Die Postkarte (Anne Berest)

Die französische Autorin Anne Berest begibt sich in dieser autofiktionen Roman, mit Hilfe ihrer Mutter Lélia Picabia, auf Spurensuche in ihrer eigenen Familienchronik. Lélia, die ohne Vater aufwuchs, Vicente Picabia, nahm sich das Leben, da war seine Tochter drei Jahre alt, erfuhr von ihrer Mutter Myriam wenig bis nichts über das, was diese im Zweiten Weltkkrieg erlebt hatte. Anne Berests Großmutter zog es vor zu schweigen. Über Angehörige, die sie verloren hatte, über ihre Zeit im französischen Widerstand. Eine Postkarte die mehr als ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende in die Hände ihrer Mutter gerät, weckt in Anne Berest den Wunsch mehr zu erfahren. Erst jetzt erfährt sie, wie intensiv ihre Mutter in den Jahren zuvor schon recherchiert hatte …

Die Postkarte von Anne Berest

Vier Vornamen und eine Postkarte. Landen Am 6. Januar 2003 in einem alten Briefkasten. Namen, die ihre Mutter so sehr erschraken wie ein Monster, das in der Dunkelheit der Zeit lauerte.

Ephraim, Emma, Noémi und Jacques. Das waren die Namen der Großeltern ihrer Mutter, die von Tante und Onkel mütterlicherseits. Alle vier waren 1942 nach Auschwitz deportiert worden.

Zehn Jahre sollten nach dem Eintreffen dieser Postkarte vergehen, bis sich die Tochter der Empfängerin entschied, den Spuren ihrer Vorfahren zu folgen und auf der Erzählung ihrer Mutter reise ich mit ihr zurück in der Zeit, und lande zunächst 1919 in Moskau.

Anne Berest beauftragt einen Detektiv, lässt sich von einem Kriminolgen dabei unterstützen die Schrift der anonymen Postkarte zu analysieren. Wer hatte sie geschrieben und warum? Was wusste der oder die Schreiberin über die vier ermordeten Verwandten. Die Spurensuche wandelt sich in einen Kriminalfall. Zusammen mit ihrer Mutter verbringt Anne Regentage im Auto, klingt an Türen, sucht nach Zeitzeugen, in dem Dorf, in dem ihre Urgroßeltern zuletzt gewohnt haben.

Emma und Ephraim hatten mit ihren drei Kindern, Jacques, Noémi und Myriam, in Paris gelebt und erlebt wie die ersten Juden aus Deutschland nach Frankreich geflohen. Sie selbst waren aus Russland zunächst nach Israel, dann hierher migriert. In Deutschland gabe es immer mehr Verhaftungen. Zumeist wurden die Männer verschleppt. Eine nahestehende Cousine, deren Mann abgeholt worden war, sprach eine Warnung aus, sie formuliert die Wahrheit, die wir später alle kennen werden. Es geht nicht mehr länger nur um Vertreibung, sagt sie, es gehe um Auslöschung. Um ihre Ausrottung. Um die der Juden. In ganz Europa war man nicht mehr sicher. Ephraim glaubte ihr nicht. Initiiert stattdessen einen Umzug auf’s Land. 

Demarkationslinien, Freiheitsbeschränkungen, ein gelber Stern, der gut sichtbar zu tragen ist, gründen Furcht und Widerstand. Denunziation und Mauern des Schweigens, spalten ein französisches Dorf. Jedes Leben hängt an einem dünnen Zufallsfädchen, schreibt Anne Berest. Myriam gelingt es im Kofferraum eines alten Citroën zu entkommen. Mutter und Schwester von Vicente, ihrem Mann, gehörten dem Widerstand an, sie öffneten ihr die Augen.

Für die Franzosen galt es seinerzeit die mit den Deutschen vereinbarten “Lieferziele” die Anzahl deportierter Juden betreffend zu erreichen. Als es eng wurde um die Zielerreichung, setzte man kurzerhand das Durchschnittsalter für Verhaftungen herab. So landete Jacques, sechszehn, gemeinsam mit seiner Schwester Noémi, neunzehn Jahre, in einem Zug nach Deutschland, wo angeblich “nur” Zwangsarbeit auf sie wartete.

So viel Lügen, so viel Unmenschlichkeit. Noémi und Jacques werden in einem hoffnungslos überfüllten französischen Übergangslager geparkt. Rasch breiten sich Epidemien unter verheerenden hygienischen Bedingungen aus. Jacques erkrankt an der Ruhr. Beide beobachten wie in regelmäßigen Abständen
Züge das Lager verlassen, sie werden begleitet von Gerüchten ihre Endstation betreffend.

