Kleine Wunder um Mitternacht (Keigo Higashino)

Wunder, das Substantiv. Plural: Wunder. Was der Duden sagt: “Außergewöhnliches, den Naturgesetzen oder aller Erfahrung widersprechendes und deshalb der unmittelbaren Einwirkung einer göttlichen Macht oder übernatürlichen Kräften zugeschriebenes Geschehen, Ereignis, das Staunen erregt.” Oder auch: “Etwas, was in seiner Art, durch sein Maß an Vollkommenheit das Gewohnte, Übliche so weit übertrifft, dass es große Bewunderung, großes Staunen erregt.”

Wie geschäftsmäßig das klingt und wie wenig zauberhaft. Wie gut dass dieser kleine feine Roman alles andere als das ist. Er ist märchenhaft und um im Bild zu bleiben, ganz wunderbar und für alle die gerade ein Wunder gebrauchen können, hier kommt eines …

Kleine Wunder um Mitternacht von Keigo Higashino

Hier war etwas faul. Ganz gewaltig. Oberfaul. Jemand wollte sie hochnehmen. Keine Frage. Nach dem Einbruch, den sie in Tateinheit verübt und nachdem ihr Fluchtwagen den Geist aufgegeben hatte, (leere Batterie!) was auch nur ihnen passieren konnte, waren sie hier untergeschlüpft. Die drei Kleinganoven Atsuya, Shota und Kohei. Im alten Gemischtwarenladen von Herrn Namiya, der wohl schon länger leer stand, wie Ihnen eine Zeitschrift von 1973 verriet, die man, wie vieles andere hier zwischen dem Staub zurückgelassen hatte.

Kaum hatten die drei verschnauft, flatterte ein anonymer Brief durch den Rolladen herein, Rückumschlag inclusive. Achtung, jetzt wird es richtig komisch: Der Absender war eine ratsuchende Frau. Offenbar hatte der ehemalige Ladeninhaber seinerzeit für seine Kunden hier einen Kummerkasten unterhalten und ihnen seine Antworten über einen Milchkasten auf der Rückseite des Hauses zugestellt. So entnahmen es die drei einem Zeitungsartikel, der im Laden wie zufällig herumlag. Unsere untergetauchten Minigangster beginnen nach einigem Hin und Her eine Antwort zu verfassen, legen sie hernach in den Milchkasten. Kurz streiten sie ob dieses Blödsinns, wissen selbst nicht so genau warum und dann – postwendend, quasi unverzüglich, erreicht sie die Antwort auf ihren Brief von eben durch den Rolladenschlitz. Ein magischer Briefwechsel beginnt während sich der Vollmond am Himmel kein Stück, keinen Millimeter mehr bewegt, seit sie die Hintertür des Ladens geschlossen haben …

Wo waren sie hier gelandet? An einem Ort an dem die Zeit stillstand? Der eine Verbindung zur Vergangenheit herstellen konnte? Das Schicksal spielt Schicksal, nimmt seinen Lauf und uns Leser, Hörer und die drei Minigangster mit …

Keigo Higashino, geboren am 4. Februar 1958 in Osaka, gehört zu den populärsten Kriminalschriftstellern in seiner Heimat Japan, wo er mehrfach preisausgezeichnet wurde. Fantasievoll steuert er in diesem Fall seine Figuren, die in einer Zeitblase im Inneren eines alten Gemischtwarenladen stecken und am Ende schließt er seinen Kreis mit einem leeren Blatt Papier. Dabei unterstützt ihn Astrid Finke, die den Text aus dem Japanischen ins Deutsche übertragen hat, auf das Vortrefflichste.

Gelebte Träume, ein Messer mit Vergangenheit, Brüche mit dem was man liebt, Veränderungen, Herausforderungen, das pralle Leben halt.

Die Briefwechsel zwischen Herrn Namyia und den Hilfesuchenden werfen ihre jeweiligen Adressaten auf sich selbst zurück. Teils unverblümt, teils japanisch höflich im Ton. Man stellt sich unweigerlich selbst die Frage, was hätte ich getan in einer solchen Situation? Wie hätte ich gehandelt? Welchen Rat hätte ich gegeben?

