Der amerikanische Mathematiker Edward N. Lorenz lese ich, habe die Chaostheorie aufgestellt. Mir klingelt sie als Schmetterlingsparadox ganz hinten im Ohr, und ich erinnere, dass sie in etwa besagt, bereits die geringfügiste Veränderung der Ausgangsbedingungen könne gravierende Auswirkungen auf den weiteren Verlauf von Ereignissen haben. Lorenz sprach davon, dass das Flattern eines Schmetterlings in Brasilien, die Atmosphäre so beeinflusse, das in der Folge ein Wirbelsturm in Texas entstehen könne. Daran musste ich denken, als ich den Falter auf diesem Buchcover sah, halb im Schatten, halb im Licht und von zwei Freunden auf dem Einband las, denen eine Begegnung ihr Leben durcheinander brachte. Ob Autorin und/oder Verlag und die Illustratoren diese Assoziation haben gründen wollen? Finden wir es heraus:
Drifter von Ulrike Sterblich
Wenzel Zahn und Marco Killmann “Killer” sind Freunde. Beste Freunde. Lange schon wie man hört und auf dem Weg zu einem Pferderennen als sie in der Bahn der Frau im goldenen Kleid mit Hund begegnen. Also genauer gesagt, fiel sie Wenzel auf und das weil sie las. Also vielmehr was sie las. Ein Buch von Drifter seinem Lieblingsautor, das er noch nicht kannte und er kannte sie alle. Die Drei. Veröffentlichten. War Fan der ersten Stunde, dieses Autors, dessen Identiät ein gut gehütetes Geheimnis war. Einer möglichen Klärung und seiner Empörung aber kam ihre Haltestelle dazwischen und er musste aussteigen, die Frau sah auf, ihn an und schickte ihnen einen Blitz hinterher, den sie von unten nach oben in die Luft zeichnete. War die irre?
Als Killer dann der Blitz tatsächlich trifft fängt alles an. Sie waren unter den letzten Gästen auf der Rennbahn gewesen, als plötzlich Wolken aufzogen und Wenzels Freund unbedingt und kurz auch einmal über die Bahn galoppieren wollte. Das musste der Sekt sein. Oder das Bier. Oder beides. Es glühte kurz, dann ging er zu Boden und seine Haare, waren danach nicht das Einzige, was nicht mehr so war wie zuvor …
Ulrike Sterblich, geboren 1970 in Berlin, aufgewachsen in Berlin-Neukölln, Politologin und Moderatorin veröffentlichte 2012 ein Memoir mit dem Titel “Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt”, in dem sie von ihrer Kindheit im geteilten Berlin erzählt. 2021 erschien ihr erster Roman “The German Girl“, den sie als Portrait der USA in ihren Sechziger Jahren anlegte. Der Rowohlt Verlag verlegte jüngst in seinem Programm Hundert Augen, den neuesten Coup aus ihrer Feder “Drifter” (ich bedanke mich für das Rezensionsexemplar). Ein Satz der von mir sehr verehrte Karen Duve auf dem Umschlag, es handele sich um “ein Erweckungsbuch, und man schreibe sich Sätze heraus, um sie auswendig zu lernen und dann ständig vor sich hin zu murmeln.”
Ein Erweckungsbuch also. Wen oder was erweckt es? In mir zunächst einmal die Erwartung etwas das besonders ist zwischen den Sätzen und besondere Sätze zu finden. Am Ende wird es nicht um eine religöse Erweckungen gehen. Oder vielleicht doch? Killer hat seinen Schlüsselmoment als ihn der Blitz trifft und es bleiben ihm nicht bloß körperliche Nebenwirkungen, sondern etwas klärt sich in ihm. Sein Freund Wenzel, der zu ihm wie zu einem Helden aufsieht, schaut ihm bei seiner Verwandlung, seiner Werteumkehr staunend zu und erlebt gleichzeitig eine eigene. Fühlte ich mich erweckt durch das Lesen dieser Geschichte? Hmhhm?!
So einfach ist das alles nicht, denn einfach kann Ulrike Sterblich nicht. Sie kann Humor und Situationskomik und Karrikieren, mitgezählt habe ich nicht, aber auf Seite vierzehn ist mir aufgefallen, das ich offenbar störend oft aufgelacht hatte. Mein Mann Andreas hatte mich jedenfalls erstaunt über seine Brille hinweg angeschaut. Lachen und ich bei Büchern? Sonst eher nicht. Ganz und gar unverkrampft bietet Sterblich für mich Verblüffung in ihrer reinsten Form und auch wenn ich jede Menge Schubladen kenne, in die man Bücher so stecken kann, ihres passt in keine! Was grandios und wunderbar ist, zu keiner Zeit albern, trotzdem man lachen muss und sie hat mir damit ein waschechtes etikettenloses Lesehighlight beschert. Also irgendwie auch eine Art Erweckung. Weil so kann man eben auch über eine tiefempfundene Freundschaft, über Werte in unserem Miteinander, Veränderungen, Immobilenspekulatnten und das Jungsein schreiben.