Mütter und Kleinkinder werden gnadenlos getrennt, kleine Hände winden sich durch Stacheldraht. Weinen und Schreie. Mir wird die Brust eng. Nicht zum ersten Mal. Drücke auf Stopp. Kann mich entziehen. Mache mir klar, dass das für diese Menschen, die man aus ihrem Alltag riss, aus ihrem Leben, die man quälte und demütigte, nicht möglich gewesen war.

Die Goldzähne wie vieler Toter ergeben einen Barren? In Ausschwitz werden am Tag so einige geprägt. Aus den geschorenen Haaren der Häftlinge wird Strumpfgarn, ihre Asche zu Dünger.

Anne Berest, wurde am 15. September 1979 in Paris geboren, sie arbeitet als Theaterregisseurin und Autorin, zuletzt habe ich Das Leben ist ein Fest von ihrer Schwester Claire, geboren 1982, gehört und so sehr gemocht. Sie ließ darin die großartige Frida Kahlo auf eine Art und Weise auferstehen, die ich sehr besonders fand. Ich verlinke Euch am Ende dieses Beitrags meine Besprechung als Tipp dazu.

Diesmal ist alles anders. Denn es geht um sie selbst. Um Anne. Um ihre Familie. Die Postkarte haben zwei Übersetzerinnen, Amelie Thoma und Michaela Meßner aus dem Französischen übertragen. Sie greifen Berests leisen und eindringlichen Ton auf, auch ihre zu Beginn zauberhaften Metaphern, die wunderbare und bewegende Bilder erschaffen. Wie sie den alten Briefkasten der Familie beschreibt, die Post, die regelmäßig aus ihm heraussegelt, oft aufgeweicht und unleserlich vom Regen. Alles klingt zunächst so normal, so geordnet. Mit jedem Schritt aber, mit dem ich weiter in die Vergangenheit gelange, verändert sich der Grundton. Grausamkeit und Willkür verschaffen sich die Oberhand. 

Es geht um viel. Es geht um alles. War ich bis vor kurzem noch in James Kestrels Roman Fünf Winter um die gleiche Zeit in Hawaii und Japan, öffnet mir Berests Geschichte eine bekanntere, aber nicht minder erschreckende Sicht, auf die Greuel dieses Krieges, der die ganze Welt einbezog.

Erlebt habe ich seltene und kostbare Momente reinen Glücks, in einem Leben geprägt von Umzügen, Entwurzelung, Ausgrenzung, Verfolgung und schließlich Deportation. Am Horizont habe ich sie aufgehen sehen diese menschenverachtende Katastrophe und immer noch war da Hoffnung.

Was anfangs nach der Ideologie einiger weniger Fanatiker aussieht, wächst sich immer schneller zu einer flächendeckenden Verfolgung aus und als die Hoffnung schwindet war Flucht plötzlich nicht mehr möglich.

Anne Berest hat sich dafür entschieden ihre Familienangehörigen mit diesem Roman dem Vergessen zu entreissen. Dabei schont sie sich und uns ihre Leser:innen nicht. Mag man sich noch so sehr wünschen, sie hätte sich das worüber sie da schreibt nur ausgedacht.

Schlicht und sehr elegant schreibt sie, eindringlich und eindrücklich, ohne zu sezieren oder reisserisch zu sein. Das Konstrukt ihres Erzählens führt mich durch das Geschehen wie ein Hypnotiseur. Schicht um Schicht gelange ich zum inneren Kern.

Ihre Geschichte mit der Kenntnis von heute um die Ereignisse von damals zu lesen, macht sie besonders erschütternd für mich und auch zu einer echten Herausforderung. <Fliehe, weit und schnell!> habe ich so oft rufen wollen. Noch lange nach dem Lesen treiben mich die Fragen um die sie stellt und auch die, die unausgesprochen bleiben.

Es gibt eine ungekürzte Hörbuch-Fassung, die rund 14,5 Stunden umfasst und ganz wunderbar und behutsam von Simone Kabst gelesen wird. Voller Empathie nimmt sie uns mit auf diese aufwühlende Reise in die Vergangenheit, leistet ihren Beitrag dazu, dass man Berests Erzählung so leicht nicht wieder vergißt.

Zwischen dem Ende der Hoffnung und dem Beginn der Gewissheit lässt sich kein Frieden finden. So viel Verzweiflung. So viel Klarheit. So wenig Trost.

Anne Berest löst am Ende das Rätsel um die Postkarte auf und es wird deutlich, wie sehr diese Geschichte auch das Vermächtnis der Überlebenden ihrer Familie ist. Was dieser Krieg, die Leerstellen die er hinterlässt, mit ihnen gemacht hat. Es gibt viele Geschichten wie diese. Zu viele. Und es gibt keine Geschichte wie diese. Danke, Madame Berest. Dafür, dass Sie sie mit uns teilen.

Hier die Empfehlung für den Roman von Anne Berests Schwester Claire:

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