Mittwoch, 06.03.2019
An klaren, kalten Tagen wie heute, wenn mein Atem in kleinen Wölkchen vor mir in der Luft stehen bleibt, mich die tiefstehende Sonne, die den Frühling heran trägt, blinzeln läßt, wenn auf dem Weg zum Dienst noch alles um mich herum schläft, schleicht sie sich an, die Sehnsucht nach der Stille.
Die Welt um uns herum ist hektisch, laut, bunt und schrill geworden. In unseren News Feeds warten täglich, zusätzlich zu unseren Alltagsaufgaben, zig Beiträge und Bilder darauf gesichtet werden.
Wohin gehen um alles und sich einmal zur Ruhe kommen zu lassen? In ein Kloster vielleicht? Was aber würde man aufwecken, wenn man das wagt? Welche Geister wohnen in unseren inneren Schatten?
Fragen die sich in diesem Roman ebenfalls ein junger Mann, müde von Kampf und Verlust stellt. Der auch eine Entscheidung fällt und vom entsandten Wetterbeobachter zum Schiffbrüchigen wird. Der sich alsbald schon einem übermächtigen Gegner ausgesetzt sieht, einem der nicht in seinem Inneren Herberge gefunden hat. Da verstummt der Wunsch nach einem abgelegenen Rückzugsort schneller als er aufgekommen ist und macht einem einzigen, alles beherrschenden Gedanken Platz – Flucht …
Im Rausch der Stille (Albert Sanchez Pinol)
“Es gibt Wahrheiten, die unsere Beachtung verdienen, und solche mit denen wir uns besser nicht befassen.” (Textzitat Pinol)
Geformt wie ein L, von einem zum anderen Ende kaum 1,5, Kilometer, am äußersten Zipfel, auf einem Granitsporn ragt trotzig ein Leuchtturm auf. Das also war jetzt sein zu Hause. Durch das Fernglas des Kapitäns sah es wenig verlockend aus. Die Insel lag vor der Eisgrenze der Antarktis und war heute mit bloßem Auge kaum auszumachen, aus grauem Stein, zwischen grauem Wasser und einem bleischweren Himmel.
Auf dem Breitengrad von Patagonien, von kleinen Riffen umgeben, hielt sie große Schiffe auf Abstand, man musste dreihundert Meter vor ihrer Küste ankern und mit dem Beiboot übersetzen. Namens und im Auftrag der Wetterforschung hatte man ihn hierher geschickt, zwölf Monate sollte sein Aufenthalt in der Einsamkeit dauern und das kam ihm nicht ungelegen. Nachdem er die Kämpfe in Nordirland hinter sich gelassen hatte, waren ihm Ruhe und Abstand von den Menschen willkommen, Zeit im Überfluß schien auf ihn und seine mitgebrachten Bücher zu warten.
Vorräte für ein ganzes Jahr wurden ausgeladen, früher würde auch niemand mehr hier vorbeikommen. Die Handelsroute, für die der Leuchtturm einst gebaut worden war, war längst aufgegeben worden erfährt er. Seinen Vorgänger sollte das Schiff welches ihn hergebracht hatte nun mitnehmen, Wachablösung sozusagen. Alle hatten erwartet, das dieser Mann jetzt aus dem kleinen Häuschen gestürmt kommen würde, weil er sie sehnsüchtig erwartet hatte. Aber alles blieb still, von seinem Vorgänger war keine Spur auszumachen, im Gegenteil, seine Wohnstatt lag verwüstet vor ihnen …
Nein, es war kein Albtraum, das Kratzen und Scharren an der Tür war real, so wie der Arm, der sich jetzt durch den Türspalt schob. Ein Arm, an dessen Ende eine krallenbewehrte Hand, die Finger verbunden mit Schwimmhäuten saß. Der nach ihm schlug, ihm eine tiefe Wunde zufügte und es sollte nicht bei diesem einen Arm und nicht bei dieser einen albtraumhaften Nacht bleiben …
Albert Sanchez Pinol, Anthropologe, geboren 1965 in Barcelona, legte mit “Im Rausch der Stille” seinen ersten Roman vor und dieser wurde 2003 mit dem spanischen Literaturpreis “Ojo critico de narrativa” ausgezeichnet. Mich hat er schon nach den ersten Sätzen eingefangen, wie mit einem Lasso und nicht mehr losgelassen. Einen melancholischen Schauerroman hat er erschaffen, der fesselt, fasziniert und der dabei keine Gefangenen macht. Mein Herz klopft noch immer ängstlich und ich liebe ihn trotzdem!
Hätte mich jemand vor der Begegnung mit Pinol gefragt, ob ein Abenteuer-Roman sinnlich sein kann, hätte ich ihn ausgelacht. Jetzt würde ich antworten, wenn er von Sanchez Pinol ist dann schon.
Poetisch und doch kraftvoll beschreibt er dieses Eiland am Rand der Welt, am Rand der Zeit und das was hier geschieht. Nachdenklich und mit einer feinen Sprache stattet er seinen Ich-Erzähler aus. Pinol läßt uns mit ihm schaudern, bangen und hoffen. Starke Metaphern setzt er ein, jede von ihnen sitzt auf den Punkt und an der richtigen Stelle, viele davon treffen mich wie ein Pfeil, mitten ins Herz. Inhaltlich schaudert mich, sprachlich erlebe ich eine Sanftheit, die einen förmlich streichelt. Wie sich das ausgehen kann ist mir noch immer ein Rätsel und ich finde das mehr als bemerkenswert.
