Babylon, sein Turmbau zu Babel und die sich anschließende Sprachverwirrung als göttliche Strafe, ist wohl eine der bekanntesten biblichen Geschichten aus dem Alten Testament. “Lost in translation”, war man danach und verstreut in alle Winde des Planeten. Was geschieht, wenn Menschen den kleinsten gemeinsamen Nenner verlieren? Sprache verbindet und Sprache trennt. Sprache ist eine Brücke, sie öffnet Türen. Auch die, die zum Wissen führen und damit zur Macht. Die Idee einer Plansprache kommt auf. Esperanto. 1887 startet ein Augenarzt dieses Projekt. Mittlerweile sollen zwischen einer halben und zwei Millionen Esperanto-Sprechende auf der Welt leben. Weit mehr sprechen Mandarin-Chinesisch etwa 955 Millionen Menschen und noch immer versteht sich die Welt nicht …
Babel von R. F. Kuang
1829. Die Cholera zieht meuchelnd um die Welt. Im chinesischen Kanton verliert ein Dock-Junge alles, seine Eltern, seine Großeltern, um ein Haar sein eigenes Leben. Wäre da nicht ein Professor, ein englischer Gentleman, der an seinem Krankenbett auftaucht, sich als Mr. Lovell aus London vorstellt. Dorthin will er ihn mitnehmen und unterrichten. In Englisch, Griechisch und Latein. Übersetzer könne er werden. Respektiert und wohlhabend. Hier erwarte ihn doch jetzt nichts mehr außer Armut, dort ein angesehenes Leben als studierter Mann.
So ausgewählt, erhält er einen neuen Namen. Er wählt ihn selbst. Weil er Gullivers Reisen so mag: Nennt sich Robin Swift. Ein silberner Talisman raubt ihm die Sprache. Was hatte dieser Professor mit ihm vor? Er treibt ihn mit Schlägen an und hinter halbgeschlossenen Türen ist zu vernehmen, er sei sein Vater.
Die Macht liegt in den Händen des Übersetzers. Nur wer versteht kann handeln. Wer versteht, legt die Wahrheit fest. Worte, einmal gewählt, bestimmen das Geschick derer, die ihnen zum Opfer fallen.
London. Die reichste Stadt der Welt. Silber ernährt sie und frisst sie gleichzeitig auf. Um diesen Hunger zu stillen war man bereit weit zu gehen. Sehr weit …
Verschwörungstheorie oder Wahrheit? Hermes. Ein Geheimbund und Geheimcodes. Ein Krieg zieht herauf. Wie konnte Robin das nur übersehen? Für welche Seite wird er sich entscheiden?
Mut und Revolution. Eine Regennacht in der alles beginnt. Eine Robin-Hooderie. Die ihn zum Gejagten, zum Verbrecher macht. Seinen Tod vortäuschen, zu einem Schatten werden. War das sein Weg?
Opium, Schmuggler, Silber und Geheimnisse. Eine Gemeinschaft zerfällt, zerschellt an ihren Überzeugungen. An dem Bild, das dieses Land von seinen Frauen hat, an dem Recht, das es sich herausnimmt Ihnen die Füße zu brechen und abzubinden. China.
Eine gemeinsame, nicht freiwillige Reise nach Kanton, rückt romantische Vorstellungen gerade. Auch die davon, was die Kolonialmacht England und ihre Repräsentanten in der Welt anrichten.
Freundschaft, Fremdheit, Verrat und Verhängnis. Magisch gewirktes Silber ist das Herz des Empires. Durch sein Schlagen sind alle Annehmlichkeiten möglich, alle modernen Errungenschaften, was wenn man es anhalten konnte? Dieses Herz.
R. F. Kuang, geboren am 29. Mai 1996 in Guangzhou, studierte Geschichte und veröffentlichte 2018 ihren Debütroman The Poppy War. Dieser Auftakt zu einer Trilogie wurde mehrfach preisausgezeichnet. Für ihre aktuelle Geschichte gab es reichlich Vorschusslorbeeren. Literaturkritiker Denis Scheck hält sie hoch, die Assoziation mit J.K. Rowling, drängt sich nicht nur auf, weil auch Kuang zwei Initialien in ihrem Autorennamen trägt, sondern auch bei ihr ist ein Junge, wie im Harry Potter Universum, Dreh- und Angelpunkt der Geschichte und es wird gelehrt und gelernt. In einer geheimnisvollen Akademie in Oxford. In einem Turm namens Babel.
Was Ron für Harry Potter ist, findet Robin in Rami. Einen besten Freund, der in England so fremd ist wie er, der das Gute an seiner Heimat, er stammt aus Kalkutta, vermisst. Zwei Mädels, die nicht unterschiedlicher sein könnten, schließen sich den beiden an. Aus Lerngefährten werden Freunde. Sie werden auch lernen, das auch Gefährten sich fremd werden können. Ich denke an den Herrn der Ringe und an einen weiteren Autor mit Initialen im Namen J.R.R.Tolkien.