Es war mir eine helle Freude diesen Text mit Haut und Haaren zu verschlingen, das im Originalton. Denn hier hat kein Übersetzender Worte angelegt, jede Silbe stammt aus erster Hand und ich finde es so bemerkenswert, dass mir die Vergleiche ausgehen. Sterblich hat einen Ton drauf, der modern, salopp, entspannt und trotzdem ausgefeilt daher kommt. Es wirkt auf mich, als schüttele sie das alles einfach so aus dem Ärmel. Authentisch und ehrlich lässt sie ihre Figuren auftreten. Wenzel den Anti- und Killer den Superhelden ihrer Geschichte. Nur der Himmel und Frau Sterblich wissen, wie die beiden zusammengekommen sind, Wenzel kann sich auch nicht mehr erinnern, nur das es noch vor dem Kindergarten war.
Höhere Töchter, Traumata und Liebeskummer. Wo Licht ist da ist Schatten. Dieser Drifter, seines Zeichens Autor und vielzitierter Ratgeber Wenzels, geistert derweil wie eine graue Eminenz durch die Geschichte. In seinen Sätzen erkennt Wenzel Weisheit, ich finde ja schon die Titel seiner Bücher komplett daneben. Aber so ist das eben. Über Geschmack lässt sich trefflich streiten und alles hängt mit allem zusammen oder auch nicht. Wer will das schon sagen? Ich für meinen Teil bin der charmanten Frechheit dieses Textes erlegen. Er fängt Szenen so ein, dass man sie wie auf einem inneren Film vor sich hat. Er sitzt bis auf die letzte Silbe hinter dem Komma. Wie kann man bitte so auf den Punkt schreiben? Ich lieb’s und hab’ es echt arg gefeiert! So erfrischend, so hintergründig. Bei jeder Begegnung mit der geheimnisvollen Unbekannten, habe ich erwartungsvoll mit Wenzel die Luft angehalten.
Moment, da ist sie wieder. Die Frau in Gold. Diesmal mit ohne Hund. Auf der Party von Wenzels Freunden. Sie kann lesen in ihm wie in einem offenen Buch?! Es bleibt ein Rätsel warum sie weiß, was sie weiß und das ist, irgendwie einfach alles. Was echt unheimlich ist. Sie teilen sich eine Mitfahrgelegenheit, zu Hause fehlt Wenzel dann sein Portemonnaie. Er kriegt es wieder. Von dieser Frau. Die Vica heißt, sie hat ihn an der Angel und Killer entgleist. Schmeißt sein Handy hin und den Job. Die Wohnung. Die Nachbarschaft.
“So, dachte ich, jetzt ist es amtlich: Bei Killer hatte sich was verschoben. Es ist nicht so, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber er hat das Geschirr neu sortiert.”
Textzitat Ulrike Sterblich Drifter
Weiter geht es mit Hausmeistern, die Angstgegner waren, für Kinder, die sich auf Decken setzten um ohne Gewerbeschein Spielsachen zu verkaufen. Jeder Menge Seitenhiebe auf die Medienlandschaft, das liebe Internet. Mit kleinen gelben Vögeln und blauen Schmetterlingen in ein und derselben Voliere. Anlagestrategien, Traumkarrieren und Traumfrauen, respektive mit Frauen von denen Wenzel träumt. Killer kriegte sie alle. Vor dem Blitz jedenfalls. Jetzt wird höchstens noch gebabysitet. Für die Nachbarn, während Wenzel ein Maklerhonorar einstreicht und anschließend bei seinen Eltern auf der Terrasse “ins bunte Geblüh” schaut, Zitat Sterblich. Die Welt der Jungs steht Kopf. Ihre Ordnung hat sich verändert. Sonst scheint das niemand zu bemerken.
Zweifelhafte Investmentköder, die über einen Videokanal nur an Abonnenten herausgehen. Ein Imperium hinter den Kulissen. Vica, die Geheimnisvolle, steht ihm vor und Wenzel, zwar im Grunde seines Herzens misstrauisch, geht ihr auf den Leim während sich sein bester Freund innerlich und räumlich immer weiter von ihm entfernt. Aufgeben wollen beide ihre Freundschaft aber nicht, mit Hilfe von buntem Salat, allerlei Getränken und einer umstrittenen Fernseh-Talkshow, nehmen sie neu Anlauf, suchen sie nach ihrer gemeinsamen Ebene.
Zufälle gibt es nicht. Alles im Leben folgt einem Zweck. Könnte sein. Muss aber nicht. Wir verstehen nicht alles was geschieht. Oder warum. Ich bin nicht sicher, ob ich alles verstanden habe was Wenzel da erlebt. Was Killer antreibt. Macht aber nix. Diese Geschichte und Ulrike Sterblich haben mir ein Geschenk gemacht. Ich konnte mich fallen lassen. Das ist ganz selten und deshalb umso kostbarer. Ich schlage die letzte Seite zu und verlassen Wenzel und Killer und ihr kurioses Universum. Etwas verwirrt, aber auf das allerbeste unterhalten und in jedem Fall habe ich Ulrike Sterblich jetzt fest auf meinem Zettel. Was für eine Schreibe! Aber das sagte ich ja bereits.
Schreibe den ersten Kommentar