“In manchen Situationen verhandeln wir unsere Zukunft mit unserer Vergangenheit.” (Textzitat Pinol)
Von Monstern, blutigen Kämpfen, Werten und Moral. Sie beherrschen die Nacht und der Wechsel der Jahreszeiten sorgt dafür, dass es nur noch wenige Stunden am Tag hell bleibt. Wie entkommt man einer Hölle, die wie eine Uhr ohne Zeiger ist, so Pinol?
Gehen oder bleiben? Einsamkeit, Verbitterung und tonlose Stille. Sich an sich selbst erinnern, das eigene Spiegelbild voll Unglauben betrachtend. Laut sprechen um es nicht zu verlernen, den Geist mit einfachen Arbeiten beschäftigen um nicht den Verstand zu verlieren, den man zu haben glaubte, als man die Entscheidung hierher zu kommen getroffen hatte.
Treibholzskulpturen, die Macht der Gezeiten und eine Sonne, die nie ihren Zenit erreichte. Unwirtlich und schroff. Vollmondnächte, echsenhafte Wesen. Stimmen, Huschen und namenlose Panik. Die Ruhe nach dem Sturm und lockendes Singen. Vom Forscher zum Schiffbrüchigen, schlaflos, hoffnungslos.
Lassen sich die Grenzen von Hass und Gewalt überwinden? Wie weit geht man um das eigene Leben zu schützen? Ein Leuchtturm wird zum lebensrettenden Bollwerk in Nächten in denen man dem Tod den Einlaß verwehren muss. Von Grenzsituationen, Abgründen von Menschlichkeit und Unmenschlichkeit ist man auf dieser Teufelsinsel umgeben. Wird man am Ende all das Blut wieder von Händen und Seele waschen können?
“Alle Augen schauen, wenige beobachten, nur sehr wenige erkennen”. (Textzitat Pinol)
Die Handlung steigert sich in einen Rausch der Besessenheit, irreal und gefährlich ist nicht nur diese Insel. Ein ungeheuerlicher Plan reift, wird umgesetzt und droht sich gegen seine Planer zu wenden. Tod und Verderben, Bilder entstehen in meinem Kopf als hätte Salvador Dali sie gemalt. Ich wende mich ab und muss doch gleich wieder hinsehen. Pinols Worte locken mich, ich muss erfahren wie es weiter geht.
“Wir ähneln denen die wir hassen mehr als wir denken und deshalb glauben wir, dass wir denen die wir lieben nie ganz nah sind. (Textzitat Pinol)
Den Namen unseres Helden sollen wir bis zum Ende nicht erfahren, nur das er Ire ist, katholisch, Republikaner, Freiheitskämpfer und angefüllt mit glühendem Hass auf die englischen Besatzer. Mit dem Gefühl kein Vaterland mehr zu haben hatte er Irland verlassen um jetzt hier zu erleben, wie aus seinem Forschungsauftrag ein Kampf auf Leben und Tod, ein Balanceakt auf Messers Schneide wird.
Die Intensität mit der hier erzählt wird, hat mich wirklich kalt erwischt und völlig überrascht. Wie konnte dieser Roman in seinem Erscheinungsjahr nur so dermaßen an mir vorbeigehen?
Auf das Hörbuch, das es mittlerweile nur noch antiquarisch gibt, bin ich ebenfalls durch Zufall gestolpert und das weil als Sprecher eigentlich Ben Becker ausgelobt worden war. Nach der Auslieferung meiner Internet-Bestellung musste ich dann feststellen, dass hier wohl jemand gemogelt hatte und maßlos enttäuscht von meinem ersten Gebraucht-Kauf-Abenteuer wollte ich es schon ungehört im Schrank verstauben lassen. Was wäre mir da entgangen!
Ein unglaublicher Roman, ein wahres Feuerwerk aus Fantasie und Sprache!
Wunderbar ins Deutsche übertragen. Was sich hier in der antarktischen Einöde abspielt ist der Zeit entrückt aber auch auf andere Lebensbereiche übertragbar. Diese Kämpfe, innere wie äußere, die das Menschlein, das sich mit ihnen konfrontiert sieht an seine Grenzen und weit darüber hinaus führen, sind in vielen Situationen denkbar.
Bernd Michael Lade, wir kennen ihn als erfahrenen, langjährigen Tatort-Kommissar beim MDR, liest mit einer Stimmlage und Betonung, die den Grusel der Geschichte ebenso verstärkt wie ihre melancholische Note.
Ob Angst, Verzweiflung oder Resignation, er trifft stets den richtigen Ton und vermittelt mit seinem Vortrag den Eindruck als sei er der Ich-Erzähler, so authentisch versteht er zu lesen. So wir er zu einem wahrhaftigen Verstärker für die Geschichte, in der trotz aller geschilderten Grausamkeiten, auch die Werte Liebe und Barmherzigkeit noch ihren Platz finden …
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