Die Nacht vom 1. auf den 2. September 1859 ging in die Geschichte ein. Als die Nacht des Carrington-Ereignisses. Die Rede ist, wenn man davon spricht, von dem mächtigsten geomagnetischen Sturm der unsere Erde bislang getroffen hat. Er erzeugte Polarlichter, die man selbst in Havanna, Hawaii und Rom sehen konnte. Wäre die Welt damals schon eine so stromlastig und vernetzte gewesen wie sie es heute ist, wären die Folgen dieses Supersturms verheerend gewesen. Faszinierend finde ich, das Forscher dieses Ereignis aus den Jahresringen alter Bäume herausgelesen haben und erschreckend, das es zuletzt in 1989 einen goethermischen Sturm gab, der mehrere Transformatoren in Quebec aufgrund von Überhitzung zur Strecke und Telefonleitungen das Funkenschlagen beigebracht hat.
Das komplette Flugleitsystem brach zusammen und ein mehr als 9 stündiger Stromausfall legte die Region um Montreal lahm. Es waren mehr als sechs Millionen Menschen betroffen.
Für den 13.07.2021 sagten die Forscher der NASA einen weiteren Sonnensturm voraus. Die wohl schönste Anomalie, Polarlichter die in ganz Europa sichtbar sein würden blieben zwar aus, dafür gab es zum Glück aber auch keinen weltweiten Blackout. Warum erzähl ich das? Weil der Autor, den ich heute im Gepäck habe, sich seine ganz eigene Nebenwirkung einer geothermischen Superzelle ausgedacht hat und sowas sag ich Euch hab ich weder lesend noch hörend bislang in den Fingern gehabt …
“Und ich, der ich Euch sage, dass ihr träumt, bin selbst ein Traum.”
Zhuāngzǐ
Die Anomalie von Hervé Le Tellier
Sein Zuhause: Das Darknet. Die Währung mit der man ihn bezahlt: Bitcoins. Erst war er der Schrecken der Schießbuden, dann Kochlehrling, jetzt ist er von Beruf Killer. Weil ihm die Technik des Tötens liegt, ihn das Handwerkliche fasziniert. So war das immer schon gewesen und er sagt, sein Name sei Blake. Er besteigt ein Flugzeug nach New York, es gibt einen Auftrag zu erledigen.
“Heute morgen sehe ich bei klarem Wetter bis zu mir und ich bin wie alle.”
Textzitat Hervé Le Tellier Die Anomalie
Der Übersetzer und Autor Victor Miesel, der seine Aufgabe so versteht, die reine Sprache aus einem Werk zu befreien, beginnt mit der Arbeit an einem eigenen Roman, nach einer Rückkehr aus New York und nach einem denkwürdig turbulenten Flug.
Letzte Sätze haben etwas Endgültiges. Miesel steigt nach Beenden seines Roman über die Balkonbrüstung und springt. Es ist Donnerstag. Den Text, den er hinterlässt hat er “Die Anomalie” genannt, ein düsterer ist es geworden, einer bei dem ihm jegliche Distanz verloren gegangen zu sein scheint …
Hervé Le Tellier, geboren 21. April 1957 in Paris, französischer Schriftsteller, Meister der Lakonie, wurde ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt 2020 für diesen Roman L’Anomalie und auch Maguerite Duras hängte er damit ab, die bis dahin und seit 1984 den Abverkaufsrekord in Frankreich für einen gehalten hat. Sein Ton ist es, und der von Romy und Jürgen Ritte, seiner Übersetzer aus dem Französischen, der diesen Roman trägt.
Mir gefällt es auch, wie Le Tellier die Kreise schließt, seine Figuren an ihre Schicksale bindet. Episodenhaft, fragmentarisch, als schaue man in ein Kaleidoskop. Der Autor muss sich eigens einen Plan für seinen Plot angefertigt haben, der anmutet wie ein kompliziertes Strickmuster. Zwei links, zwei rechts, zwei fallen lassen, dann die verlorenen Fäden wieder aufgreifen, verketten und weiter geht’s.
Weiter geht’s mit einer Unke Namen Betty, die wahrscheinlich ein Axolotl ist. Einem Piloten, der es mit einem Supersturm aufnimmt während Hagelkörner unablässig auf seine Windschutzscheibe einschlagen. Mit Fluglotsen die vom Glauben abfallen und mit Parametern, die niemals stimmen können. Mit Onkologen, Patienten die an Bauchspeicheldrüsenkrebs leiden und mit Notfallprogrammen. Einem R&B Sänger der zum Star wird mit einem Song, zu dem ihn ein Flug nach New York inspiriert hat. Zwischen Kotztüten und Todesangst erlebte er hier die denkwürdigsten Minuten seines Lebens.
Schillernd und farbenfroh wie eine Zirkustruppe sind die Figuren mit denen Le Tellier seinen Roman besetzt. Das sorgt für reichlich Abwechslung und unerwartetes.
Alle Figuren lernt man ausführlich kennen, dafür nimmt sich Le Tellier die Zeit. Ihre Macken, ihre Schrullen, Ecken und Kanten, ihre Laster, ihre Leidenschaften steigen leuchtend aus den Silben.