Zufälle helfen Prophezeiungen zu deuten. Respekt und Wertschätzung aus Herrn Namyias Ratschlägen werden zu Ansporn und stützen seine Adressaten bei ihren Entscheidungen. Ist es nicht genau das, was wir uns alle wünschen, wenn wir in ein Dilemma geraten? Ein offenes Ohr und eine helfende Hand?

Jedes Leben hängt an einem seidenen Faden und in seinem Roman verknüpft Higashino einige von ihnen zu einem zarten Gespinnst. Welches mit welchem und wie zusammenhängt erfahren wir Stück für Stück. Ganz behutsam weiht er uns in die Details ein.

Seinen Frieden finden, mit sich ins Reine kommen, auch darum geht es hier. Nicht selten hatte ich ein Lächeln im Gesicht bei dieser Geschichte, ein klein wenig entrückt ist sie und ich wünsche mir, dass jeder von uns seinen Herrn Namyia finden mag. Wenn er ihn braucht.

Wer geben kann, und das ist nicht materiell gemeint, der wird auch nicht mit leeren Händen gehen. Das lernen wir hier mit unseren drei Gelegenheits-Gangstern.

Diese Geschichte ist zur rechten Zeit zu mir gekommen. Sie vermag zu wärmen, Herz und Seele. Sie zeichnet einen verschachtelt erzählten Schicksalsbilderbogen, der einen immer wieder um eine neue Biegung führt. Der erst Punkte und Kapitelbrüche setzt, um diese dann auf wundersame Weise doch zu verbinden. Sie öffnet einen Horizont, dort wo er verhangen scheint. Macht Mut, weiterzumachen auch wenn es schwer fällt. Sie transportiert japanisches Lebensgefühl sehr anschaulich und zeigt auf, das jeder einzelne anderen zu helfen vermag, auch wenn er denkt, das war doch gar nichts. Wie wichtig auch der kleinste Denkimpuls sein kann, wie wegweisend und lebensverändernd. Das alles auf eine bezaubernd charmante Art. Zum Tief-Durchatmen schön!

Aus der Zeit gefallen. Magisch. Warmherzig. Ganz und gar nicht “kriminell”, obwohl es an Ganoven nicht fehlt, das ist dieser Roman von Higashino für mich.

Wer sich jetzt verwundert die Augen reibt und denkt, der Titel kommt mir bekannt vor, aber sieht das Buch nicht ganz anders aus, hat recht. Tatsächlich haben das Buch- und das Hörbuchcover so gar nichts miteinander gemein und ob es klug ist, in diesem Fall nicht auf den Wiedererkennungseffekt zu setzen vermag ich nicht zu beurteilen. Hier einmal beides zum Vergleich, entscheidet selbst was ihr lieber mögt. In Verbindung mit dem Inhalt hat für mich die Gestaltung des Hörbuchs besser gepaßt, es transportiert die Magie der Geschichte mehr, denn auch der Vollmond gehört hier zu den Protagonisten und das pastellige Kirschblütten Cover wirkt für mich nicht mit dieser Geschichte, die Japans Traditionen und Lebensart ganz sanft

unterstreicht, wie auch dieser Text insgesamt einer ist, der sich aus eher leisen Töne zusammensetzt. Aus Respekt und Achtsamkeit, aus gegenseitiger Rücksichtnahme. Was humorvoll beginnt, erhält nach und nach immer mehr melancholiche Zwischentöne. Ich fahre durch einen frühen Morgennebel zum Dienst, bestaune die zarten Schleier, wie sie die Hügel meiner Heimat einhüllen und genieße es dabei diese Geschichte, und seine Stimme im Ohr zu haben …

David Nathan, geboren am 16. März 1971 in Berlin, Synchron- und Hörbuchsprecher, Rezitator liest und ich sehe Christian Bale. Da kann ich nichts machen. Gar nichts. Warum das auch im Zusammenspiel mit einem japanischen Roman keinesfalls stört? Weil dieser Mann einfach alles lesen kann. Er ist zu einhundert Prozent glaubwürdig, in jeder Rolle drin und ich mag besonders diese nachdenklichen Note, die in seinem Vortrag immer mitschwingt und die ausgesprochen gut zu Higashinos Geschichte passt. Ab und zu darf er ein Augenzwinkern platzieren, aber zumeist hat dieser Text eine etwas geheimnisvoll angehauchte Grundmelancholie, die für mich niemand hätte stimmlich besser tragen können. Außer: Matthias Brandt vielleicht …

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