Höre ich Argentinien, dann denke ich zu allererst an Fußball und an Diego Maradona, das obwohl ich eigentlich gar kein großer Fußballfan bin. Das südamerikanische Land, dessen Name sich von “Argentum” lateinisch für Silber ableitet, hofften doch einst Eroberer und Kolonialherren hier kostbares Edelmetall zu finden, galt bis in die 1950er Jahre, als eines der reichsten Länder der Welt.
“Don’t cry for me Argentina” aus dem Erfolgsmusical Evita von Andrew Lloyd Webber und Tim Rice, daran denke ich spontan auch. Fragt man mich nach argentinischen Literaten zögere ich. Von Claudia Piñeiro habe ich kürzlich Kathedralen und das gern gelesen und dann muss ich auch schon passen. Zeit das zu ändern und warum nicht zur Abwechslung einmal mit einer rasanten Gaunergeschichte …
Dringliche Angelegenheiten von Paula Rodríguez
Wo ist oben? Wo unten? Hugo muss hier raus. Dringend. Die Polizei sucht ihn. Sagt Marta. Ihm.Via WhatsApp. Als habe er es nicht schon kommen sehen. Sie stehen vor seiner Tür. Jetzt. Und er ist hier. In einem Zug, der aus dem Gleisbett gesprungen ist. In einem Gewirr aus Armen und Beinen und gebrochenen Augen. Sie retten ihn. Liefern ihn ein ins Krankenhaus. Hugo flieht. Das Heiligenbild des Expeditus in der Hand. Dem Heiligen für dringliche Angelegenheiten, der wie man lesen kann, ein römischer Centurio gewesen war, der sich zum Christentum gekannte. Aha.
Hugovíktor hat Mist gebaut. Sagt er. In seiner Antwort an Marta. So viel wissen wir und das er eigentlich einen Schlüsseldienst betreibt. Sich von Berufswegen um dringliche Angelegenheiten kümmert. Als Journalist durchstarten wollte und gescheitert ist. In Buenos Aires, Argentinien.
Dort kommt auch sie her:
Paula Rodríguez ist 1968 hier geboren, lebt und arbeitet hier, als Journalistin, Redakteurin, feministische Aktivistin. Sie legt mit Dringliche Angelegenheiten ihren Debütroman vor, der für den Premio Memorial Silverio Cañada nominiert wurde. In der deutschen Übersetzung des Wahlberliners Peter Kultzen hat ihn der Unionsverlag am 21.08.23 herausgegeben (vielen Dank für das mir zur Verfügung gestellte Besprechungsexemplar).
Wem ist Hugo da in die Quere gekommen und was bitte ist passiert? Sie suchen ihn wegen Mordes und an seine Fersen heftet sich ein Polizist namens Domínguez, derweil eine offenbar sehr katholische Schwiegermutter nicht nur medienwirksam für Hugo betet, seit sie im Fernsehen die Bilder des Zugunglücks gesehen hat. Sie beginnt sich auf eine Art und Weise einzumischen, die mich aufmerken lässt.
Wenn niemand unschuldig ist, wer ist dann der Böse? Lese ich auf der Website des Verlages und runzle die Stirn. Gute Frage und sie wird mich auch begleiten während des Lesens. Ebenfalls einen Rucksack gepackt haben Hugos Frau Marta und ihre Tochter Evelyn. Nachdem die Polizei geklingelt hat, sind beide Hals über Kopf aufgebrochen.
Dubiose Geschäfte, unklare Beteiligungen und nicht ganz so gute Freunde treffen auf Töchter, die an das Gute in ihrem Vater glauben. Auf Schwestern, die in Tubber-Sex-Katalogen blättern und immer schon wussten, dass mit diesem Möchte-Gern-Schwager und Journalistenschulenabrecher was ganz und gar nicht stimmt.