Alle seine Protagonisten reisen mit dem gleichen Flugzeug von Paris nach New York im März 2021. Geraten in schwere Turbulenzen, sind am Ende froh in New York dieser durchgerüttelten Blechbüchse von Boing entkommen zu sein. Im Juni des gleichen Jahres befindet sich genau dieser Flug mitsamt den gleichen Passagieren erneut im Anflug auf New York. Für die Passagiere ist gefühlt keine Zeit vergangen. Für die Welt schon. Im Schock des Unfassbaren, landet man den Flug Not auf einer Mitlitärbasis und setzt alle erst einmal fest.
Eine Kommandozentrale entsteht. Pardon, ein Hypothesenraum. Ein General übernimmt, das FBI wird eingeschaltet. 106 Tage liegen zwischen den Landungen beider Flugzeug und 230 Passagiere und 13 Besatzungsmitglieder gibt es jetzt zweimal?!
Eine Frage der nationalen Sicherheit? Ein Riss in der Zeit? Ein Fehler in der Matrix? Ein Wurmloch? What the F***? Ein Tross von Wissenschaftlern bezieht Stellung, vollgestopft mit Tabletten gegen den Schlaf theoretisieren sie was hier geschehen sein könnte. Welche Mächte hier am Werk waren um ein ganzes Flugzeug samt Insassen zu doppeln. Sind wir überhaupt real? Wer oder was sind wir?
Wer ist Kopie und wer Original? Gelehrte aus Physik, Ethik und Religion streiten um das was zu tun ist während man versucht vor der Weltöffentlichkeit zu verbergen was geschehen ist. Der komplette Staats- und Geheimdienstapparat der USA kommt in Gang.
Es kommt aber immer wie es kommen muss. Einer entkommt aus dem Hangar. Sein Name ist Blake und wir kennen ihn schon. Es dauert nicht lange, da belagert ein ganzes Geschwader von Reportern die Airbase und die Presse beginnt eine Debatte über die Natur der Seele.
Man kenne kein Problem, das nach der Anwesenheit einer Lösung Stand hält, betonen die herbeigerufenen Wissenschaftler vollmundig und eine Idee greift Raum. Psychologen beginnen die Gegenüberstellung der jüngeren und älteren ICHs zu planen, Angehörige zu konfrontieren. Wollte man erst noch genau das verhindern will man jetzt wissen was es mit den Betroffenen macht sich leibhaftig selbst zu begegnen. Ab jetzt wird es richtiggehend gruselig, nicht nur für die Passagiere beider Flüge. Der Tod tanzt Walzer mit dem Leben …
Besonders das Unwahrscheinliche, die Unvorhersehbarkeit dieser Geschichte mochte ich. Sie hebt mich förmlich aus dieser Welt, machte es mir möglich meinen Alltag für die Stunden der Hörzeit zu vergessen. Schwups, war ich drin in diesem “Zeit-was-auch-immer-Kontinuum”. Wollte, nicht mehr aufhören zu hören, wollte wissen wie es weitergeht, wie es sich ausgeht, mit all dem. Will wissen, welche Antworten der Autor auf die Fragen seiner Figuren findet und auf meine.
Mit einer bisweilen satirischen Note erzählt er, nicht selten augenzwinkernd, von einer Zuspitzung der allerfeinsten Art. Clever, herrlich verrückt ist dieses Gedankenexperiment, gespickt mit jeder jeder Menge steiler Thesen und philosphischer Denkansätze. Sprache, Erzählton, Rhythmus und das Abenteuer der Grenzenlosigkeit habe ich sehr genossen. Die Leichtigkeit die der Text hat und die Komplexität der Geschichte haben mich gleichermaßen fasziniert. Schräg, obskur, kurios und vollkommen abwegig ist seine Story, misst man sie mit normalen Maßstäben. Löst man sich aber von der Norm, dann ist sie das reinste Vergnügen. Ein komplett angstfreier Mix gängiger Romangenres, wild, komödiantisch, garniert mit Thriller- und SciFi-Elementen mischt sie mein Verständnis von Raum und Zeit auf, spielt geschickt mit dem was ich bislang für gewiss gehalten habe. Ganz stark bis hin zu seinem extraordinär konsequenten Schluss, meinen Ohren habe ich nicht getraut, mehrfach zurück gespult …
Begleitet und stimmlich fest bei der Hand genommen, als Konstante in diesem excellenten Verwirrspiel, hat mich auf dieser Reise, rund zehn Hörstunden lang:
Camill Jamal, geboren am 21. September 1985, deutscher Schauspieler. Serienfans kennen ihn aus der Netflix Produktion Biohackers. Ein mir unbekannter Hörbuchsprecher ist für mich immer etwas Besonderes. Mit gespannter beginne ich zu lauschen, spüre der Stimme nach, passt sie zum Text? Hier tut sie das, ausgesprochen gut sogar. Jamal interpretiert diese skurrile Geschichte mit genau der richtigen Prise Ironie. Mehr hätte sie nicht vertragen und mehr geht auch nicht. Er bleibt angemessen zurückhaltend, der Roman summt ja auch für sich genommen schon wie ein Bienenschwarm auf der Flucht. Bühnenreif gestaltet er die Szenen zwischen Tower und Cockpit und streiten kann er genauso gut wie nachdenklich zu sinnieren. Bravo an das Team Le Tellier – Jamal!
Mein Dank geht an den Argon Verlag für dieses Rezensionsexemplar.
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