Zwei Übersetzerinnen haben R. F. Kuangs Babel ins Deutsche übertragen. Heide Franck und Alexandra Jordan waren dabei, so hoffe ich, frei in ihrer jeweiligen Entscheidung. Mussten vielleicht aber auch miteinander um die beste Entsprechung ringen?
“Der Dichter läuft ungehindert über eine Lichtung, doch der Übersetzer tanzt in Ketten.“
Textzitat R.F. Kuang Babel
Sprache und Sprachen, Übersetzer und Übersetzungen. Kuang lässt das Wort das Schwert ergreifen. Die Ausflüge, die sie unternimmt um zu verdeutlichen, welche hohe Kunst Übersetzende ausüben, wie sie das Übersetzen feiert und einbindet, fand ich großartig.
Wie stark darf oder muss ein Text abgewandelt werden, damit er in einer anderen Kultur verstanden wird? Die großen Übersetzer:innen der Literaturgeschichte werden betrachtet, es wird verglichen und diskutiert.
Magie. Ohne sie geht es nicht, wir sind hier ja schließlich auch in einem Fantasy-Roman, der aber nicht bevölkert wird von Zwergen und Drachen, hier gehen Zauber und das magische Element ebenfalls von den Worten aus. Von Wortpaaren um genau zu sein.
Es geht um die Kunst des Silberwerkens, sie ist hier reine Magie. Und pure Macht. Machtausübung mit dem Ziel zu beherrschen. In Silberbarren werden Zauber eingewoben, das Geheimnis dabei ist, die Unübersetzbarkeit, die Eigenständigkeit von Begriffen zu nutzen. Die semantischen Lücken auszunutzen, die sich auftun, weil es in der empfangenden Sprache keine Entsprechung gibt.
Kuang ist eine ideenreiche Geschichte gelungen, die das Genre Fantasy neu interpretiert. Bildhaft und sich actionreich zuspitzend, das mag ich und so verzeihe ich dem Roman seine Längen im Mittelteil. Punktabzüge vergebe ich dennoch, und zwar für die Figurenzeichnung, mit ihren Held:innen habe ich bis zum Schluß gefremdelt.
Dafür steckt so einiges drin in dieser Geschichte. Der alte Kampf David gegen Goliath, um das was richtig ist. Gegen übergriffige Staatenlenker. Ein Aufruf zu Toleranz im Umgang mit Herkunft, Zuschreibung und Hautfarbe und fantasy goes politics, eine Abrechnung der Autorin mit den Machenschaften des britischen Empire und seiner Kolonialgeschichte. Mit Alltagsrassismus am Uni-Campus in Oxford, wo neben Traditionen seinerzeit auch Vorurteile gepflegt wurden. Um Macht. Um die Frage nach den Instrumenten der Macht.
Mir hat viel davon gefallen, besonders aber, dass hier, wie eingangs erwähnt, Sprache und Übersetzungskunst so ins Zentrum gerückt wurden. Die Idee Kolonialismus und Industrialisierung in einen magischen Kontext zu setzen ist sehr eigen. Die szenische Ausgestaltung des Plots, auch ihr fulminantes Finale, liefern eine Steilvorlage für eine Verfilmung, (ich bin gespannt wer da wann anklopft) und die jugendlichen Helden, ihre Sichten und Ideale, dürften auch ein New Adult Publikum ansprechen. In den USA hat jedenfalls eine Welle des Zuspruchs aus der Tik Tok Community Babel bis an die Spitze der New York Times Bestenliste getragen.
Auch für mich ist er eine Empfehlung für diejenigen, die so wie ich Hochachtung vor der Zunft der Übersetzer:innen haben und ihn als Hommage an diesen Berufsstand lesen oder hören wollen. Facettenreich mit Liebe zum Detail ausgestattet, ist der Roman auch für alle eine Überlegung wert, die dieses Genre bislang für sich abgewählt haben, er lädt ein, einen Ausflug abseits gewohnter Lesepfade zu wagen. Das ohne Zauberstab, Hexen oder Orks, dafür bewaffnet mit der Macht des Wortes. Aber Vorsicht, dieses Schwert ist schwerer zu führen als man denkt und das Erbe des Kolonialismus, seine Schattenseiten, lassen sich auch nicht so einfach weghexen …
Moritz Pliquet liest die ungekürzte Hörbuch-Fassung knapp 23 Stunden erwarten diejenigen, die lieber hören möchten und auch das macht Spaß. Seine Stimme klingt jung, so jung wie Kuangs Protagonist:innen. Glaubwürdig und lebendig gestaltet er seine Lesung bis zur letzten Minute dieses hörenswerten Tanzes auf einem Pulverfass …
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