Kann man lesen muss man aber nicht, so würde ich den Leseeindruck beschreiben, der sich zu Beginn der Geschichte in mir festzusetzen begann. Es plätschert so dahin. Sprachlich bleibt die Autorin konsumig und gut lesbar. Nach Hugos Flucht aus dem Krankenhaus, wo man ihn mit zahlreichen Schwerverletzten in einem überfüllten Gang geparkt hat, taucht er bei Beto unter. Der scheint gleich zu wissen wo der Hammer hängt. Lässt ihn in der Wohnung zurück und geht zur Arbeit als sei das normal? Okay. Ein Streit war zuvor aus dem Ruder gelaufen, jetzt war Carlos David tot, lag mit gebrochenen Knochen in einem Sack und die beiden hier, tun ganz schön cool.
Kaum ist das raus geht es richtig los, Paula Rodríguez zieht das Tempo an. Die Geschichte rauscht los wie ein D-Zug durch die Nacht. Die Perspektiven wechseln rasch und ich beginne ungläubig zu staunen. Schaue von einem zum anderern. Ein jeder hat es hier faustdick hinter den Ohren aber wer hat womit zu tun?
Während Marta, Hugos Frau, mit ihrer Tochter bei ihrer Schwester in Colón unterkommt, befragt die Polizei zu Hause ihre Mutter. Es gibt zwei noch nicht identifizierte Leichen nach dem Unglück und eine davon könnte Hugo sein. Könnte. Allzuviel kann man wohl nicht mehr erkennen. Es braucht schon einen DNA-Abgleich um Gewissheit zu erlangen. Warum scheint niemand außer diesem Polizisten daran ein Interesse zu haben?
Die Presse kommt ins Spiel, nicht nur ein Fernsehsender stürzt sich auf das Unglück, dann auf die Tatsache, das Hugo vermisst wird. Private Fotos der Familie werden geteilt. Seine Schwiegermutter drängt sich ins Bild, vielleicht kann ein Ave Maria ihn ja wieder zurückbringen?! Ein drei Tage andauerndes Kettengebet wird initiiert und soll helfen. Zwei Sender suchen einander zu überbieten.
Während ich noch rätsele ob da Heiligkeit oder mehr Scheinheiligkeit am Start ist, rast die Geschichte mit mir weiter. Paula Rodríguez inszeniert einen wahren Medienzirkus und man merkt ihr die erfahrene Journalistin an. Ihre Figuren steigen ein in ein Karussell, dass sich immer schneller zu drehen beginnt. Niemand der einsteigt ist unschuldig. Die, die aussteigen sind vielleicht schuldig und dann dieses Ende, seine Zwangsläufigkeit, eine Vollbremsung, der Zug steht. Mehr mag ich nicht verraten, weil das wäre dann schon gespoilert.
Was für eine abgedrehte Geschichte!
Für mich persönlich hätte es durchaus noch etwas mehr Lokalkolorit sein dürfen, Buenos Aires etwas szenischer erleben zu können hätte mir gefallen und eine Prise mehr Sozialkritik hatte ich mir nach der ein oder anderen ausländischen Pressestimme auch erhofft. Soghaft und unterhaltsam ist sie aber allemal, diese Geschichte, die ich nicht in die Schublade Krimi stecken würde, auch wenn es im Kern um einen Mord geht und es Ermittlungen gibt. Das wäre zu kurz gesprungen.
Mir hat zweifelsfrei am Besten gefallen, wie Rodríguez ihre Geschichte montiert hat, das WIE sie erzählt kommt definitiv vor dem WAS sie erzählt und lohnt einen genaueren Blick. Sie kennt die Register die einen wechselvollen Plot kennzeichnen und zieht sie alle. Mit einem Augenzwinkern entlässt sie mich in das kalte Wasser eines Flusses, der mehr steht als fließt. An ihm entscheidet das Schicksal. Für zwei Menschen. Oder drei. Je nachdem.
An ihrem offenen Ende denke ich mir die Geschichte weiter, aber es kann genauso gut anders kommen. Sehr clever, mich so in Ungewisse zu schicken. Raffiniert konstruiert und sehr gekonnt komprimiert. Dafür gibt es einen erhobenen Daumen von mir. Diese Autorin behält man besser im Auge.
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