Shy (Max Porter)

Was soll ich schreiben über Shy? Was soll ich denken über Shy? Er ist ausgerückt in der Nacht mit einem Rucksack voller Steine auf dem Weg zum Schulteich. Scheinbar ist er in einem Internat oder einer Besserungsanstalt.

Da ist so viel Wut. In ihm. Sein Kopf so voll. Kommt nicht zur Ruhe. Er will dass es aufhört. Das Schwirren seiner Gedanken. Aber das tut es nie. Ich komme nicht klar mit ihm. Er kommt nicht klar mit sich. 

Womit er gut klar kommt ist die Musik. Mit Beats und Bässen. Die stellen keine Fragen. Haben keine Erwartungen an ihn. So wie alle anderen. Reden soll er. Verarbeiten. Sich zusammenreißen. Endlich. Mal. 

Ich bin zugegeben nicht gut klar gekommen mit dieser Novelle, auch wenn ich sie in einem Rutsch durchgelesen habe. Was Sinn macht. Weil sie spielt auch nur in einer einzigen Nacht und umfasst sehr knapp beschriebene 143 Seiten, verdichtet wären es wohl eher um die 120. Eine Erzählung, manchmal auch ein Langgedicht, das mich an den Text eines Rap Songs erinnert. Ei, weh, dachte ich erst, das halte ich nicht lange aus. Hab’ ich aber doch. Weil ich mag ja schon moderne Lyrik, auch sprachlich anspruchsvolle Texte und experimentelle Satz- und Textkonstrukte. Das kann man hier genießen. Quasi darin baden. Womit ich mir aber immer schwer tue, sind allzu viele Fragmente, die mir den Erzählfluss stören und davon hat es hier reichlich. Sie halten mich auf Abstand. Ich komme nicht ran an Shy. Andere offenbar auch nicht. Mitschüler, Lehrer. Er selbst kann nichts mit sich anfangen. Das wieder ist überaus clever gelöst von Max Porter. Der so den nicht enden wollenden Gedankenstrom seiner Hauptfigur zu kanalisieren sucht. Es mal schafft, dann wieder nicht. Deshalb bleibe ich dran. Verstehe. Die von Porter gewählte literarische Methodik und der Inhalt wirken wie aus einem Guß. Aber einlassen muss man sich und loslassen auch. Nicht erwarten ein paar Seiten weiter doch noch einen klareren Einstieg oder einen ausformulierteren, erklärteren Plot mit weniger offenen Fragen zu erwischen.

Max Porter, geboren 1981, studierte Kunstgeschichte, meinen Beitrag von 2019 zu seinem Roman Lanny (verlinke ich Euch am Ende des Beitrags nochmal). Auch er ist auf seine Art besonders, aber anders als Shy und auch wieder nicht. Denn auch diesmal muss ich konstatieren: Geradeaus schreiben ist nichts für Max Porter. Lieber setzt er die Syntax ausser Kraft und verblüfft seine Leserschaft. Mit Trauer ist das Ding mit Federn erschrieb sich der ehemalige Buchhändler und Lektor seinen Durchbruch. Mir fehlt diese Geschichte noch in meiner Sammlung.

Wer seiner aktuellen Erzählung Shy das Label Coming of Age Geschichte aufklebt, tut ihr unrecht. Auch wenn ein junger Erwachsener die zentrale Figur ist und wir ihm mitten auf einer Reise zu sich selbst begegnen, er sich ungeliebt, unverstanden fühlt. Sein Kopf randvoll ist mit Zweifeln. Dieses Etikett wäre mir zu eindimensional.

Wie in einem Kammerspiel betritt Shy die Bühne, die Max Porter ihm bereitet und er konfrontiert seine Leser:innen, in seinem vierten Roman, mit der Gedankenwelt dieses Problem Teenagers. Der am liebsten Musik hört, via Walkman, für sich, kifft und davon träumt, das ihn eins der Mädels hier erhört. Was auch schon mal geklappt hat. Aber irgendwie auch nicht so richtig. Oder davon träumt, die Köpfe seiner Mitschüler auf Zaunpfähle zu spießen. Bindungen zu knüpfen und zu festigen scheint nicht sein Ding. Das haut er uns jungendsprachlich salopp um die Ohren. Zwischen Videospielfantasien und Pornos. Seine Aggressivität, die woher kommt?

Man kann an der Welt zerbrechen. An einem Elternhaus das es gut mit einem meint oder eben nicht. An einem, dass man hat oder eben nicht. Man kann denken was man will. Machen was man will. Schön wärs.

Jemand fragt ihn oder er sich:

“Ist es nicht anstrengend, du zu sein?

Ist es. Glaube ich. Versuchen wir mal in seinen Schuhen zu stehen und ein paar Schritte zu gehen.

“Was hat er nicht alles angestellt – gesprayt, gekokst, geraucht, geflucht, gestohlen, gestochen, geschlagen, gelauert, Reißaus genommen, einen Escort geschrottet, einen Laden zerlegt, ein Haus verwüstet, eine Nase gebrochen, den Finger seines Stiefvaters durchstochen, aber geschlichen ist er schon länger nicht mehr. Das stresst.”

Textzitat Max Porter <Shy>

Im Kein & Aber Verlag (herzlichen Dank für das Besprechungsexemplar) ist diese Novelle, die sich für einen Poetry Slam eignen würde, am 17.08.23 in deutscher Übersetzung von Matthias Göritz und Uda Strätling erschienen. Für beide muss dieser verknappte Text, der bereits kurz nach Veröffentlichung des englischen Originals auf Platz 1 der Sunday Times Bestenliste geklettert ist, eine echte Herausforderung gewesen sein. Porter hantiert mit den unterschiedlichsten Stilen und Ausdrucksweisen um auszudrücken was in Shy vorgeht. Hierfür die passenden Entsprechungen zu finden stelle ich mich schwierig vor. Besonders für die jugendsprachlichen Einwürfe.

Die Leerstellen, die seine titelgebende Hauptfigur empfindet, spiegeln sich in seinem Text. Der stellenweise ein Lückentext ist. Porter lässt diese Lücken absichtlich stehen. Als Leserin habe ich sie mit meinen Fragen gefüllt. Was er vielleicht auch beabsichtigt. Den Diskurs.

Sein Shy wird polarisieren. Da bin ich mir sicher. Mir fällt auf, dass ich teilweise mit der Faust in der Tasche gelesen habe. Shy ist eine Seele, die man mal kräftig schütteln und dann wieder umarmen möchte. Schwer zugänglich und auch herzzerreißend. Ob mir seine Geschichte gefallen hat? Da bin ich uneins mit mir.

Vor einem solchen Erzählmut aber habe ich Respekt. Auf eine derart abgefahrene Idee muss man auch erst einmal kommen. Sie ist fraglos kreativ und lässt, wie ein abstraktes Gemälde verschiedenste Deutungsarten zu. Das muss nicht gefallen. Es reicht, wenn wir an Sätzen hängen bleiben, über die wir nachdenken. An denen wir uns reiben. Müssen.

Und das tut man. Garantiert. Habe ich getan.

Diese Geschichte zu lesen ist so, als laufe man barfuß über Glasscherben. Man fühlt sich nicht wohl dabei. Aber am Ende des Scherbenbettes angekommen ist man froh es gewagt zu haben.

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