Wenn es hell, strahlend, leuchtend, klar ist, sagen wir auch es ist licht. Wenn sich im Wald das Dunkel lichtet, es plötzlich Raum hat, den die Sonne durchdringen kann, nennen wir es Lichtung.
Eines der bekanntesten Gedichte des österreichischen Schriftstellers und Lyrikers Ernst Jandl spielt ebenfalls mit diesem Begriff, es lässt uns gleich mehrere Deutungsmöglichkeiten. Wählt man eine harmlose Lesart, schmunzelt man über die banale Rechts-Links-Schwäche seines Dichters. Liest man es hingegen politisch, sieht man sich mit zwei extremistischen Strömungen konfrontiert und staunt über die Cleverness und Wortjonglage seines Verfassers. Ich zitiere:
lichtung manche meinen lechts und rinks kann man nicht velwechsern. werch ein illtum!
Als eine Meisterin der Poesie und Tiefe, als eine Satzschmiedin, habe ich auch diese Autorin, die spätestens seit ihrem Roman “Die Unschärfe der Welt” aus dem Jahr 2020, für Literaturfans keine Unbekannte mehr ist, erlebt und mit angehaltenem Atem ihre wunderschönen Satzbilder inhaliert. Auch in ihrem aktuellen Roman kann man diese festverwobene Verbindung zwischen dem, was politische Entscheidungen bewirken, in bezug auf Lebensentwürfe und den eigenen Blick darauf, den Weg heraus, ähnlich wie bei Jandl entdecken. Da kann ihr Titel kein Zufall sein …
Lichtungen von Iris Wolff
Treffen sich Zwei, die sich von Kindesbeinen an kennen. Nach langer Zeit. Wieder. Zwei, die sich wiedererkennen und doch im Grunde nichts voneinander wissen. Oder wenig. Glaube ich.
Lev. Der, mit der Mutter aus Siebenbürgen und dem Vater aus Rumänien, mit einem Großvater, der österreichische Wurzeln für sich reklamiert. Auch seinem Enkel gegenüber, der sich selbst nicht einordnen kann und will in eine solche Staatlichkeit. Der mit dem hadert, was Herkunft ist. Dessen Akzent ihn verrät. Meint er. Weshalb er wohl gerne schweigt. Besonders in Gesellschaft von Fremden.
Kato. Die jetzt auf Asphalt malt. Mit Kreide, und mittlerweile davon leben kann. Menschen scharen sich um sie, wenn sie ihnen mit farbstaubigen Fingern ihre Welten auf dem Straßenpflaster zu Füßen legt. Die nur kurz aufsieht, wenn ein gespendeter Geldschein den von ihr aufgestellten Hut berührt. Die es versteht mit einem einzigen Blick Verbundenheit herzustellen. Die eine Leichtigkeit im Herzen hat, die Lev abgeht. Eine brennende Neugier auf die Welt, die sie immer wieder aufbrechen und loslassen lässt.
Einmal gegangen, immer ein Gehender, sagt Levs Großvater, der Rumänien verlassen hat, um in Wien zu leben. Dort aber nie wirklich angekommen ist. So scheint es. Kato hingegen geht um anzukommen. Nichts vermag sie zu halten. Niemand. Mehr.
Iris Wolff, geboren am 28. Juli 1977 in Hermanstadt/Siebenbürgen, Rumänien, wanderte 1985 mit ihrer Familie nach Deutschland aus. Sie studierte Deutsch und Literatur, Religionswissenschaft, Grafik und Malerei in Marburg. 2012 veröffentlichte sie ihren Debütroman “Halber Stein“. Ihr aktueller Roman “Lichtungen” ist noch druckfrisch und im Januar 2023 bei Klett Cotta erschienen (vielen lieben Dank für das Besprechungsexemplar!).
Zu Beginn eines neuen Jahres, scheint noch alles möglich. Last abwerfen, Ballast auch. Man beginnt vielleicht zu fasten. Man schaut zurück und nach vorn. Vergleicht. Das Jetzt mit dem Früher. Auch Iris Wolff lässt ihre Figuren Bilanz ziehen. Was sie nicht wollen. Im Grunde. An dieses Früher denken und es doch tun. Müssen. Die Bilder von einem Gestern bewahren, die wehtun. Beim Betrachten. Bilder, von denen man sich wünscht, dass sie im Heute verschwinden.
Wie schafft man es, das eine Jugendfreundschaft die Zeit überdauert? Einen Wandel überlebt, den Revolution und Freiheitsdrang fordern? Besonders dann, wenn zwei so unterschiedlich ticken, wie Kato und Lev in dieser Geschichte. Die Iris Wolff mit einer Sanftheit erzählt, die auch ich zärtlich nennen würde. Dabei ist sie nicht verzärtelt, sondern beweist große Kraft angesichts von Trennung und Veränderung. Sie beweist Mut. Den, den es braucht um dem eigenen Lebensentwurf zu folgen, auch dann, wenn andere ihn für falsch halten. Den Mut, den es braucht um zu bleiben. Um auszuhalten.
Was für ein großer, schmaler Roman!
Für mich ein Jahresauftakt nach Maß, literarisch gesehen.
Alles beginnt mit schulischen Ausfallzeit des eher gehemmten elfjährigen Lev, den ausgerechnet seine Mitschülerin, die Außenseiterin Kato mit den Hausaufgaben versorgen soll. Bis dahin haben wir als Lesende aber noch ein Stück Weg zurückzulegen. Wir starten im Erwachsenenalter der Beiden und bewegen uns mit ihnen rückwärts in der Zeit. Erleben wie die talentierte Kato, wild und frei wie Pippi Langstrumpf, ihre Heimat verlässt, bleibt Lev zurück.
