Wie oft bückt Ihr Euch noch um zu Schauen was am Wegesrand wächst oder krabbelt? Haben wir das als Kinder nicht ständig getan? Sind stehengeblieben um zu Staunen? Ich erinnere einen Spaziergang mit meiner kleinen Nichte, sie war damals zwei oder drei Jahre alt. Wir sind gefühlt überhaupt nicht vorangekommen auf unserem Weg, weil es einfach so viel zu entdecken gab. Wann haben wir die Neugier verloren?
Die norwegische Biologin Hanna Bjørgaas muss sich das wohl auch gefragt haben. Sie ist wegen einer Flechte zu ganz besonderen Spaziergängen durch Oslo aufgebrochen. Bewaffnet mit Lupe, Fernglas und Skizzenblock, auf den Spuren wilden Lebens in der Stadt. Was sie dabei entdeckt hat, ist in diesem Buch, erschienen am 10.07.2023 in der Stroux Edition (lieben Dank für das Besprechungsexemplar!) zusammengekommen:
Das geheime Leben in der Stadt (Hanna Bjørgaas) – Nachrichten aus der urbanen Wildnis
Was bitte an unseren Städten, unseren Großstädten soll noch wild sein, habe ich mich zuerst gefragt. Außer vielleicht in den Parks oder an den Stadträndern, wo es noch Wald hat, Wiesen vielleicht auch. In Oslo war ich vor Jahren auf Stippvisite, bin aber über die Innenstadt nicht hinausgekommen. Okay, eine Stadt an einem Fjord, eingebettet in die norwegische Natur hat da sicher mehr zu bieten, als unsere Großstädte à la Berlin oder Frankfurt, war dann mein zweiter Gedanke, aber darum geht es Hanna Bjørgaas gar nicht. Sie vergleicht und bewertet unterschiedliche Stadtentwürfe und ihre Auswirkung auf Flora und Fauna nicht. Sie sieht, was sie sieht und das ganz genau und im Detail.
Als Reiseleiterin in der Arktis und Antarktis, hat sie eine eisige Natur betrachten dürfen, die den meisten von uns verschlossen bleiben wird, hat Touristen geführt in der Hoffnung, deren Blick auf das zu lenken was schützenswert ist. Vielleicht nur für den Moment. Zurück in der Enge der Stadt, die ihr hernach schwer zu ertragen ist, unternimmt sie Spaziergänge und ihr Blick fällt auf eine Krähen, Elstern, Amseln und Krähenversteher. Was wie ein Reisebericht beginnt, wandelt sich zu einer kleinen Vogelkunde und wie wachsam Hanna Bjørgaas plötzlich ihren Blick hebt, was ihre Aufmerksamkeit weckt, dahin nimmt sie uns mit. Ausgesprochen kundig, lehrreich und kurzweilig.
Sabine Richter übersetzt die eingestreuten Forschungsergebnisse und Expertenbefragungen für uns ins Deutsche und trägt die Begeisterung von Hanna sprachlich wie auf Händen. Ganz automatisch richte ich schon nach den ersten gelesenen Kapiteln meinen Blick auf die Erde, damit ich nicht dort Krabbelndes platt trete, lausche auf das Zwitschern wenn ich das Fenster öffne, vermisse es wenn der Regen kommt und es fernbleibt. Neulich habe ich eine Rose für die Vase im Garten schneiden wollen und habe einen Käfer entdeckt mit türkis-gold schimmerndem Panzer. Dank Google weiß ich, das diese Rosenkäfer den Blatthornkäfern angehören, eher in den Tropen (?!!) verbreitet sind und als nützliche Bestäuber gelten. Eher in den Tropen verbreitet, murmele ich und frage mich wie ist er denn wohl hierher gekommen? Ist sein Auftauchen eine Folge des Klimawandels? Wie kommt er hier zurecht? Wie lange lebt ein solches Exemplar und was macht er in unseren Wintern, wenn bei mir vor der Haustür ein halber Meter Schnee liegt?
Ameisen in der Küche? Für mich ein Albtraum, Hanna rennt den fleisigen Mehrbeinern gleich auf ihrer Brotkrumenspur mit der Lupe hinterher. Studiert Bodenbeschaffenheiten, fragt nach Ursprüngen und Urbäumen. Einige Arten haben es aus der Eiszeit bis zu uns geschafft. Haben unsere künstlichen Felsenlandschaften aus Beton und Glas nicht nur überstanden, sondern für sich neu erobert.
Ich gestehe, ihren liebevollen Blick auf Krähen teile ich nicht. Den verständnisvollen auf die Ameisen nicht vollständig, vor ihrem Ehrgeiz jedoch habe ich Hochachtung. Etwa wenn sie versucht den morgendlichen Klangteppich aus Vogelgezwitscher zu entwirren indem sie sich für früh um drei den Wecker stellt, im Park unter einem Baum ausharrt um auf die ersten Amselstimmen zu warten. Und wie kreativ sie ihre Kapitelüberschriften wählt! Bei ihr geht es gleich ums Ganze, um Krieg, Ameisen, Sex und dreckige Autoscheiben. Wie hübsch erst dieses Buch illustriert ist!
