Hörbuch. Ich habe ihn in der Lesung von Arno Geigers Unter der Drachenwand kennengelernt. Er meistert auch diesen Text, findet einen Vorleserhythmus, der zu den kurzen, prägnanten Sätzen Wagners passt. Man hört im gerne zu, er hält sich zurück, gibt dem Stoff Raum, setzt Akzente bei den zahlreichen Gedankenfäden, konfrontiert uns, ist nachdenklich, versteht es Trauer und Verzweiflung auch stimmlich zu transportieren.

Mehr zu Wagners Romanen, und meinen Besprechungen dazu, nach einem Klick auf das nachfolgend eingefügte Cover. Was Sommer bei Nacht anbelangt führt Euch der Klick zu mehr Infos rund um diesen neuen Titel von ihm:

Verfasst von:

4 Kommentare

  1. Petra
    16. Juli 2020

    Liebe Heidi, mir ging es da ganz ähnlich. Diese Figur wollte ich auch nicht verstehen. Deshalb hänge ich eher an der geplagten Seele des Kimmo Joenta. Vielleicht magst Du ihn ja mal kennenlernen. LG von Petra

  2. Heidi G
    16. Juli 2020

    Habe dieses Buch heute fertig gehört, nachdem ich einige Male abbrechen wollte. Wohl wegen Ben Neven. Wohl wissend, dass seine Charakterzüge eher wahrheitsgemäß sind als man so im Fernsehen sieht. Das ist vielleicht das Abstoßende.

    Weiter habe ich den Eindruck, daß es vor allem ein Kennenlernen der Hauptfiguren ist, deswegen würde ich den nächsten Teil auch eine Chance geben.

  3. Petra
    14. Juli 2020

    Wie schön Heidi! Ich freue mich. Jan Costin Wagner kennen lernen ist immer ein Gewinn und Torben Kessler zuzuhören auch. Wünsche Dir beste Unterhaltung und ist doch wunderbar, dass Du Kimmo Joenta noch entdecken kannst. LG von Petra

  4. Heidi G
    14. Juli 2020

    Danke Petra! Ich liebe Torben Kessler, für mich ein Grund dieses Buch zu hören.
    Die Joenta Reihe kenne ich nicht, kann deswegen auch keine hohe Erwartungen haben und bin gespannt 😃

    Liebe Grüße,
    Heidi

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