Transsilvanien oder Siebenbürgen, rumänisch Ardeal, kenne ich nur von Bram Stokers er verortet seinen Grafen Dracula hier. Der wechselvollen Geschichte dieser Gegend begegne ich hier. Auf dem Fahrrad mit Lev.
Siebenbürgen gehörte im Mittelalter zu Ungarn, erlebte im 12. Jahrhundert eine Einwanderungswelle aus Deutschland, nachdem der ungarische König Géza II. dazu eingeladen hatte. Der wollte durch die Besiedlung dieses Grenzgebietes dessen Wirtschaft und Verteidigung stärken. Im 17. Jahrhundert nach türkischen Überfällen wurde das Gebiet dem Sieger, dem Osmanischen Reich zugeschlagen. Danach kamen die Österreicher und bis zur Niederlage Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg, stand Siebenbürgen unter der Regentschaft des Wiener Hofes. 1920 wurde dann vertraglich die Übernahme Siebenbürgens durch Ungarn geregelt. Große Fluchtbewegungen setzten ab 1945 ein, die sich in den 1970er und 1990er Jahren wiederholten. Nach Übergriffen auf die ungarische und deutsche Bevölkerung, flohen seine Bewohner insbesondere nach Deutschland und Österreich.
Wir treffen nach 1990 bei Iris Wolff auf Lev und Kato. Von der Zeit und eben diesen Auswanderungswellen erzählt Iris Wolff aber auch. Lev erlebt ihre Auswirkungen unter anderem auf einer Radtour durch ein sich entvölkerndes Siebenbürgen. Begegnet unerwartet Gastfreundschaft und Menschen, die sich zum Bleiben entschieden haben. Deren Motive nimmt er auf. Beginnt aber auch Kato zu verstehen. Die gegangen ist. Die ihr Leben anders entschieden hat. Von der er sich verlassen fühlt. Auf eine unbestimmte, aber schmerzhafte Art. Was ihm so gar nicht bewußt ist. Glaube ich.
Eine Nacht mit dem Zug. Einrücken in die Kaserne. Lev muss zum Militär und das Militär macht mit ihm was das Militär immer tut. Es prägt ihn, drillt ihn, verletzt ihn. Konfrontiert ihn mit Mutwillen. Er widersetzt sich und lernt was Dunkelheit und Kälte wirklich bedeuten. Nicht freiwillig. Schuftet er in einem Tunnel und leidet Hunger. Kommt nach Hause. Entdeckt im Wald auf einer Lichtung zwei Wölfe in einen Kampf verstrickt. Erlebt Unterwerfung.
Bäume sterben wachsend, ihr totes Kernholz trägt das lebendige, schreibt Iris Wolff und ich begreife warum Menschen, warum ich glaube, dass auf Holz zu klopfen Unheil von uns abwenden könne.
“Einen Wald betreten war wie in eine Kirche gehen. das Gefühl für die Zeit verlor sich.“
Textzitat Iris Wolff Lichtungen
Sein Leben nicht um die Angst herumbauen zu müssen, das wünscht Wolff ihrer Hauptfigur. Wie wunderbar wenn das gelingt.
Wenn ein Baum fällt … Im Wald zu arbeiten, alles über den Wald zu lernen, wie schnell ein Leben enden kann, auch hier, besonders hier, wenn man nicht acht gibt. Auf die anderen.
Lev darf nicht mehr aufstehen. Er muss liegen. Tag und Nacht. Macht Inventur, erstellt ein Inventar der Geräusche, die ihn umgeben.
Unaufgeregt kommt sie daher diese Geschichte, wühlt sich ganz sanft in mein Innerstes. Man rührt sich nicht vom Fleck und wechselt doch innerhalb weniger Jahre mehrfach die Staatsangehörigkeit. Zählt rückwärts von Kapitel neun auf eins und bleibt unsicher. Wieviel da wirklich ist zwischen Kato und Lev. Wieviel Loslassen.
Hier hast du nichts, halt es fest.
Ungarisches Sprichwort
Wie eine Schraube ins Holz, drehen sich Wolffs Rückblicke immer weiter in die Geschichte hinein. In die Vergangenheit. Die immer das Gerüst ist für unser Heute.
Ihre Sätze schweben dabei förmlich und ihre ausgefeilte Prosa wirkt keinen Moment künstlich, sondern so, als fiele es ihr leicht, für das Schwere genau diese federsanften Worte zu finden. Die meine Leseseele streicheln. Die Geschichte selbst wirkt licht und weitet sich vor mir. Von Beginn an. Ich bin schwerst angetan, freue mich auf jede neue Satzbiege und bin traurig als ich die letzte ihrer Silben erreiche. Schon zu Ende. Was für ein Jammer und was für ein Glück, dass sich in meinem Regal noch ungelesen ihre “Unschärfe der Welt” befindet!
Wer sich diesen sprachlich besonderen Text lieber vorlesen lässt, hat die Möglichkeit dies sogar noch kostenlos und ungekürzt bis 8.3.24 in der ARD Audiothek zu tun. Dort ist die Produktion der Hörfassung von DAV und hr2-kultur, wunderbar eingelesen von Marek Harloff, verfügbar. Das Hörbuch zum Roman ist als Download und CD erhältlich und entführt ebenfalls sehr lohnend, rund 7 Stunden lang, in die Welt von Lev und Kato. Euch wünsche ich viel Freude auf dieser Entdeckungsreise, die für mich endet wo das Vermissen dieser Beiden beginnt …
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