Bjørgaas bringt mir bei, was Honigtau, so nennt man die Ausscheidung der Blattlaus, mit Manna zu tun hat und das der Ameisenforscher Wilson ihn gar gekostet hat! Überhaupt war mir das Ameisenkapitel irgendwie das liebste von allen. Hier beweist Bjørgaas für mich einen besonders humorvollen Blick. Von ihnen will sie lernen, wie die ihre Haustiere melken. Okay, da bin ich raus, aber ihr Date mit der Dynamitexperting und Professorin Anne Sverdrup-Thygeson, die Bäumen die Krone wegsprengt um zu erforschen, wie Totholz von Insekten im ewigen Kreislauf des Lebens besiedelt wird (ja, ist es denn zu fassen?!), da bin ich wieder voll dabei. Genau dieses Wechselbad, dieses von einem auf’s andere kommen, die Zusammenhänge und Nichtzusammenhänge, machen dieses Sachbuch so spannend.
Es geht unter die Erde, natürlich muss es das auch. In einem Teelöffel Erde steckt mehr Leben als auf unserem ganzen Planeten und die Regenwürmer sind hier die Superstars. Es geht um Flechten, die in den unwirtlichsten Gegenden zurechtkommen, die nicht nur wunderschön und filigran sind, sondern auch im Weltraum lange überlebensfähig.
Was bzw. wer ein Mink ist und was er/es damit zu tun hat, das Möwen vermehrt in die Stadt ziehen lerne ich. Möwen sind schlau und Tauben Vollzeitvegetarier, die einzige Vogelart offenbar, die es schafft ihre Jungen rein pflanzlich zu ernähren. Der Hausrotschwanz, eine seltene Sperlingsart hat sich zum Brüten ausgerechnet ein Stadtviertel ausgesucht, das ein ehemaliger Drogenumschlagplatz war. Nirgendwo sonst in Norwegen ist noch zu finden, nur hier in der künstlichen Felsenlandschaft der Stadt. Warum Landschaftsarchitekten ausgerechnet Linden lieben, um dann brutal mit ihnen umzugehen, war mir neu und viel mehr Verblüffendes gibt es bei Hanna Bjørgaas noch zu entdecken. Bei jedem Umblättern landet man in der nächsten Detailfülle. Großartig macht sie das, zu lehren ohne zu belehren. Mit ihr bin ich literarisch durch einen stadtnahen Wald gelaufen und habe mich an ihrer Sprache erfreut, die sich beinahe lyrisch anfühlt.
“Die Linden hier unten am Abhang sahen alt aus und ihre enormen Wurzelsysteme lagen über den Steinen wie eine knotige, vielarmige Masse. Große Stämme schraubten sich aus den kugeligen und knolligen Wurzelsystemen empor wie etwas Weiches und Lebendiges, das sich in extremer Zeitlupe bewegte.”
Hanna Bjørgaas Das geheime Leben in der Stadt
Diese Bilder! Vielleicht mag ich dieses Kapitel doch lieber als das mit den Ameisen? Zum Glück muss ich mich nicht entscheiden, ich darf Sie alle mögen und mich gleichzeitig fragen was wir dem Wegsterben vieler Arten noch entgegensetzen wollen und können.
Auf meinem Kapitelweg durch die Jahreszeiten wird es Oktober und ich begegne IHNEN. Gemeinsam mit Hanna machen sie mir keine Angst: Die Fledermäuse. In Misskredit geraten, verdächtig der Übertragung des Covid19 Virus, das die Welt still stehen ließ. Wir brauchen sie sagt Hanna, sie fressen in einer Nacht bis zu 3.000 Mücken, auch solche die Malaria und andere Krankheiten übertragen. Vielleicht sollte ich meine Haltung zu Ihnen noch einmal überdenken.
Oslo ist eine Stadt, die neben der spektakulären Lage an ihrem Fjord auch noch über einen Naturschutzpark verfügt, Svartdal genannt. Hier dürfen eben Bäume einfach liegen bleiben und man lässt dem Leben von Pflanzen und Tieren seine Zeit. Betonflächen, und Wasser satt stoßen da an, es Lebensräume, die man der Natur zurückgegeben hat. Da gibt es dann auch Umzüge von dem einen in den anderen Raum, die Begegnungen ermöglichen. Auch das schon wieder spannend. Ich sag’s nur!
Empfehle ich dieses Buch? Jaaa! Und zwar allen die ihren Blick wieder mehr öffnen wollen, die gerne verblüfft werden und die sich noch daran erinnern können, wie es war mit einem Einwegglas auf dem Fahrradgepäckträger im Sommer loszuziehen um Kaulquappen zu fangen, so wie ich. Die sie zu Hause gehütet und ihre Verwandlung zum Frosch bestaunt haben, jeden Tag ein bisschen mehr. Von diesem Staunen enthält dieses Buch jede Menge. Eine beinahe kindliche Freude springt einen aus den Seiten an und der Ruf, bleibt doch neugierig, es gibt da immer noch so viel, was wir noch nicht wussten. So viel, das lohnt bewahrt zu werden.
Was nehme ich mir mit? Lebensräume lassen sich nicht durch Zäune trennen, wir tun gut daran zu akzeptieren das es immer auch Umzüge geben muss, damit die Natur bunt bleibt. Ich bin dann mal draußen. Muss nur eben noch meine Lupe holen …
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